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L8 Boden- und VerkehrsrechtNorm
B-VG Art140 Abs1 / PräjudizialitätLeitsatz
Verstoß einer Übergangsbestimmung des Tiroler Raumordnungsgesetzes 2001 über ein Bauverbot im Fall des Nichtbestehens eines ergänzenden Bebauungsplanes für ein nach dem Tir RaumOG 1984 als Bauland gewidmetes Grundstück gegen das gebotene faire Gleichgewicht zwischen öffentlichen Interessen an der Eigentumsbeschränkung und dem privaten Interesse am Schutz des Eigentums im Sinne der EMRK; keine Aufhebung des Grundtatbestandes betreffend die Verpflichtung zur Erlassung eines (allgemeinen und) ergänzenden Bebauungsplanes als Voraussetzung für die Erteilung einer Baubewilligung; Möglichkeit der Aufhebung der Baulandwidmung durch den Verfassungsgerichtshof bei Untätigkeit der Gemeinde; Ersatzvornahme durch die Tiroler Landesregierung vorgesehen; Verfassungswidrigkeit des Gesetzes in Folge gesetzwidriger Untätigkeit des säumigen Verordnungsgebers - bei nicht der Übergangsbestimmung unterliegenden Fällen - von Umständen des Einzelfalles abhängigRechtssatz
Zulässigkeit des von Amts wegen eingeleiteten Verfahrens zur Prüfung des §54 Abs3 und Abs5 und des §113 Abs1 zweiter Satz Tir RaumOG 2001 sowie der darauf bezogenen Wortfolgen in §26 Abs3 litc Tir BauO 2001. Im Übrigen Einstellung des Verfahrens.
Der normative Gehalt der Übergangsbestimmung erschließt sich erst in Zusammenschau mit dem Grundtatbestand. Daher kann der Gerichtshof
§113 Tir RaumOG 2001 nicht isoliert sondern nur im Zusammenhang mit
§54 ff Tir RaumOG 2001 anwenden. Denn in Verbindung mit diesen Bestimmungen ordnet §113 Tir RaumOG 2001 für einen begrenzten Zeitraum ein abweichendes Bewilligungssystem an, das erst vor dem Hintergrund von §54 ff Tir RaumOG 2001 zu rechtfertigen ist. Die Bestimmungen des §113 stellen im Zusammenhang mit §54 ff Tir RaumOG 2001 und den in Prüfung gezogenen Bestimmungen der Tir BauO 2001 vor dem Hintergrund der im Prüfungsbeschluss gefassten Bedenken eine untrennbare Einheit dar und sind daher als solche präjudiziell.
Die - als Übergangsbestimmung konzipierte - Regelung des §113 Abs2 Tir RaumOG 2001 würde jedoch im Falle der Aufhebung des Abs1 zur Gänze und der Wortfolge "nach Abs1 erster Satz" in §113 Abs2 insofern eine völlige Änderung des Inhalts erfahren, als ein offenbar auf alle Grundstücke - und nicht bloß auf jene nach dem Tir RaumOG 1984 als Bauland oder Sonderflächen gewidmeten Grundstücke - anwendbarer "allgemeiner" Bewilligungstatbestand verbleiben würde.
Keine Aufhebung des §54 Abs3 und Abs5 Tir RaumOG 2001 sowie der Wortfolge "§54 Abs5" in §26 Abs3 litc Tir BauO 2001.
Es ist nicht unverhältnismäßig, dass der Verordnungsgeber etwa im Falle eines zwar als "Bauland" nach dem Tir RaumOG 2001 gewidmeten - jedoch eigentlich noch die Eigenschaft eines "Aufschließungsgebietes" aufweisenden - unbebauten Grundstücks, das nicht im unmittelbaren Anschluss an zusammenhängend bebautes Gebiet liegt, noch keinen ergänzenden Bebauungsplan erlässt und damit zwingend noch keine Baubewilligung erteilt werden darf. Diese zwingende Rechtsfolge gilt - bei nicht der Übergangsbestimmung unterliegenden Fällen - für Grundstücke, die erst nach 1994 als "Bauland" gewidmet wurden. Die Eigentümer dieser Grundstücke sind im Hinblick auf die 1994 geänderte Rechtslage in ihrem Vertrauen auf vollwertiges "Bauland" weniger schützenswert als Eigentümer, deren Grundstücke bereits nach dem Tir RaumOG 1984 - somit schon seit Jahrzehnten - als Bauland gewidmet waren.
