TE Vfgh Beschluss 2005/12/1 G1/05

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Veröffentlicht am 01.12.2005
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Index

25 Strafprozeß, Strafvollzug
25/02 Strafvollzug

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
StVG §107 Abs1 Z10, Abs3, §118 Abs3
VStG §44a

Leitsatz

Einstellung des von Amts wegen eingeleiteten Verfahrens zur Prüfung von Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes betreffend Ordnungswidrigkeiten von Strafgefangenen mangels Präjudizialität; nur die von der belangten Behörde im Anlassfall konkret herangezogene Strafnorm bei Verhängung der Ordnungsstrafe vom Verfassungsgerichtshof bei Prüfung des angefochtenen Bescheides anzuwenden

Spruch

Das Verfahren wird eingestellt.

Begründung

Begründung:

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1432/03 die Beschwerde gegen den im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Vollzugskammer beim Oberlandesgericht Wien vom 21. August 2003 anhängig, mit dem der - in Strafhaft befindliche - Beschwerdeführer schuldig erkannt worden ist, dadurch eine Ordnungswidrigkeit "nach §107 Abs1 Z10 StVG" begangen zu haben, dass er

"entgegen den Bestimmungen des §26 Abs2 StVG mit dem Mitgefangenen Emil M einen Raufhandel begann, wodurch dieser eine 2 cm lange Rissquetschwunde am Schädel und er selbst eine 0,5 cm lange Rissquetschwunde am linken Oberlid und eine Prellung a[m] rechten Unterarm erlitt",

und so "vorsätzlich die Ordnung und Sicherheit" in der Anstalt gefährdet habe. Über den Beschwerdeführer wurde eine Geldbuße in Höhe von EUR 30,-- verhängt.

Bereits mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 29. April 2003 - vom Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht mit Urteil vom 30. Juli 2003 bestätigt - war der Beschwerdeführer des Vergehens der Körperverletzung gemäß §83 Abs1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt worden, "weil er am 7. Jänner 2003 in Wien Emil M vorsätzlich am Körper verletzte, indem er diesen mit einem Sessel attackierte und ihm hiedurch eine ca. 2 cm lange Rissquetschwunde am Kopf zufügte".

2. Aus Anlass dieses Beschwerdeverfahrens sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des §107 Abs3 sowie des (mit dieser Bestimmung anscheinend untrennbar zusammenhängenden) §118 Abs3 des Strafvollzugsgesetzes (StVG) entstanden, weshalb er am 16. Dezember 2004 beschlossen hat, beide Bestimmungen von Amts wegen einem Gesetzesprüfungsverfahren zu unterziehen.

Die Bundesregierung erstattete eine schriftliche Äußerung, in der sie die Präjudizialität des §118 Abs3 StVG bestreitet und den ob §107 Abs3 StVG geäußerten Bedenken entgegentritt. Die im Anlassverfahren beschwerdeführende Partei sowie die in diesem Verfahren belangte Behörde erstatteten ebenfalls Äußerungen.

3. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist nicht zulässig:

3.1. §107 StVG lautet samt Überschrift wie folgt (der in Prüfung gezogene Teil ist hervorgehoben):

"Ordnungswidrigkeiten

Begriffsbestimmung

§107. (1) Eine Ordnungswidrigkeit begeht der Strafgefangene, der entgegen den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes vorsätzlich

1. die Anstalt verläßt oder sonst flüchtet;

2. mit einer Person außerhalb der Anstalt, einer im Strafvollzuge oder sonst für die Anstalt tätigen Person, einem Bediensteten der öffentlichen Verwaltung, einem Unternehmer, anderen privaten Auftraggeber (§45 Abs2) oder einem seiner Bediensteten, einem Besucher oder mit einem anderen Strafgefangenen verkehrt;

3. sich selbst am Körper verletzt oder an der Gesundheit schädigt oder durch einen anderen verletzen oder schädigen läßt, um sich zur Erfüllung seiner Pflichten untauglich zu machen, oder sich tätowiert oder tätowieren läßt;

4. Äußerungen macht, in denen zu gerichtlich oder disziplinär strafbaren Handlungen aufgefordert wird oder in denen solche Handlungen gutgeheißen werden, oder den Anstand gröblich verletzt;

