TE Vfgh Erkenntnis 2005/11/29 B1456/04

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Veröffentlicht am 29.11.2005
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Index

95 Technik
95/06 Ziviltechniker

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art90 Abs1
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
ZiviltechnikerkammerG 1993 §56, §67 Abs2, §71 Abs5

Leitsatz

Verletzung im Recht auf eine öffentliche mündliche Verhandlung vor einem Gericht durch Unterlassung der Durchführung einer (volks)öffentlichen Verhandlung bei Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Ziviltechniker

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor einem Gericht im Sinne des Art6 Abs1 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Die Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit EUR 2.340,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist Architekt. Er bewarb sich im Rahmen einer Ausschreibung um den Auftrag der Hochbauabteilung der Burgenländischen Landesregierung, die mit Schreiben vom März 1998 fünf Architekturbüros zur Legung eines Honoraranbotes über die Büroleistungen für die Generalsanierung des Turnsaaltraktes sowie des Umbaues von Nebenräumen beim BG/BRG Neusiedl am See einlud. Die Anbote waren auf Basis der Gebührenordnung für Architekten (GOA), reduziert durch einen Nachlass von 7,5% und einen Sondernachlass in einem vertretbaren wirtschaftlichen Ausmaß, zu erstellen. Neben dem Anbot des Beschwerdeführers langten drei weitere Anbote termingerecht beim Amt der Burgenländischen Landesregierung ein. Der Beschwerdeführer erwies sich dabei als Billigstbieter, wobei das von ihm abgegebene Offert einen Nachlass von 60% gegenüber dem seiner Höhe nach zweitbesten Anbot darstellte.

Wegen des Verdachtes, er habe seine Leistungen zu einem Preis angeboten, der in einem offensichtlichen Missverhältnis zum Wert des Gegenstandes, der voraussichtlichen Leistung und dem angestrebten Ergebnis stehe und sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Mitbewerbern verschafft, wurde gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet.

2. Mit Erkenntnis des Disziplinarsenates II der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien, Niederösterreich und Burgenland vom 4. März 2004 wurde der Beschwerdeführer - nach Durchführung mündlicher, nichtöffentlicher Verhandlungen - für schuldig erkannt, durch dieses Verhalten gegen Punkt 1.4. der Standesregeln der Ziviltechniker verstoßen und ein Disziplinarvergehen gemäß §55 Abs1 ZTKG 1993 begangen zu haben. Als Disziplinarstrafe wurde eine Geldstrafe in der Höhe von EUR 5.000,-- verhängt. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung wegen des Ausspruches über die Schuld und die Strafe sowie wegen der Entscheidung über den Kostenersatz.

3. Die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten bei der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (im Folgenden: Berufungskommission) gab der Berufung - nach Durchführung einer mündlichen, nichtöffentlichen Verhandlung - keine Folge; begründend wurde im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

"Pkt. 1.4 der Standesregeln der Ziviltechniker lautet: 'Der Ziviltechniker darf seine Leistung nur zu einem Honorar, auch zu einem Pauschalhonorar, anbieten bzw. dieses nur in einem Ausmaß vereinbaren, dass es ... nicht in einem offensichtlichen Missverhältnis zum Wert des Gegenstandes, zur voraussichtlichen Leistung oder zum angestrebten Ergebnis steht.

        Zunächst ist fallbezogen festzuhalten, dass der

Disziplinarsenat unberücksichtigt ließ, dass der

Disziplinarbeschuldigte sein dem Erkenntnis angeschlossenes

inkriminiertes Honorarangebot ... auf ein Ausbauverhältnis von

30/100, somit ein gegenüber dem in erster Instanz festgestellten von

90/100 erheblich reduziertes Ausbauverhältnis stützte. Im Hinblick

darauf, dass der Disziplinarsenat darüber hinaus in sich

widersprüchliche Feststellungen traf, in dem er zum einen offen

lässt, 'ob im Ergebnis sein Honorar kostendeckend war oder nicht',

zum anderen aber festhält, dass nicht [als] erwiesen angesehen werden

[könne], ob der Disziplinarbeschuldigte ... kostendeckend arbeiten

konnte, und damit keine konkrete eindeutige Aussage zum

Preis-Leistungsverhältnis trifft, ... ist eine Subsumtion der - von

der Berufung unbekämpften - Sachverhaltsfeststellungen unter Pkt. 1.4 der Standesregeln verfehlt.

...