Die Ausnahmebestimmung von der allgemeinen Verpflichtung der Bebauungsplanung (§55 Tir RaumOG 2001) nimmt in einer angemessenen Weise Bedacht auf eine geregelte Siedlungsentwicklung von innen nach außen.
Es muss aber sichergestellt sein, dass eine Baubewilligung für ein Vorhaben auf einem Baulandgrundstück, für das alle gesetzlichen Voraussetzungen einer Bebauung erfüllt sind, jedoch ein allgemeiner und ergänzender Bebauungsplan im Widerspruch zu den Bestimmungen des Tir RaumOG 2001 nicht erlassen wurde, innerhalb eines angemessenen Zeitraums erwirkt werden kann.
Der Verfassungsgerichtshof könnte einer Untätigkeit des Verordnungsgebers hinsichtlich der Erlassung eines allgemeinen oder ergänzenden Bebauungsplans zunächst insofern entgegentreten, als er eine Baulandwidmung eines Grundstücks, für das entgegen der gesetzlichen Bestimmungen ohne erkennbare sachliche Begründung kein allgemeiner oder ergänzender Bebauungsplan erlassen wurde, aufheben könnte.
Die Tiroler Landesregierung ist gemäß §125 Tir GemeindeO 2001 ("Ersatzvornahme") iVm Art119a B-VG und in Zusammenschau mit §71 Tir RaumOG 2001 in Bindung an die Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes nicht nur zur Festlegung einer Widmung, sondern gegebenenfalls auch zur Erlassung des allgemeinen und ergänzenden Bebauungsplans ermächtigt bzw verpflichtet, wenn die Gemeinde dieser Verpflichtung nicht nachkommt.
Knüpft der Gesetzgeber die Wirksamkeit von Vorschriften, die für die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes wesentlich sind, an die Erlassung einer Verordnung, so macht er auch die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes von der (rechtzeitigen) Erlassung dieser Verordnung abhängig. Daher könnte eine gesetzwidrige Untätigkeit des bei der Erlassung des allgemeinen und ergänzenden Bebauungsplans aus welchen Gründen auch immer säumigen Verordnungsgebers nach fruchtlosem Ablauf einer angemessenen Frist die Verfassungswidrigkeit der der Erteilung der Baubewilligung entgegenstehenden Bestimmungen bewirken.
Es hängt demnach von den Umständen des Einzelfalls ab, ob die dargestellten Möglichkeiten die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes im Falle der Säumigkeit des Verordnungsgebers verhindern können.
Aufhebung des §113 Abs1 zweiter Satz Tir RaumOG 2001 sowie der Wortfolge "oder §113 Abs1 zweiter Satz" in §26 Abs3 litc Tir BauO 2001.
Das Verbot der Erteilung der Baubewilligung für Bauland, das seit Jahrzehnten als solches gewidmet war und für das trotz der Einführung der zweistufigen Bebauungsplanung durch das Tir RaumOG 1994 bis 2001 zwar ein allgemeiner Bebauungsplan, jedoch kein ergänzender Bebauungsplan erlassen wurde und für das die Erlassung eines ergänzenden Bebauungsplans innerhalb eines absehbaren Zeitraums auch nicht sichergestellt wäre, ist unverhältnismäßig und verstößt gegen das gebotene faire Gleichgewicht zwischen den öffentlichen Interessen an der Eigentumsbeschränkung und dem privaten Interesse an dem Schutz des Eigentums im Sinne des Art1 1. ZPEMRK.
Anlassfall B393/04 ua, E v 23.06.05, Aufhebung des angefochtenen Bescheides.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Baurecht, Raumordnung, Bebauungsplan, Flächenwidmungsplan, Baubewilligung, Bauverbot, Übergangsbestimmung, Gemeinderecht, Aufsichtsrecht, Ersatzvornahme, Rechtsschutz, Verordnungserlassung, Vertrauensschutz, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Verwerfungsumfang, InvalidationEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2005:G178.2004Dokumentnummer
JFR_09949377_04G00178_01