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66 SozialversicherungNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Verletzung des Vertrauensschutzes durch Pensionskürzungen für Notare; unverhältnismäßig intensiver Eingriff insbesondere im Hinblick auf kurz vor dem Ruhestand stehende PersonenRechtssatz
Zurückweisung eines Gerichtsantrags auf Aufhebung des §10a, der Wortfolge "die Festsetzung des Beitrages gemäß §10a" in §72 Abs4 Z6, der Wortfolge "des Beitrages gemäß §10a und" in §72 Abs5 erster Satz sowie §107 Abs2 und Abs4 NotarversicherungsG 1972 idF der
9. NotarversicherungsG-Nov, BGBl I 139/2000, mangels Präjudizialität.
Angelegenheiten des dort geregelten Solidaritätsbeitrages als Verwaltungssachen iSd §355 Z3 ASVG; keine Leistungssache iSd §354
ASVG.
Dem antragstellenden Gericht ist darin zuzustimmen, dass bei Beurteilung der Frage, ob die durch die 9. NotarversicherungsG-Nov getroffenen Maßnahmen - in Summe - einen im Sinne der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zum Grundsatz des Vertrauensschutzes erheblichen Eingriff in erworbene Rechte der Kläger darstellen, auch die Bestimmungen des NotarversicherungsG 1972 über den Solidaritätsbeitrag berücksichtigt werden müssen. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass das Gericht bei Fällung seines Urteiles diese Bestimmungen anzuwenden hätte.
Aufhebung des §48 Abs2, des §52a, in §107 Abs1 Z1 der Ausdrücke "48 Abs2, 52a samt Überschrift," und des §107 Abs5 und Abs6 NotarversicherungsG 1972 idF der 9. NotarversicherungsG-Nov, BGBl I 139/2000.
Ein Gesetz verletzt den Gleichheitssatz, wenn es bei Änderung der Rechtslage plötzlich - ohne entsprechende Übergangsbestimmungen - und intensiv in erworbene Rechtspositionen eingreift; diesem - aus dem Gleichheitssatz abgeleiteten - Vertrauensschutz (dazu etwa VfSlg 11288/1987) kommt gerade im Pensionsrecht besondere Bedeutung zu (VfSlg 12568/1990, 14090/1995 uva).
Personen kurz vor Pensionsantritt besonders schwer betroffen; Abwägung zwischen Intensität des Eingriffs und öffentlichen Interessen - etwa die Unvermeidbarkeit des Eingriffes zur Erhaltung der Finanzierbarkeit des Systems - erforderlich.
Längere Amtsausübung in Verbindung mit dem hiezu erforderlichen Pensionsverzicht für fünf Kalenderjahre keine den intensiven Eingriff mildernde Alternative.
Auch wenn eine Berufsgruppe auf Grund der Höhe ihres Einkommens in der Lage ist, sich während der Zeit der aktiven Berufsausübung durch Maßnahmen der Vermögensbildung (die Bundesregierung führt hier insbesondere die Anschaffung von Immobilien ins Treffen) beträchtliche zusätzliche Einkünfte zu verschaffen, die schließlich in vorgerückten Berufsjahren und im Ruhestand sogar zur Haupteinkommensquelle werden, so ändert dies allein nichts am Maßstab für die Intensität eines Eingriffs in ihre Pensionsansprüche. Das Vorhandensein von Zusatzeinkünften, deren Quellen während einer solchen Berufstätigkeit angeschafft wurden, kann daher an der Beurteilung eines Eingriffs in eine Pensionsanwartschaft als plötzlich und intensiv nichts ändern, da der Vertrauensschutzgedanke (als besondere Ausprägung des Gleichheitssatzes) ansonsten für diesen Personenkreis praktisch beseitigt wäre.
Dem Gesetzgeber kommt im Sozialversicherungsrecht bei der Festlegung des Verhältnisses zwischen Beitragspflicht und Leistungsanspruch ein gewisser rechtspolitischer Spielraum zu, der insbesondere nicht durch das Äquivalenzprinzip begrenzt wird.
Im Falle einer späteren Änderung dieser Verhältnisse (insbesondere durch gesetzgeberische Eingriffe zur Verminderung oder zur Erschwerung des Erwerbs von Leistungen bzw. Anwartschaften) ist sein rechtspolitischer Spielraum jedoch insoweit beschränkt, als auf Grund früherer Regelungen Pensionsanwartschaften entstanden oder bereits Leistungen angefallen sind.