Die vom Disziplinarsenat zutreffend in seine Erwägungen miteinbezogene Unterlassung der Offenlegung seiner Kalkulation durch den Disziplinarbeschuldigten bei Anbotslegung verstößt hingegen gegen seine Verpflichtung, seinen Auftraggeber über die zur bestmöglichen Erreichung des definierten Auftragszieles notwendigen Schritte zu unterrichten (Pkt. 5.1 der Standesregeln) und diesem damit die Möglichkeit einer geänderten Einladung zur Erstellung von Honorarofferten zu eröffnen. Darüber hinaus hat sich der Disziplinarbeschuldigte durch das ihm vorgeworfene Verhalten, nämlich sein unsubstantiiert reduziertes Anbot - wie seine Beauftragung deutlich macht - auch einen Wettbewerbsvorteil verschafft.

Das dem Disziplinarbeschuldigten zur Last gelegte Verhalten verstößt somit nicht gegen Pkt. 1.4, sondern gegen die Punkte 5.1 und darüber hinaus 6.1 der Standesregeln, wonach gegenüber anderen Ziviltechnikern die Grundsätze der Kollegialität zu beachten sind."

4. Gegen diesen - letztinstanzlichen - Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art144 B-VG, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (Art6 EMRK, Art7 B-VG, Art2 und 5 StGG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides begehrt wird.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie den Beschwerdevorwürfen entgegentritt und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Die im vorliegenden Fall maßgebenden Vorschriften des Ziviltechnikerkammergesetzes 1993 (ZTKG 1993), BGBl. 1994/157 idgF, lauten auszugsweise wie folgt:

"5. Abschnitt

Ahndung von Pflichtverletzungen

Disziplinarvergehen

§55. (1) Ziviltechniker begehen ein Disziplinarvergehen, wenn sie das Ansehen oder die Würde des Standes durch ihr Verhalten beeinträchtigen oder die Berufs- oder Standespflichten verletzen.

...

Disziplinarstrafen

§56. (1) Disziplinarstrafen sind:

1.

der schriftliche Verweis;

2.

Geldstrafen bis zur Höhe von 18.150 €;

3.

Entzug des aktiven und passiven Wahlrechtes für Kammerwahlen bis zur Dauer von fünf Jahren;

4.

der Verlust der Befugnis.

(2) Die Disziplinarstrafe gemäß Abs1 Z3 kann neben den Disziplinarstrafen gemäß Abs1 Z2 ausgesprochen werden.

(3) Bei Bestimmung der Disziplinarstrafe ist im einzelnen Fall auf die Schwere des Disziplinarvergehens und die daraus entstandenen Folgen sowie auf den Grad des Verschuldens und das bisherige Verhalten des Ziviltechnikers Rücksicht zu nehmen. Es ist ferner Bedacht zu nehmen, inwieweit die beabsichtigte Strafhöhe erforderlich ist, um den Ziviltechniker von der Begehung weiterer Disziplinarvergehen abzuhalten. Ferner sind Milderungs- und Erschwernisgründe und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Ziviltechnikers zu berücksichtigen.

Disziplinarausschüsse

§57. (1) Bei jeder Länderkammer ist ein Disziplinarausschuss einzurichten. Dieser erkennt in erster Instanz über Disziplinarvergehen.

(2) Der Disziplinarausschuss besteht aus einem Vorsitzenden und seinem Stellvertreter, die beide rechtskundig sein müssen, und aus je vier Mitgliedern und einem Ersatzmitglied je Sektion. Die Mitglieder (Ersatzmitglieder) werden von den Sektionsangehörigen gewählt.

(3) Der Vorsitzende und sein Stellvertreter werden vom Kammervorstand bestellt.

(4) Der Disziplinarausschuss verhandelt und entscheidet in dreigliedrigen Senaten unter Leitung des Vorsitzenden oder seines Stellvertreters. Vom Vorsitzenden sind für Dauer der Funktionsperiode für jede Sektion zwei Senate einzurichten, denen er zwei Angehörige der Sektion als Beisitzer zuzuteilen hat. Der Vorsitzende hat die Zuständigkeit der Senate festzulegen.

(5) Kann für eine Sektion kein Senat gebildet werden, der den Bestimmungen des Abs4 entspricht, hat der Vorsitzende den Fall einem anderen Senat zuzuweisen.

(6) Die Senate fassen ihre Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit. Der Vorsitzende gibt seine Stimme zuletzt ab.

(7) Die Mitglieder des Disziplinarausschusses sind in Ausübung ihres Amtes an keine Weisungen gebunden.

Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten

§58. (1) Über Berufungen gegen Entscheidungen eines Disziplinarausschusses erkennt in zweiter und letzter Instanz die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten.

