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41 Innere AngelegenheitenNorm
EMRK Art8 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf Familienleben durch Versagung einer Niederlassungsbewilligung; denkunmögliche Gesetzesanwendung durch Nichtberücksichtigung humanitärer Gründe; Familiennachzug bei einem Vater von drei Kindern gebotenSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.340,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Beschwerdeführer, ein jugoslawischer Staatsangehöriger, hielt sich seit seinem 7. Lebensjahr, von 1974 bis 1997 mit seiner Familie in Österreich auf. Seine drei Kinder wurden in den Jahren 1986, 1988 und 1993 in Wien geboren und leben seither hier. Die Ehefrau des Beschwerdeführers und Mutter der Kinder lebt seit 1997 in der Schweiz. Die Eltern des Beschwerdeführers übernahmen nach Verhängung eines fünfjährigen Aufenthaltsverbots über den Beschwerdeführer im Jahr 1997 die Obsorge für die Kinder.
Nach Ablauf des Aufenthaltsverbots reiste der Beschwerdeführer mit einem befristeten Visum C im Juni 2003 in das Bundesgebiet ein. Er stellte am 25. Juni 2003 einen Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung. Mit Eingabe vom 14. November 2003 beantragte er zusätzlich die Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen und führte begründend aus, dass sowohl seine Kinder als auch seine Eltern langjährig in Österreich leben und integriert seien. Angesichts der schweren Krankheit seines Vaters sei seiner Mutter die Ausübung der Obsorge für die drei Kinder nun nicht mehr zumutbar. Mit Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 12. August 2003 sei dem Beschwerdeführer daher die alleinige Obsorge für seine Kinder übertragen worden.
Der Landeshauptmann von Wien gab dem Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen mit Bescheid vom 27. Jänner 2004 gemäß §§20 Abs1, 19 Abs2 Z6 iVm. §90 Abs1 Fremdengesetz 1997, idF BGBl. I Nr. 126/2002 (im Folgenden: FrG), nicht statt. Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die vorgebrachten Gründe für die Rechtfertigung der Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen nicht berücksichtigt werden können, "[d]a es sich im gegenständlichen Fall nicht um eine Familiengemeinschaft im Sinne des §20 Abs1 FrG [handle]".
Der Bundesminister für Inneres wies die gegen diesen Bescheid eingebrachte Berufung mit Bescheid vom 24. August 2004 ua. unter Berufung auf §§20 Abs1, 19 Abs2 Z6 und 21 Abs3 FrG ab. Dabei wird im Wesentlichen die Ansicht vertreten, dass keine besonders berücksichtigungswürdigen humanitären Gründe iSd. §10 Abs4 FrG gegeben seien. Solche würden angenommen, wenn Fremde in ihrer Heimat der Gefahr ausgesetzt seien, Opfer bewaffneter Konflikte zu sein (zu werden) oder aus in den §57 Abs1 und 2 FrG genannten (gleich gelagerten) Gründen. Außerdem sei die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung an den Beschwerdeführer zur Begründung der Familiengemeinschaft mit seinen (eigenen) Kindern eine "Zweckverfehlung", weil gemäß §§20 Abs1 und 21 Abs1 FrG nur Ehegatten und/oder minderjährige unverheiratete Kinder in den Genuss des Familiennachzugs kommen könnten. Mangels gesicherten Lebensunterhalts und weil der Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit Kindern/Eltern" gesetzlich nicht vorgesehen sei, sei der Antrag des Beschwerdeführers wegen des Überwiegens der öffentlichen Interessen iSd. Art8 Abs2 EMRK abzuweisen.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, mit der die Verletzung der Art7 Abs1 B-VG, Art2 StGG, Art66 Abs1 und 2 Staatsvertrag von Saint Germain sowie des Art8 EMRK, hilfsweise die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm, geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt sowie die Einleitung eines Verfahrens zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der §§19 Abs2 Z6 und 10 Abs4 FrG angeregt werden.
