RS Vfgh 2003/10/10 G222/02 ua

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Veröffentlicht am 10.10.2003
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Allg
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art26
B-VG Art139 Abs1 / Individualantrag
B-VG Art140 Abs1 / Allg
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
B-VG Art140 Abs5 / Fristsetzung
B-VG Art144 Abs1 / Legitimation
B-VG Art19, Art20
ASVG §31, §32
ASVG §422, §423
ASVG §441e
ASVG §441b, §442a
ASVG §441c, §442b

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der Hauptverbandsreform wegen Widerspruchs der Bestimmungen über die Zusammensetzung des Verwaltungsrates und der Geschäftsführung zu den Grundsätzen der Selbstverwaltung hinsichtlich der Vertretung der Sozialversicherungsträger, der demokratischen Legitimation und der Weisungsungebundenheit; Unsachlichkeit der Unvereinbarkeitsbestimmung für leitende Gewerkschaftsfunktionäre; Zulässigkeit der Gesetzesprüfungsverfahren infolge Eingriffs in die Rechtssphäre des Beschwerdeführers des einen Anlassverfahrens durch einen Bescheid betreffend Enthebung aus dem Verwaltungsrat wegen Unvereinbarkeit; Präjudizialität auch der Organisationsvorschriften des Verwaltungsrates und der Geschäftsführung; Legitimation zur Stellung eines Individualantrags auch hinsichtlich der antragstellenden Gesellschaft für den Vertrieb von Arzneimitteln gegeben infolge Streichung einer Arzneispezialität aus dem Heilmittelverzeichnis durch die Geschäftsführung des Hauptverbandes

Rechtssatz

Zulässigkeit der Beschwerde im Anlassverfahren zu G222/02 (B1492/01):

Einem Versicherungsvertreter ist das vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts verfolgbare subjektive öffentliche Recht eingeräumt, nicht ohne Vorliegen eines der gesetzlichen, in seiner Person gelegenen Gründe gemäß §423 Abs4 ASVG von seinem Amt enthoben zu werden.

Die sich aus §422 und §423 ASVG für die Enthebung von Versicherungsvertretern ergebende Rechtslage ist - wie in §441b Abs1 vorletzter Satz ASVG angeordnet - auf die Mitglieder des Verwaltungsrates "sinngemäß" zu übertragen: Auch einem Mitglied des Verwaltungsrates kommt daher in einem Verfahren gemäß §423 Abs4 ASVG ein Rechtsanspruch darauf zu, nur aus einem der in §423 Abs1 Z1 bis Z3 ASVG genannten Gründe seines Amtes enthoben zu werden. Im Falle einer Enthebung aus dem Grunde der Neuwahl nach §423 Abs5 ASVG ist ihm demgegenüber kein derartiges Mitspracherecht zuerkannt.

Da der Beschwerdeführer des Anlassverfahrens aus dem Grunde des §423 Abs1 Z1 iVm §441e Abs2 ASVG seines Amtes enthoben worden ist, in diesem Verfahren aber subjektive öffentliche Rechte des Enthobenen im dargelegten Sinne bestehen, ist seine Berechtigung zur Erhebung einer Beschwerde gegen den Enthebungsbescheid des Bundesministers gegeben.

Präjudizialität des §441b Abs1, §442a, sowie einer Wortfolge in §441e Abs2 ASVG gegeben.

Die Sachlichkeit einer Unvereinbarkeitsregelung hängt untrennbar mit den Aufgaben des betreffenden Organs zusammen (§442a ASVG); die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Regelung lässt sich auch nicht völlig losgelöst davon beurteilen, ob es sich um ein Organ der Staatsverwaltung oder um ein Organ der Selbstverwaltung handelt, insbesondere aber auch nicht ohne Berücksichtigung der Bedeutung der Entsendung seiner Mitglieder durch die gesetzlichen beruflichen Vertretungen (§441b Abs1 ASVG).