(2) Die Berufungskommission besteht aus einem Vorsitzenden und seinem Stellvertreter, die beide Richter des Aktivstandes sein müssen, und aus zwölf Beisitzern. Der Vorsitzende und sein Stellvertreter sind vom Vorstand der Bundeskammer zu bestellen. Die Beisitzer sind vom Kammertag aus den Reihen der aktiv wahlberechtigten Mitglieder der Länderkammern, die ihre Befugnis ausüben, zu wählen. Sie dürfen nicht gleichzeitig Mitglieder eines Disziplinarausschusses sein.

(3) Die Berufungskommission verhandelt und entscheidet in fünfgliedrigen Senaten unter dem Vorsitz des Vorsitzenden oder seines Stellvertreters. Die vier weiteren Mitglieder jedes Senates sind vom Vorsitzenden für die Dauer der Funktionsperiode in fortlaufender alphabetischer Reihenfolge aus der Liste der Beisitzer in der Weise zu bestimmen, dass mindestens zwei Mitglieder des Senates der Befugnisgruppe (Architekten, Ingenieurkonsulenten) des Beschuldigten angehören.

(4) Die fünfgliedrigen Senate fassen ihre Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit. Der Vorsitzende gibt seine Stimme zuletzt ab.

(5) Die Mitglieder der Berufungskommission sind in Ausübung ihres Amtes an keine Weisungen gebunden. Die Erkenntnisse der Berufungskommission unterliegen nicht der Aufhebung oder Abänderung im Verwaltungswege.

...

Verweisung und Einstellung

§66. (1) Die Akten über die abgeschlossene Untersuchung sind dem Disziplinaranwalt zu übermitteln und von ihm mit dem Antrag auf Verweisung zur mündlichen Verhandlung oder mit dem Antrag auf Einstellung des Verfahrens dem Senat vorzulegen.

(2) Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung zu beschließen, ob die Sache zur mündlichen Verhandlung zu verweisen oder ob das Verfahren einzustellen ist.

(3) Im Verweisungsbeschluss müssen die Anschuldigungspunkte bestimmt angeführt und die Verfügungen bezeichnet werden, die zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung zu treffen sind. Gegen den Verweisungsbeschluss ist kein Rechtsmittel zulässig. Gegen die Einstellung steht dem Disziplinaranwalt das Recht der Berufung an die Berufungskommission zu.

...

Mündliche Verhandlung

§67. (1) Ort und Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind vom Vorsitzenden des Senates zu bestimmen. Zur mündlichen Verhandlung sind der Beschuldigte und sein Verteidiger unter Hinweis auf den Verweisungsbeschluss und Bekanntgabe der Mitglieder des zuständigen Senates mindestens zwei Wochen vorher zu laden.

(2) Die Verhandlung ist nicht öffentlich, doch kann der Beschuldigte verlangen, dass der Zutritt zur Verhandlung drei Kammermitgliedern seines Vertrauens gestattet wird.

(3) Die Verhandlung beginnt mit der Verlesung des Verweisungsbeschlusses.

(4) Hierauf hat die Vernehmung des Beschuldigten und der vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen und, soweit erforderlich, die Verlesung der während der Untersuchung aufgenommenen Protokolle und der sonstigen wesentlichen Urkunden zu erfolgen.

(5) Der Beschuldigte und der Disziplinaranwalt haben das Recht, sich zu den einzelnen vorgebrachten Beweismitteln zu äußern und Fragen an die Zeugen und Sachverständigen zu stellen.

(6) Nach Schluss des Beweisverfahrens sind der Disziplinaranwalt, der Beschuldigte und dessen Verteidiger zu hören. Dem Beschuldigten steht das letzte Wort zu.

(7) Beratungen und Abstimmungen während und am Schluss der Verhandlung sind geheim.

Erkenntnis

§68. (1) Der Senat hat bei seiner Entscheidung nur auf das Vorbringen in der mündlichen Verhandlung Rücksicht zu nehmen. Die Entscheidung hat sich auf die freie, aus der gewissenhaften Prüfung aller vorgebrachten Beweise gewonnene Überzeugung der Senatsmitglieder zu gründen.

(2) Durch das Erkenntnis muss der Beschuldigte entweder von dem ihm zur Last gelegten Disziplinarvergehen freigesprochen oder eines solchen Vergehens für schuldig erklärt werden.

(3) Im Falle des Schuldspruches hat das Erkenntnis den Ausspruch über die Strafe und die Höhe der Verfahrenskosten zu enthalten.

Protokoll

§69. (1) Über die mündliche Verhandlung ist von dem durch den Vorsitzenden aus dem Kreis der Senatsmitglieder (Beisitzer) zu bestimmenden Protokollführer ein Protokoll aufzunehmen, das alle wesentlichen Punkte zu enthalten hat.

