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27 RechtspflegeNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Bestellung von Rechtsanwälten zu mittlerweiligen Stellvertretern eines Rechtsanwaltes für die Dauer des gegen diesen eingeleiteten Disziplinarverfahrens sowie durch die als Bescheid zu wertende Feststellung der Aufrechterhaltung der Bestellung auch nach Abschluß des Disziplinarverfahrens und Streichung des vertretenen Anwaltes von der Anwaltsliste; keine Zwangsarbeit im Sinne der Menschenrechtskonvention, keine Verletzung des Gleichheitssatzes und des Eigentumsrechtes; ausreichende Bestimmtheit der maßgebenden Rechtslage im Sinne des LegalitätsprinzipsRechtssatz
Bescheidcharakter der Bestellung eines Rechtsanwaltes zum mittlerweiligen Stellvertreter sowie der Feststellung der Aufrechterhaltung der mittlerweiligen Stellvertretung nach Abschluß des Disziplinarverfahrens und bereits erfolgter Streichung des vertretenen Anwalts von der Liste der Rechtsanwälte.
Ein Beschluß des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer, mit dem einem Rechtsanwalt ein mittlerweiliger Stellvertreter bestellt wird, ist als Bescheid zu qualifizieren (s insbesondere VfSlg 10163/1984; vgl überdies VfSlg 11831/1988, 15149/1998).
Dieser Akt greift nicht nur in die Rechtssphäre des vertretenen Rechtsanwaltes ein (wie dies in der zitierten Vorjudikatur schon bejaht worden ist), er begründet mit der Berufung in die Funktion eines mittlerweiligen Stellvertreters auch für diesen zahlreiche Pflichten (s §§59 ff RL-BA 1977), deren Verletzung zumindest standesrechtlich geahndet werden kann.
Auch das zu B2175/00 bekämpfte Schreiben des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Wien, mit dem die Beschwerdeführer in Kenntnis gesetzt werden, daß ihre Bestellung zu mittlerweiligen Stellvertretern aufrecht bleibe, ist als Bescheid iSd Art144 Abs1 B-VG zu werten: Auf Grund des Umstands, daß Dr V einen Verzicht abgegeben hat, haben sich nämlich dadurch die Pflichten der Beschwerdeführer als mittlerweilige Stellvertreter geändert (vgl §61 gegenüber §60 RL-BA 1977); insofern kommt auch diesem Schreiben rechtsgestaltende Wirkung zu.
Keine Verletzung des Verbotes der Zwangsarbeit in Art4 Abs2 EMRK durch die Regelung über die mittlerweilige Stellvertretung eines Rechtsanwaltes.
Im Hinblick darauf, daß dem Berufsstand der Rechtsanwälte die berufliche Tätigkeit der Parteienvertretung vor Gericht im wesentlichen vorbehalten ist und der Berufsstand seine inneren Angelegenheiten im Rahmen der Selbstverwaltung mit eigenen Kräften und Mitteln bloß unter staatlicher Aufsicht besorgt, kann nach Meinung des Verfassungsgerichtshofes nicht zweifelhaft sein, daß in Fällen, in denen einem Rechtsanwalt die weitere Führung seiner Kanzlei aus welchen Gründen immer nicht mehr möglich ist, nur ein Rechtsanwalt die dadurch entstehende Lücke zur Wahrung der Interessen der Klienten, aber auch der Interessen an einer geordneten Rechtspflege, schließen kann. Freilich rechtfertigt es die in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht gegebene Sachnähe nicht, dem zum mittlerweiligen Stellvertreter bestellten Rechtsanwalt Pflichten jedweden Inhalts und jedweder Intensität aufzuerlegen (vgl VfSlg 15773/2000, S 394).