Die vom Verfassungsgerichtshof im Zusammenhang mit der Unvereinbarkeitsbestimmung des §441e Abs2 ASVG anzustellenden Überlegungen bedürfen zwar vorweg der Beantwortung der Frage, um welche Art Organ mit welchen Aufgaben es sich beim Verwaltungsrat handelt (also der Anwendung des §441b Abs1 und des §442a ASVG), nicht aber auch einer Auseinandersetzung mit den in §441b Abs2 ASVG geregelten Details des Entsendungsvorgangs oder mit den Bestimmungen über die Beschlusserfordernisse (Abs3), die Bestellung des Präsidiums (Abs4 und Abs5), die Aufgaben des Präsidenten (Abs6) und die Gestaltung der begleitenden Aufsicht durch die Aufsichtsbehörde (Abs7). Diese Bestimmungen erhielten durch die Aufhebung der zuerst genannten auch keinen gänzlich veränderten Inhalt.

Zulässigkeit des Individualantrags im Anlassverfahren zu G1/03 (V5/02):

Das Heilmittelverzeichnis gestaltet zunächst die Rechtsstellung des Versicherten. Es berührt überdies die Rechtsposition der im Hauptverband zusammengeschlossenen Krankenversicherungsträger, welche die Kosten eines - ärztlich verordneten - Heilmittels, das in das Verzeichnis aufgenommen ist, ohne weiteres zu tragen haben. Das Heilmittelverzeichnis ist daher wegen seiner normativen Wirkungen als Verordnung anzusehen.

Die Entscheidung über die Streichung einer in das Heilmittelverzeichnis aufgenommenen Arzneispezialität aus diesem greift in jene Rechtssphäre des Arzneimittelherstellers unmittelbar ein, die sich aus den Rechtswirkungen des Heilmittelverzeichnisses selbst und aus allfälligen, aus Anlass der Aufnahme in das Heilmittelverzeichnis zwischen dem Hersteller und dem Hauptverband getroffenen weiteren Vereinbarungen ergibt.

Bei Prüfung der Gesetzmäßigkeit eines Beschlusses der Geschäftsführung des Hauptverbandes, mit dem das Heilmittelverzeichnis geändert worden ist, sind nicht nur jene gesetzlichen Bestimmungen präjudiziell, die das von der verordnungserlassenden Behörde zu beobachtende Verfahren regeln, sondern auch die Vorschriften über die Zuständigkeit der verordnungserlassenden Behörde und über ihre für das rechtmäßige Zustandekommen von Rechtsakten vorgeschriebene Zusammensetzung, hier also §441c und §442b ASVG über die Zusammensetzung und die Aufgaben der Geschäftsführung des Hauptverbandes.

Der Hauptverband ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Rechtspersönlichkeit eingerichtet (§32 Abs1 ASVG). Das Gesetz ordnet nicht an, dass die (leitenden) Organe des Hauptverbandes bei ihrer Tätigkeit gegenüber dem zuständigen Bundesminister (als dem in Betracht kommenden obersten Organ des Bundes) weisungsgebunden wären. Der Hauptverband hat die ihm übertragenen Aufgaben somit weisungsungebunden zu besorgen.

Gegen die Ermächtigung des Hauptverbandes, seine Aufgaben nicht in Bindung an Weisungen des zuständigen obersten Organs wahrzunehmen, bestehen dann und insoweit keine Bedenken, als der Hauptverband als Selbstverwaltungskörper organisiert ist.

Der Gesetzgeber hat bei Schaffung eines Selbstverwaltungskörpers dem sich aus Art7 Abs1 B-VG ergebenden Sachlichkeitsgebot Rechnung zu tragen; darüber hinaus ist eine staatliche Aufsicht über die Organe des Selbstverwaltungskörpers hinsichtlich der Rechtmäßigkeit ihres Verwaltungshandelns vorzusehen.