3. Der Bundesminister für Inneres erstattete keine Gegenschrift, legte die Verwaltungsakten vor und beantragte, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht wäre dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
2.1. Art8 EMRK enthält zwar kein Recht von Ausländern auf Entfaltung des Familienlebens in einem bestimmten Staat ihres Aufenthalts (vgl. EGMR, 19.2.1996, Gül gegen die Schweiz, Nr. 53/1995/559/645, RJD 1996-I, Z38). Dennoch kann sich gemäß Art8 EMRK unter besonderen Umständen eine Verpflichtung des Staates ergeben, die Einreise und Niederlassung von Familienangehörigen zu ermöglichen (vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage, 2005, §22, Rz. 28 und 45 mwN), mit der Folge, dass die Verweigerung der Einreise oder Niederlassung einen Eingriff in das Grundrecht bildet. Solche Umstände sind hier gegeben: Die drei (überwiegend minderjährigen, seiner Obsorge anvertrauten) Kinder des Beschwerdeführers verfügen über eine unbefristete Niederlassungsbewilligung, leben seit ihrer Geburt in Österreich und haben hier ihre Pflichtschulausbildung absolviert (bzw. absolvieren diese noch). Auch die belangte Behörde ging im angefochtenen Bescheid offensichtlich davon aus, dass die Rechte nach Art8 EMRK durch ihre Entscheidung berührt sind. Die Nichterteilung einer Erstniederlassungsbewilligung bildet daher einen Eingriff in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art8 Abs1 EMRK.
2.2. Art8 Abs2 EMRK ermächtigt den einfachen Gesetzgeber, die Voraussetzungen für den Familiennachzug unter Beachtung der grundrechtlichen Gewährleistung zu konkretisieren bzw. umgekehrt Gründe für die Verweigerung des Familiennachzugs zu benennen, aus denen es iSd. Art8 Abs2 EMRK notwendig ist, den in der Verweigerung des Familiennachzugs gelegenen Eingriff in das Grundrecht als im öffentlichen Interesse zulässig erscheinen zu lassen.
2.3. Wie dem angefochtenen Bescheid zu entnehmen ist, geht die belangte Behörde davon aus, dass die Fälle eines zulässigen Familiennachzugs in den §§20 Abs1, 19 Abs2 Z6 und 21 Abs3 FrG abschließend geregelt sind. Nach Auffassung der belangten Behörde könnten diesen Bestimmungen zufolge nur Ehegatten und/oder minderjährige unverheiratete Kinder in den Genuss des Familiennachzugs kommen, sodass ein Aufenthaltszweck "Familiengemeinschaft mit Kindern/Eltern" von Vornherein gesetzlich nicht vorgesehen sei. Die Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung gemäß §19 Abs2 Z6 iVm. §10 Abs4 FrG "in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen" scheide nach Meinung der belangten Behörde für Familiennachzugsfälle der vorliegenden Art aus.
2.4. Die Behörde hat damit nicht nur die vom Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis VfSlg. 17.013/2003 angestellten Überlegungen vernachlässigt, sondern auch eine mit dem Grundrecht auf Achtung des Familienlebens konforme Deutung des §10 Abs4 FrG unterlassen. Der Verfassungsgerichtshof hat nämlich bereits in VfSlg. 17.013/2003 ausgesprochen, dass ein nach Art8 EMRK gebotener Familiennachzug einen besonders berücksichtigungswürdigen humanitären Grund (iSd. §10 Abs4 FrG) bilden kann.
Ob im konkreten Fall besonders berücksichtigungswürdige humanitäre Gründe in verfassungskonformer Interpretation des Gesetzes die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gebieten, kann nur aufgrund einer eingehenden Analyse der Umstände des Einzelfalles entschieden werden. Dabei sind entsprechend der Judikatur des EGMR (vgl. die Zusammenfassung bei Grabenwarter, aaO §22, Rz. 45) die Nachteile des Beschwerdeführers dem Gewicht des legitimen Ziels des Eingriffs gegenüberzustellen.
2.5. Die belangte Behörde hat aufgrund ihrer mit Art8 EMRK nicht zu vereinbarenden Deutung des §10 Abs4 FrG dieses Gesetz dadurch denkunmöglich angewendet, dass sie wesentliche Umstände des Einzelfalles sachverhaltsmäßig nicht hinreichend geklärt bzw. die Möglichkeit nicht berücksichtigt hat, dass in besonderen Fällen aus humanitären Gründen auch ein Familiennachzug der vorliegenden Art, also des Vaters zu den Kindern, geboten sein kann.
Durch eine derart denkunmögliche Anwendung des §10 Abs4 FrG hat sie den angefochtenen Bescheid mit Verfassungswidrigkeit belastet, sodass dieser wegen Verstoßes gegen das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte Recht auf Achtung des Familienlebens aufzuheben war.
Der Bescheid war daher aufzuheben.
VI. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG; im zugesprochenen Betrag sind Umsatzsteuer von € 360,-- sowie der Ersatz der gemäß §17a VfGG entrichteten Eingabegebühr in Höhe von € 180,-- enthalten.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Fremdenrecht, Privat- und Familienleben, Auslegung verfassungskonformeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2005:B1159.2004Dokumentnummer
JFT_09948787_04B01159_2_00