Eine derartige Regelung der Inpflichtnahme von Rechtsanwälten im Rahmen der in der Selbstverwaltung zusammengefaßten Solidargemeinschaft aller Berufsausübenden begegnet an sich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Daraus folgt aber unmittelbar, daß die Regelungen über die mittlerweilige Stellvertretung nicht gegen das Verbot der Zwangsarbeit iSd Art4 Abs2 EMRK verstoßen (siehe die im Erkenntnis zitierte Judikatur und Literatur zum Begriff "normale Bürgerpflichten").
Kein Verstoß der Regelung gegen den Gleichheitssatz und das Eigentumsrecht, ausreichende Bestimmtheit.
Der mittlerweilige Stellvertreter ist nicht verpflichtet, zusätzlich zu seinen eigenen Klienten auch die des verhinderten Rechtsanwaltes zu betreuen, geschweige denn, an diese Klienten unentgeltlich anwaltliche Leistungen zu erbringen.
Kein automatischer Eintritt in die Vollmachtsverhältnisse des verhinderten Rechtsanwaltes, Verpflichtung zur Einziehung offener Honorarforderungen, Aufklärungspflichten gegenüber Klienten.
Hinreichend bestimmte und sachlich gerechtfertigte Regelung der angemessenen Entlohnung des mittlerweiligen Stellvertreters in §37 Z2a RAO iVm §62 RL-BA 1977.
Der Gesetzgeber ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht verpflichtet, für den Fall mangelnder Bonität des vom mittlerweiligen Stellvertreter vertretenen Rechtsanwaltes Vorkehrungen zu treffen und etwa eine Ausfallshaftung der Rechtsanwaltskammer für Honoraransprüche des mittlerweiligen Stellvertreters vorzusehen.
Es mag vorkommen, daß in seltenen Fällen weder vom (vermögenslosen) vertretenen Rechtsanwalt die Bezahlung eines Honorars zu erwarten ist noch offene gegenüber den Klienten bestehende Honorarforderungen einzuziehen sind, aus denen sich der mittlerweilige Stellvertreter befriedigen oder seine Ansprüche zumindest sicherstellen könnte. In einem solchen Fall, der nur bei einer Kanzlei eintreten kann, die entweder bereits stillgelegt ist oder über keine nennenswerte Klientel mehr verfügt, wird aber auch der Arbeitsaufwand des mittlerweiligen Stellvertreters im allgemeinen eher als gering zu erachten sein. Selten vorkommenden, atypischen Härtefällen dieser Art muß der Gesetzgeber nicht gesondert Rechnung tragen (zB VfSlg 13026/1992). Da ein mittlerweiliger Stellvertreter auch unter solchen Umständen zur vorschußweisen Bestreitung von Barauslagen durch keine Rechtsnorm verpflichtet ist, können auch aus dieser Sicht Bedenken ob der Sachlichkeit der Regelungen nicht entstehen.
Bei der Bestellung eines mittlerweiligen Stellvertreters wäre eine Vorgangsweise, die - wie im Falle der Bestellung zum Verfahrenshelfer - die Einhaltung einer bestimmten Reihenfolge in einer gedachten Liste der eingetragenen Rechtsanwälte - dh ohne Bedachtnahme auf die örtlichen und sonstigen Gegebenheiten des Einzelfalles - gebieten würde, von vornherein unsachlich und verfehlt.
Im übrigen ergeben sich die Rechte und Pflichten eines mittlerweiligen Stellvertreters mit hinreichender Deutlichkeit aus den §§60 ff RL-BA 1977. Der belangten Behörde ist darin zuzustimmen, daß diese Vorschriften nicht jede Aufgabe eines mittlerweiligen Stellvertreters ausdrücklich bezeichnen können und müssen; ein derartiges Verlangen würde die Anforderungen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebotes zweifellos überspannen.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Bescheidbegriff, Mitteilung Belehrung, Rechtsanwälte, Berufsrecht, Disziplinarrecht, Determinierungsgebot, ZwangsarbeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2003:B1830.1999Dokumentnummer
JFR_09969773_99B01830_01