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80 Land-und ForstwirtschaftNorm
B-VG Art12 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Tribunal durch die Betrauung eines stimmführenden Mitgliedes des Agrarsenates mit der Erstattung eines Gutachtens in einem - zivilrechtliche Ansprüche betreffenden - Sonderteilungsverfahren bezüglich Ausscheidung eines Gutes aus einer Agrargemeinschaft; Erweckung von Zweifeln an Unbefangenheit und Neutralität der Mitglieder der belangten BehördeRechtssatz
Art12 Abs2 B-VG sieht die Mitwirkung von "Sachverständigen" als stimmberechtigte Mitglieder der Agrarsenate ausdrücklich vor (siehe auch §5 Abs2 AgrBehG). Durch die Bestellung von sachkundigen, als "Sachverständige" bezeichneten Personen als Mitglieder eines Kollegialorgans wird jedoch nicht bewirkt, daß sie dadurch im Kollegialorgan als Sachverständige im Sinne des §52 AVG tätig werden. Die Sachverständigenqualität bildet zwar eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft zum Landesagrarsenat; damit ist aber nicht die Stellung als Amtssachverständiger verbunden, sodaß sich die Annahme einer "Doppelfunktion" verbietet. Die Heranziehung von "Sachverständigen" als stimmberechtigte Mitglieder von Landesagrarsenaten ist daher verfassungsrechtlich nicht nur unbedenklich, sondern geradezu geboten (s VfSlg 8544/1979; vgl VfSlg 8796/1980, 9120/1981).
Das Verfahren über die Einleitung und Durchführung eines Sonderteilungsverfahrens betrifft zivilrechtliche Ansprüche der Teilgenossen.
Die Betrauung eines sachkundigen stimmführenden Mitgliedes des Agrarsenates mit der Aufgabe, im Verfahren ein Gutachten in seiner Eigenschaft als Sachverständiger (iSd AVG) zu erstatten, ist jedenfalls geeignet, einerseits an der Neutralität dieses Mitgliedes als Sachverständiger (vgl VfSlg 10701/1985, 16029/2000), andererseits an seiner Unbefangenheit als Entscheidungsträger - zu dessen Aufgaben es unter anderem gehört, die Schlüssigkeit der eingeholten Sachverständigengutachten zu beurteilen - Zweifel aufkommen zu lassen, aber auch an der Unbefangenheit der übrigen Mitglieder des Landesagrarsenates, die ihre Entscheidung auf Gutachten von Mitgliedern ihres Senates gestützt haben.
Angesichts dieser Umstände konnten - insbesondere auf Grund der Doppelfunktion von Mitgliedern des erkennenden Landesagrarsenats sowohl als Gutachter als auch als Entscheidungsträger in ein und demselben Verfahren - zumindest nach dem äußeren Anschein Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Landesagrarsenats als Tribunal im Sinne des Art6 EMRK entstehen. Bereits der äußere Anschein reicht aus, um eine Verletzung des Art6 EMRK zu bewirken.
Siehe auch E v 24.11.03, B756/01 (Ablöse von Einforstungsrechten) und E v 26.09.05, B1588/04 (Ausscheidung im Wege einer Singularteilung).
ebenso für die Erstattung eines als Stellungnahme bezeichneten Sachverständigengutachtens durch ein Mitglied des Obersten Agrarsenates: E v 11.10.03, B279/03. Siehe hiezu auch E v 30.09.05, B343/05: Aufhebung auch des Ersatzbescheides; kein Wegfall der Befangenheit im fortgesetzten Verfahren; nach wie vor keine rechtskräftige (einwandfreie) Entscheidung als Basis einer Gegenüberstellung zwischen entschiedenem und gegebenem Sachverhalt ohne Mitwirken des befangenen Mitglieds; neuerliches Mitwirken des Gutachters an den Erwägungen über die Irrelevanz seines Gutachtens.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Agrarbehörden, Agrarverfahren, Landesagrarsenat, Kollegialbehörde, Verwaltungsverfahren, Sachverständige, Amtspartei, Ersatzbescheid, BefangenheitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2003:B482.2001Dokumentnummer
JFR_09969688_01B00482_01