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55 WirtschaftslenkungNorm
B-VG Art10 Abs1 Z5Leitsatz
Kompetenzwidrigkeit der Regelungen des Verrechnungsstellengesetzes über die Organisation und die Aufgaben der Verrechnungsstelle zur Aufrechterhaltung der Stromversorgung; keine Angelegenheit der alleinigen Bundesgesetzgebung, sondern der Grundsatzgesetzgebung des Bundes und der Ausführungsgesetzgebung der Länder; keine Einrichtung einer Börse durch Errichtung der VerrechnungsstelleRechtssatz
Aufhebung des §3, §4 und §9 des Bundesgesetzes, mit dem die Ausübungsvoraussetzungen, die Aufgaben und die Befugnisse der Verrechnungsstellen für Transaktionen und Preisbildung für die Ausgleichsenergie geregelt werden (VerrechnungsstellenG), Art9 EnergieliberalisierungsG, BGBl I 121/2000.
Teile der im §9 Abs3 Z1 und Z3 VerrechnungsstellenG genannten Aufgaben, nämlich Angebote für Ausgleichsenergie einzuholen oder Preise für Ausgleichsenergie entsprechend dem im §10 beschriebenen Verfahren zu ermitteln und zu veröffentlichen, mögen börseähnliche Tätigkeiten darstellen. An der kompetenzrechtlichen Beurteilung der Bestimmungen vermag auch eine - isoliert betrachtet - tatsächlich zum Teil börseähnliche Einrichtung und Organisation der Verrechnungsstelle selbst nichts zu ändern. Gegen die Annahme der Einrichtung einer Börse im Sinne des Art10 Abs1 Z5 B-VG spricht nicht zuletzt auch die Verpflichtung zur Teilnahme am Ausgleichsenergiemarkt zumindest auf der Nachfrageseite.
Der Betrieb eines Elektrizitätsnetzes hat auf Grund physikalischer Notwendigkeiten zur Voraussetzung, dass die Summe der Entnahme von elektrischer Energie aus dem Elektrizitätsnetz der Summe der Einspeisung von elektrischer Energie zu entsprechen hat. Zur Aufrechterhaltung der Energieversorgung müssen daher Differenzen zwischen der prognostizierten Stromeinspeisung und Stromentnahme in bzw aus dem Netz und der tatsächlichen Stromeinspeisung bzw Stromentnahme ausgeglichen werden.
Die Regelung betreffend die Bereitstellung der Regelenergie einerseits und die Regelungen betreffend die allgemeine Pflicht zur Organisation und den Einsatz von Ausgleichsenergie andererseits müssen auf den Kompetenztatbestand des "Elektrizitätswesens" des Art12 Abs1 Z5 B-VG gestützt werden und sind deshalb im Bundesgrundsatzgesetz des ElWOG enthalten. Im Gesamtzusammenhang betrachtet stellen sich die Organisation und der Einsatz der Ausgleichsenergie - einschließlich der Einrichtung der Verrechnungsstelle - als eine zur Aufrechterhaltung der Stromversorgung unabdingbare Funktion dar.
An diesem funktionellen Zusammenhang der Organisation der Ausgleichsenergie mit der Aufrechterhaltung der Stromversorgung ändert auch die Tatsache nichts, dass bis zur Stromliberalisierung der Netzausgleich als Bestandteil der Versorgungstätigkeit des Elektrizitätsunternehmens erfolgte, während nach der Stromliberalisierung als intrasystematische Fortentwicklung des Kompetenztatbestandes Elektrizitätswesen gemäß Art12 Abs1 Z5 B-VG ein marktwirtschaftlich orientiertes System zur Organisation der Ausgleichsenergie vorgesehen werden musste, um auch auf dem Gebiet der Ausgleichsenergie das System des freien Wettbewerbes sicherzustellen. Die Organisation von Ausgleichsenergie hat jedenfalls nach dem Willen des Gesetzgebers das Bestehen eines (Ausgleichsenergie-)Marktes zur Voraussetzung, an dem die Verrechnungsstelle mitzuwirken hat; dieser Markt ist insofern nach der geltenden Rechtslage für die Regelung der Ausgleichsenergie unerlässlich. Daher sind Ausgleichsenergie und Ausgleichsenergiemarkt kompetenzrechtlich als Einheit zu betrachten.
Die die Einrichtung der Verrechnungsstelle regelnden Normen können nicht als Regelungen über die Einrichtung einer nicht unmittelbar mit der Elektrizitätsversorgung im Zusammenhang stehenden Handelsplattform angesehen werden.
§22 Abs2 Z12 ElWOG sieht - allenfalls durch die Ausführungsgesetzgebung näher auszugestaltende - hoheitliche Befugnisse gegenüber dem Regelzonenführer vor.
Bei einer Gesamtbetrachtung fallen daher die geprüften Regelungen über die Organisation und die Aufgaben der Verrechnungsstelle, die zur Aufrechterhaltung der Stromversorgung unabdingbar ist, zur Gänze unter den Kompetenztatbestand des Art12 Abs1 Z5 B-VG. Bei dieser kompetenzrechtlichen Zuordnung kann es nicht darauf ankommen, ob Regelungen, wie sie etwa im VerrechnungsstellenG enthalten sind, überhaupt im Rahmen des Kompetenztypus der Grundsatz- und Ausführungsgesetzgebung im Sinne des Art12 B-VG getroffen werden können.
Da der Gerichtshof - ohne detaillierte Gesamtprüfung des VerrechnungsstellenG auf seine Kompetenzgemäßheit - nicht zu der Auffassung gelangen konnte, dass das ganze VerrechnungsstellenG von einem nach der Kompetenzverteilung nicht berufenen Gesetzgebungsorgan erlassen wurde, war nicht nach Art140 Abs3 B-VG vorzugehen.
Anlassfälle: E v 12.06.04, B772/01 ua - Aufhebung der angefochtenen Bescheide.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Energierecht, Elektrizitätswesen, Grundsatz- und Ausführungsgesetzgebung, Kompetenz Bund - Länder Elektrizitätswesen, VfGH / Verwerfungsumfang, BörsewesenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2004:G140.2003Dokumentnummer
JFR_09959690_03G00140_01