Eine weitere Grenze zulässiger Selbstverwaltung besteht darin, dass der eigene (dh. eigenverantwortlich und ohne Bindung an Weisungen zu besorgende) Wirkungsbereich jedes Selbstverwaltungskörpers auf Angelegenheiten beschränkt bleiben muss, die im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse der zum Selbstverwaltungskörper zusammengeschlossenen Personen gelegen und geeignet sind, von dieser Gemeinschaft besorgt zu werden.

Im Hinblick auf das Fehlen eines Weisungszusammenhanges mit demokratisch legitimierten Staatsorganen muss zumindest jenes Organ des Selbstverwaltungskörpers über eine demokratische Legitimation verfügen, welches das oberste Organ dieses Selbstverwaltungskörpers ist.

Jedenfalls die mit entscheidungswichtigen Aufgaben und Befugnissen betrauten Organe des Selbstverwaltungskörpers sind von diesem "autonom", dh. aus der Mitte seiner Angehörigen, zu bestellen, um demokratisch legitimiert zu sein, woraus sich ua. auch die Notwendigkeit regelmäßiger Neuwahlen in diese Organe ergibt.

Nach dem auch für Selbstverwaltungskörper geltenden Effizienzprinzip haben diese die ihnen zugewiesenen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung grundsätzlich sparsam, wirtschaftlich und zweckmäßig zu besorgen.

Die gebotene Intensität der Mitwirkung jener, deren Angelegenheiten in Selbstverwaltung geführt werden sollen, an der Kreation der Organe des jeweiligen Selbstverwaltungskörpers kann nicht ohne Blick auf die dem Selbstverwaltungskörper übertragenen Aufgaben bestimmt werden und hängt auch von den potentiellen Auswirkungen seiner Tätigkeit auf die Rechtssphäre seiner Mitglieder ab.

Dementsprechend findet sich im positiven Recht auch eine gestufte Skala der Intensität demokratischer Legitimation von den "basis- bzw. direktdemokratisch" organisierten Rechtsanwaltskammern bis zu den "repräsentativ-demokratischen" Elementen der "indirekten Wahl" der Organe der sozialen Selbstverwaltung (vgl §420, §421 ASVG).

Feststellung der Verfassungswidrigkeit des §441b Abs1 und des §442a ASVG idF der 58. ASVG-Novelle, BGBl I 99/2001, betreffend den Verwaltungsrat des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger.

Die Sozialversicherungsträger in ihrer rechtlichen Qualität als juristische Personen des öffentlichen Rechts werden nach dem Willen des Gesetzgebers gemäß §31 Abs1 ASVG "zum Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger ... zusammengefaßt". Auch die Aufgaben des Hauptverbandes, wie sie sich im einzelnen aus §31 ASVG ergeben, einschließlich der Erlassung von Verordnungen, beziehen sich - unter dem Aspekt der verfassungsrechtlichen Vorgaben der Selbstverwaltung: folgerichtig und gebotener Weise - auf die Tätigkeit der Sozialversicherungsträger.

Dem Hauptverband ist somit, wie zum einen gesetzlich ausdrücklich angeordnet ist, zum anderen aber auch aus seinem Wirkungskreis erschlossen werden kann, die Stellung eines Selbstverwaltungskörpers der Sozialversicherungsträger zugedacht.

Die demokratische Legitimation der Organe eines Selbstverwaltungskörpers hat sich auf seine Angehörigen, hier also in erster Linie auf die Sozialversicherungsträger, zu beziehen.

Angesichts des Wirkungskreises des Hauptverbandes ist es jedenfalls verfassungswidrig, die Sozialversicherungsträger von der Mitwirkung an der Kreation des Verwaltungsrates als des obersten Organs des Hauptverbandes auszuschließen.

Die Entsendung von Versicherungsvertretern durch die einzelnen gesetzlichen beruflichen Vertretungen in einen Verwaltungskörper des Hauptverbandes kann unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation der vom Hauptverband Verwalteten nicht einer Entsendung durch die jeweils "entsprechenden" Sozialversicherungsträger gleichgehalten werden.