...

Verkündung und Zustellung des Erkenntnisses

§70. (1) Das Erkenntnis mit den wesentlichen Entscheidungsgründen ist vom Vorsitzenden des Senates sogleich zu verkünden.

(2) Vom Vorsitzenden des Senates unterfertigte schriftliche Ausfertigungen des Erkenntnisses sind binnen drei Wochen dem Beschuldigten und dem Disziplinaranwalt zuzustellen.

(3) Die schriftliche Ausfertigung hat eine Belehrung darüber zu enthalten, dass eine Berufung zulässig ist, innerhalb welcher Frist und bei welcher Stelle die Berufung einzubringen ist, und dass dieser Berufung aufschiebende Wirkung zukommt.

...

Berufung

§71. (1) Gegen Erkenntnisse des Disziplinarausschusses können der Beschuldigte und der Disziplinaranwalt wegen des Ausspruches über Schuld und Strafe sowie der Entscheidung über den Kostenersatz Berufung erheben.

(2) Die Berufung hat einen begründeten Antrag zu enthalten und ist binnen zwei Wochen beim Vorsitzenden des Disziplinarausschusses schriftlich oder telegraphisch einzubringen. Die rechtzeitig eingebrachte Berufung hat aufschiebende Wirkung.

(3) Der Vorsitzende des Disziplinarausschusses hat die Berufung zurückzuweisen, wenn sie verspätet oder unzulässig ist.

(4) Ist kein Grund zur Zurückweisung gegeben, so hat der Vorsitzende des Disziplinarausschusses die Berufung unter Beischluss der Akten der Berufungskommission vorzulegen, die in der Sache selbst zu entscheiden hat.

(5) Eine mündliche Verhandlung ist nur durchzuführen, wenn sie die Berufungskommission zur Klarstellung des Sachverhaltes für erforderlich hält oder wenn sie in der Berufung beantragt wurde.

(6) Die Berufungskommission ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener des Disziplinarausschusses zu setzen und das angefochtene Erkenntnis nach jeder Richtung abzuändern. Ist nur vom Beschuldigten Berufung erhoben, so kann die Berufungskommission keine strengere Strafe verhängen, als in dem angefochtenen Erkenntnis ausgesprochen worden ist."

2. Der Beschwerdeführer erhebt u.a. den Vorwurf, das durchgeführte Disziplinarverfahren habe den Erfordernissen des Art6 EMRK nicht entsprochen.

2.1. Gemäß Art6 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf,

"daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".

Das Urteil muss öffentlich verkündet werden,

"jedoch kann die Presse und die Öffentlichkeit während der gesamten Verhandlung oder eines Teiles derselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen werden, oder wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozeßparteien es verlangen, oder, und zwar unter besonderen Umständen, wenn die öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde, in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang".

2.2.1. Österreich ratifizierte Art6 EMRK - gemäß dem (damaligen) Art64 EMRK (nunmehr Art57 EMRK idF des 11. ZP-EMRK) - unter dem Vorbehalt,

"... daß ... die Bestimmungen des Artikels 6 der Konvention mit der Maßgabe angewendet werden, daß die in Artikel 90 des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 festgelegten Grundsätze über die Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren in keiner Weise beeinträchtigt werden ...".

Art 90 Abs1 B-VG lautet:

"Die Verhandlungen in Zivil- und Strafrechtssachen vor dem erkennenden Gericht sind mündlich und öffentlich. Ausnahmen bestimmt das Gesetz."

2.2.2. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) qualifizierte in seinem Urteil im Fall Eisenstecken (EGMR 3. Oktober 2000, Z29.477/95, Rz 21 ff. = ÖJZ 2001/7) diesen österreichischen Vorbehalt zu Art6 EMRK ausdrücklich als ungültig. Der Verfassungsgerichtshof ist dem EGMR in seiner nunmehrigen Qualifikation des österreichischen Vorbehalts gefolgt (s. die mit dem hg. Erkenntnis VfSlg. 16.402/2001 beginnende ständige Judikatur). Dies gilt auch für das Verfahren vor der Berufungskommission gemäß §58 ZTKG 1993.

2.3.1. Die Ungültigkeit des österreichischen Vorbehalts zu Art6 Abs1 EMRK hat zur Folge, dass in Verwaltungsverfahren, in denen über "strafrechtliche Anklagen" abgesprochen wird, eine (volks-)öffentliche Verhandlung vor einem Tribunal durchzuführen ist. Einschränkungen der Öffentlichkeit dürfen hier nur vorgesehen werden, soweit Art6 EMRK dies zulässt.