5. Gegenstände in seiner Gewahrsam hat;

6. eine der im §36 angeführten Meldungen unterläßt oder eine solche Meldung wider besseres Wissen erstattet;

7. trotz Abmahnung eine ihm zugewiesene Arbeit nicht verrichtet;

8. die Strafe nach einer Unterbrechung der Freiheitsstrafe oder nach einem Ausgang nicht unverzüglich wieder antritt;

9. sich einer im Strafvollzuge oder sonst für die Anstalt tätigen Person, einem Bediensteten der öffentlichen Verwaltung, einem Unternehmer, anderen privaten Auftraggeber (§45 Abs2) oder einem seiner Bediensteten oder einem Besucher gegenüber ungebührlich benimmt; oder

10. sonst den allgemeinen Pflichten der Strafgefangenen nach §26 zuwiderhandelt.

(2) Eine Ordnungswidrigkeit begeht auch der Strafgefangene, der vorsätzlich oder grob fahrlässig einen Schaden am Anstaltsgut oder an den übrigen im §35 genannten Gegenständen herbeiführt oder dieses Gut oder diese Gegenstände stark beschmutzt.

(3) Eine Ordnungswidrigkeit begeht ferner unbeschadet des §118 Abs1 der Strafgefangene, der sich einer in die Zuständigkeit der Bezirksgerichte fallenden strafbaren Handlung gegen die körperliche Sicherheit, gegen die Ehre oder gegen das Vermögen einer der im Abs1 Z. 9 genannten Personen oder eines Mitgefangenen oder einer in die Zuständigkeit der Bezirksgerichte fallenden strafbaren Handlung gegen das Anstaltsgut schuldig macht.

(4) Für Ordnungswidrigkeiten gelten im Verfahren erster Instanz die allgemeinen Bestimmungen sowie die §§31, 38, 44a Z1 bis 3 und 5, 52 und 64 des Verwaltungsstrafgesetzes 1991, BGBl. Nr. 52, in der jeweils geltenden Fassung, soweit in diesem Unterabschnitt nicht anderes bestimmt ist. Der Versuch ist strafbar."

Der in §107 Abs1 Z10 StVG verwiesene §26 StVG lautet samt Überschrift:

"Allgemeine Pflichten der Strafgefangenen

§26. (1) Die Strafgefangenen haben den Anordnungen der im Strafvollzug tätigen Personen Folge zu leisten. Sie dürfen die Befolgung von Anordnungen nur ablehnen, wenn die Anordnung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstößt oder die Befolgung dagegen verstoßen oder offensichtlich die Menschenwürde verletzen würde.

(2) Die Strafgefangenen haben alles zu unterlassen, was die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt oder sonst die Verwirklichung der Grundsätze des Strafvollzuges gefährden könnte. Sie haben sich so zu benehmen, wie es der Anstand gebietet.

(3) Die Strafgefangenen dürfen nicht eigenmächtig die ihnen zum Aufenthalt angewiesenen Räume verlassen oder die ihnen bei der Arbeit, bei der Bewegung im Freien, im gemeinsamen Schlafraum oder sonst zugewiesenen Plätze wechseln. Sie haben sich an die Tageseinteilung zu halten.

(4) Die Strafgefangenen haben die auf die Vermittlung einer rechtschaffenen Lebenseinstellung und auf ihre Wiedereingliederung in das Gemeinschaftsleben gerichteten Bemühungen nach Kräften zu unterstützen."