Leistungskürzungen fallen umso stärker ins Gewicht, je näher die Betroffenen dem Pensionsalter stehen, sodass den insoweit unterschiedlichen Verhältnissen zumindest vergröbernd durch Regelungen Rechnung getragen werden muss, die auf diese Unterschiede im Tatsächlichen nach Maßgabe des Alters (der Geburtenjahrgänge) Bedacht nehmen, wobei mit zunehmender Intensität des Eingriffs entsprechend längere Übergangszeiträume vorzusehen sind.
Knapp vor dem Pensionsalter stehende Personen dürfen im Vergleich zu den gerade in Ruhestand getretenen Personen durch eine verschlechternde Rechtsänderung gerade dann nicht in unverhältnismäßiger Weise benachteiligt werden, wenn sich der Gesetzgeber zu einem Eingriff in angefallene Leistungen nicht entschließen konnte.
Der Gesetzgeber darf bei der erforderlichen Übergangsregelung innerhalb der Gruppen von Personen gleicher Nähe zum Pensionsalter schließlich auch nach Maßgabe größerer Unterschiede im Ausmaß der erworbenen Anwartschaften differenzieren.
Soweit im Falle der hier in Rede stehenden Altersversorgung der Notare die Sicherung der Finanzierung des Systems auch für künftige Pensionsbezieher in Frage steht, liegt zweifellos ein gewichtiges öffentliches Interesse vor. Dieses öffentliche Interesse vermag daher auch in einem vom Umlageverfahren geprägten System nicht nur (gleichsam systemimmanente) Belastungen auf der Beitragsseite (und damit eine Verteilung der zu erwartenden Lasten nur auf derzeitige und künftige aktive Erwerbstätige) sachlich zu rechtfertigen, sondern auch Maßnahmen auf der Leistungsseite, letztere bei zunehmender Nähe zum Pensionsalter bzw eines bereits eingetretenen Pensionsbezuges freilich nur bei entsprechend geringerer Intensität des Eingriffs.
Es ist jedoch weder den Gesetzesmaterialien zu entnehmen, aus welchen Gründen davon bei der 9. NotarversicherungsG-Nov 1972 abgegangen wurde, noch vermochte die Bundesregierung in ihrer Äußerung darzutun, dass das mit der 9. NotarversicherungsG-Nov 1972 angestrebte Ziel durch eine ausgewogenere Verteilung der Lasten innerhalb der Solidargemeinschaft, etwa durch (mildere) Kürzungen im Leistungsrecht in Verbindung mit anderen - insbesondere auch beitragsseitigen - Maßnahmen, nicht hätte erreicht werden können, ohne das schützenswerte Vertrauen der im Jahre 2001 bereits nahe dem Pensionsalter stehenden Notare des Geburtenjahrganges 1937 derart massiv zu beeinträchtigen, wie dies in den Übergangsbestimmungen geschehen ist. Schließlich erweisen sich Pensionskürzungen im Ausmaß von 20 bis 26 vH der Nettopension bei den nahe dem Pensionsalter stehenden Notaren auch im Vergleich mit den kurz davor in den Ruhestand getretenen Notaren, die keine Kürzungen hinnehmen mussten, als unverhältnismäßig.
Durch die angefochtene Regelung wird die Berufsgruppe der Notare als einzige mit empfindlichen Abschlägen von jener Pension bedacht, die mit Erreichung des 65. Lebensjahres in Anspruch genommen werden kann.
Ausspruch des Wiederinkrafttretens nur einer Bestimmung (hier: §48 Abs2 NotarversicherungsG 1972 idF BGBl 116/1986 als Voraussetzung für die Zuerkennung einer Zusatzpension) und nicht auch sonstiger Bestimmungen nach Aufhebung des §48 Abs2, des §52a, in §107 Abs1 Z1 der Ausdrücke "48 Abs2, 52a samt Überschrift," und des §107 Abs5 und Abs6 NotarversicherungsG 1972 idF der 9. NotarversicherungsG-Nov, BGBl I 139/2000, im Hinblick auf das Fehlen von Vorgängerregelungen hinsichtlich der übrigen aufgehobenen Normen.
Schlagworte
Notare, Sozialversicherung, Pensionsversicherung, Leistungssachen, Verwaltungssachen, Vertrauensschutz, VfGH / Aufhebung WirkungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2004:G60.2003Dokumentnummer
JFR_09959372_03G00060_01