2.3.2. Nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (vgl. zB VfSlg. 11.506/1987, 11.569/1987, 15.543/ 1999) sind bestimmte schwere Disziplinarstrafen, wie hier der Verlust der Ziviltechnikerbefugnis, als Strafen im Sinne des Art6 EMRK zu qualifizieren, wobei es nicht darauf ankommt, welche Sanktionen im konkreten Disziplinarverfahren verhängt wurden, sondern darauf, welche Rechtsfolgen das Gesetz kennt (vgl. EGMR 21.2.1984, Fall Öztürk, EuGRZ 1985, 67). Derartige Strafen müssen somit von einer Behörde verhängt werden, die den Kriterien des Art6 Abs1 EMRK Rechnung trägt.

Der Verfassungsgerichtshof hat wiederholt ausgesprochen (vgl. zB VfSlg. 14.485/1996, 15.081/1998 mwH), dass die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten jenen Anforderungen, die nach Art6 Abs1 EMRK an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht gestellt sind, grundsätzlich entspricht.

2.3.3. Der Verfassungsgerichtshof hat weiters in seinem Erkenntnis vom 30. November 2004, B127/03, die Auffassung vertreten, dass die Berufungskommission nach Maßgabe des Art6 Abs1 EMRK - auch angesichts der dort gebotenen Abwägung - (volks-)öffentlich zu verhandeln hat (vgl. Pkt. II.2.3.3. der genannten Entscheidung).

2.4. Im Beschwerdefall ist im Verfahren vor der belangten Behörde unstrittig bloß eine nichtöffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt worden. Nach dem soeben Ausgeführten hatte der Beschwerdeführer jedoch Anspruch darauf, dass seine Rechtssache einer (volks-)öffentlichen mündlichen Verhandlung unterzogen wird. Wie sich aus dem Verwaltungsakt ergibt, ist vom Beschwerdeführer die Anberaumung einer (volks-)öffentlichen mündlichen Verhandlung jedoch nicht beantragt worden. Damit erhebt sich die Frage, ob das Unterbleiben eines entsprechenden Antrages als Verzicht auf eine öffentliche Verhandlung zu werten ist.

2.4.1. Im Fall Werner (24.11.1997, Z138/1996/757/956, ÖJZ 1998/12) verneinte der EGMR in einer vergleichbaren Konstellation - in jenem Fall: Vorliegen einer ausdrücklichen Anordnung der Nichtöffentlichkeit; in diesem Fall: ständige Praxis und Judikatur - das Vorliegen eines solchen Verzichtes, weil öffentliche Verhandlungen in Fällen wie dem des damaligen Beschwerdefalles nicht durchgeführt zu werden pflegten und diese Vorgehensweise sowohl dem "Geist des Gesetzes" als auch den einschlägigen Lehrmeinungen entsprochen habe, sodass dem Beschwerdeführer jenes Verfahrens nicht zur Last gelegt werden könne, keinen - aussichtslosen - Antrag gestellt zu haben (Rz 48). Im Fall Eisenstecken (aaO, Rz 33) wurde diese Auffassung bekräftigt.

2.4.2. Da in Disziplinarverfahren nach dem ZTKG 1993 - wie die bisherige Praxis zeigt - weder in erster noch in zweiter Instanz öffentliche Verhandlungen stattfinden und die - oben dargestellte - einschlägige Gesetzeslage (wenn auch in Verkennung des Gebotes verfassungskonformer Auslegung - vgl. VfGH 30.11.2004 B127/03) so verstanden werden könnte, dass (volks-) öffentliche Verhandlungen nicht durchzuführen sind, ist dem Beschwerdeführer kein Vorwurf daraus zu machen, dass er anlässlich der Erhebung der Berufung keinen entsprechenden Antrag gestellt hat.

2.5. Die belangte Behörde verletzte somit dadurch, dass sie keine (volks-)öffentliche Verhandlung durchgeführt hat, den Beschwerdeführer in seinem aus Art6 Abs1 EMRK erfließenden Recht auf eine öffentliche Verhandlung.

Der Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich, auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen.

3. Der Kostenausspruch stützt sich auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von EUR 360,-- sowie Eingabengebühr in der Höhe von EUR 180,-- enthalten.

4. Dies konnte ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden (§19 Abs4 erster Satz VfGG).

Schlagworte

Auslegung verfassungskonforme, Verwaltungsverfahren, Berufung, Ermittlungsverfahren, Ziviltechniker, Disziplinarrecht, Verhandlung mündliche, Öffentlichkeitsprinzip

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2005:B1456.2004

Dokumentnummer

JFT_09948871_04B01456_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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