3.2. Der angefochtene Bescheid stützt sich in Spruch und Begründung nur auf §107 Abs1 Z10 StVG (Verstoß gegen die allgemeinen Pflichten der Strafgefangenen). Dies schien dem Verfassungsgerichtshof nach der Begründung des Prüfungsbeschlusses einem Gesetzesprüfungsverfahren ob der Verfassungsmäßigkeit des §107 Abs3 StVG deshalb nicht entgegenzustehen, weil er davon ausging, dass die Verhängung einer Ordnungsstrafe wegen einer in die Zuständigkeit der Bezirksgerichte fallenden strafbaren Handlung richtigerweise auf §107 Abs3 StVG zu stützen gewesen wäre und diese Bestimmung als lex specialis dem allgemeinen Auffangtatbestand des §107 Abs1 Z10 StVG vorgeht. Der Gerichtshof berief sich dabei auf seine Rechtsprechung, wonach ein Gesetz auch dann Voraussetzung der Erledigung einer Beschwerdesache (und damit präjudiziell iS des Art140 Abs1 erster Satz B-VG) ist, wenn die Behörde verpflichtet war, dieses Gesetz bei Erlassung des angefochtenen Bescheides anzuwenden, dies aber rechtswidrigerweise unterlassen hat (vgl. zB VfSlg. 4571/1963, 5598/1967, 8647/1979; zuletzt VfSlg. 16.116/2001 mwN).

Diese Annahmen haben sich indes als unzutreffend erwiesen:

a) Die Rechtmäßigkeit eines Strafbescheides (oder eines strukturell gleichzuhaltenden Bescheides in einem von vergleichbaren Verfahrensgrundsätzen geleiteten Disziplinarverfahren) hängt ua. davon ab, dass dem Bestraften die verletzte Vorschrift - im Bescheidspruch - richtig und vollständig vorgehalten wird (vgl. zB VwSlg. 12.466 A/1987 mwN). Notwendiger Gegenstand des Spruches solcher Bescheide ist nämlich nicht nur die verhängte Sanktion, sondern auch der zur Tat verdichtete Sachverhalt sowie die (in der Regel präzise vorzunehmende) Bezeichnung jener Norm, die - nach Auffassung der Behörde - bei diesem Tatbild die Verhängung der Sanktion gebietet (vgl. §44a Z1 bis 3 und 5 VStG, der gemäß §107 Abs4 StVG insoweit auch im hier in Rede stehenden Ordnungswidrigkeitenverfahren anzuwenden ist).

b) Der Verfassungsgerichtshof hat daher im Fall der Anfechtung eines solchen Bescheides - aus materiell-rechtlicher Sicht - nur zu prüfen, ob der Behörde bei der Heranziehung einer Strafnorm ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen bzw. ob jene Rechtsvorschrift, welche die Behörde tatsächlich herangezogen hat, verfassungskonform ist, ohne dass es darauf ankäme, ob die im Bescheid ausgesprochene Sanktion nicht richtigerweise auf eine andere Bestimmung zu stützen gewesen wäre. Daher hat der Verfassungsgerichtshof in einer solchen Konstellation nur jene Strafbestimmung anzuwenden, welche auch die Behörde für ihre Entscheidung herangezogen hat (bzw. gegebenenfalls die mit dieser untrennbar zusammenhängenden Normen; vgl. zB den Sachverhalt in VfSlg. 12.282/1990 und 13.344/1993).

c) Die Anwendung dieser Überlegungen auf den Anlassfall des vorliegenden Gesetzesprüfungsverfahrens erweist, dass nur die von der Behörde bei Verhängung der Ordnungsstrafe herangezogene Bestimmung des §107 Abs1 Z10 StVG für die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes präjudiziell ist, nicht aber auch §107 Abs3 StVG: Die belangte Behörde hat nämlich die Verhängung der Disziplinarstrafe ausschließlich auf die erstgenannte Norm gestützt.

§107 Abs3 StVG ist daher vom Verfassungsgerichtshof bei Prüfung des angefochtenen Bescheides nicht anzuwenden.

d) Dies gilt auch für §118 Abs3 StVG, der nur wegen des im Einleitungsbeschluss vorläufig angenommenen untrennbaren Zusammenhangs mit §107 Abs3 StVG in Prüfung genommen worden ist.

3.3. Das Gesetzesprüfungsverfahren erweist sich somit mangels Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmungen insgesamt als unzulässig; es war daher einzustellen.

4. Dies konnte in sinngemäßer Anwendung des §19 Abs3 Z3 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Bescheid Spruch, Strafvollzug, Verwaltungsstrafrecht, Straferkenntnis, VfGH / Anlaßverfahren, VfGH / Präjudizialität

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2005:G1.2005

Dokumentnummer

JFT_09948799_05G00001_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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