Aufhebung der Wortfolge "ebenso wie die leitenden Funktionäre kollektivvertragsfähiger Körperschaften und Vereine, auch wenn sie die Kollektivvertragsfähigkeit in fremdem Namen ausüben," in §441e Abs2 ASVG idF der 58. ASVG-Novelle, BGBl I 99/2001.

Die Bestimmung ist insofern überschießend und damit unsachlich, als sie die darin bezeichneten Funktionäre schlechthin von der Mitgliedschaft im Verwaltungsrat ausschließt.

Zwar könnte es geboten sein, dass sich maßgebende Funktionäre einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft, welche die kollektivvertragsangehörigen Dienstnehmer vertritt, der Mitwirkung beim Abschluss eines solchen Kollektivvertrages auf Seiten des Hauptverbandes (dh. auf Dienstgeberseite) enthalten. Das allein kann indessen weder die Weite des von der Unvereinbarkeitsregelung betroffenen Personenkreises noch den gänzlichen Ausschluss dieser Personen von der Mitgliedschaft zum Verwaltungsrat sachlich rechtfertigen.

Aufhebung des §441c und §442b ASVG idF der 58. ASVG-Novelle, BGBl I 99/2001, betreffend die Geschäftsführung des Hauptverbandes.

Soweit in Selbstverwaltungskörpern Organe eingerichtet sind, denen wichtige Aufgaben zukommen, die jedoch den verfassungsrechtlichen Kriterien eines Selbstverwaltungsorgans nicht genügen, müssen solche Organe jedenfalls an die Weisungen von Organen der Selbstverwaltung, die ihrerseits über eine entsprechende demokratische Legitimation verfügen, gebunden sein.

Es steht in Widerspruch zu Art19 iVm Art20 Abs1 B-VG, Aufgaben der Hoheitsverwaltung, wie etwa die Erlassung von Verordnungen, durch einfaches Gesetz einem Organ zu übertragen, das auf Grund seiner organisatorischen Stellung kein entsprechend weisungsgebundenes Organ der Staatsverwaltung, sondern das Organ eines Selbstverwaltungskörpers ist, als solches aber weder als Organ der Selbstverwaltung demokratisch legitimiert noch an Weisungen eines demokratisch legitimierten Organs der Selbstverwaltung gebunden ist.

Da die Geschäftsführung mangels demokratischer Legitimation nicht als Organ der Selbstverwaltung im verfassungsrechtlichen Sinne zu beurteilen ist, aber auch - bei Besorgung der ihr übertragenen Aufgaben der Hoheitsverwaltung - an Weisungen des obersten Organs des Selbstverwaltungskörpers nicht gebunden ist, waren auch die Bestimmungen über die Geschäftsführung des Hauptverbandes als verfassungswidrig zu qualifizieren.

Für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstellen (§441c, §442b sowie die aus dem Spruch ersichtliche Wendung in §441e Abs2 ASVG) war eine Frist bis 31.12.04 zu bestimmen, um die notwendigen legistischen Vorkehrungen für die erforderliche Neuregelung des Organisationsrechtes des Hauptverbandes zu ermöglichen.

(Anlassfall B1492/01, B v 10.10.03, Zurückweisung der Beschwerde; Anlassfall V5/02, E v 10.10.03, teilweise Aufhebung der 19. Änderung des Heilmittelverzeichnisses).

Entscheidungstexte

  • G 222/02 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 10.10.2003 G 222/02 ua

Schlagworte

Arzneimittel, Hoheitsverwaltung, Rechte subjektive öffentliche, Selbstverwaltung, Aufsichtsrecht, Sozialversicherung, Unvereinbarkeit, Verordnungsbegriff, Verordnungserlassung, Verwaltungsorganisation, VfGH / Fristsetzung, VfGH / Individualantrag, VfGH / Legitimation, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, Wahlen, berufliche Vertretungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2003:G222.2002

Dokumentnummer

JFR_09968990_02G00222_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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