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27 RechtspflegeNorm
EMRK Art6 Abs1 / VerfahrensgarantienLeitsatz
Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt wegen Umgehung des gegnerischen Anwalts durch Verhandlungen mit der anderen Partei in Abwesenheit von deren RechtsvertreterSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien (im Folgenden: Disziplinarrat) vom 4. Juni 2004 wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe
"[...] bei einer Besprechung in einem nicht näher festzustellenden Zeitpunkt im September 2002 mit E H in Abwesenheit seines Rechtsvertreters, Mag. M L-T, Rechtsanwalt in Wr. Neustadt, Verhandlungen geführt.
Er hat hiedurch die Disziplinarvergehen der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes und der Berufspflichtenverletzung begangen und wird hiefür zur Disziplinarstrafe einer Geldbuße in der Höhe von EUR 1.500,-- sowie zum Ersatz der anteiligen Kosten des Verfahrens verurteilt."
Hinsichtlich der weiteren gegen ihn erhobenen Vorwürfe wurde der Beschwerdeführer freigesprochen.
2. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im Folgenden: OBDK) vom 4. Juli 2005 keine Folge gegeben. Begründend wird unter anderem ausgeführt, es entspreche der gefestigten Standesauffassung, dass das Verbot der Umgehung des Gegenanwaltes einerseits zum Schutz der rechtsunkundigen Partei, die ohne ihren umgangenen Rechtsvertreter in der Regel nicht in der Lage sei, die Tragweite ihrer Erklärungen und die Folgen ihrer Rechtshandlungen abzusehen, anderseits zum Schutz von Ehre und Ansehen des Standes bestehe, weil es dem Grundsatz der Kollegialität entspreche, den Rechtsanwalt als Vertreter der Gegenpartei anzuerkennen und über ihn - "nicht aber über seinen Kopf hinweg" - mit seinem Klienten zu verkehren.
3. Gegen dieses als Bescheid zu wertende Erkenntnis der OBDK richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in welcher die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, auf Unversehrtheit des Eigentums sowie auf ein faires Verfahren geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.
4. Die OBDK legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.1. §1 Abs1 Disziplinarstatut (im Folgenden: DSt 1990) lautet:
"§1. (1) Ein Rechtsanwalt, der schuldhaft die Pflichten seines Berufes verletzt oder inner- oder außerhalb seines Berufes durch sein Verhalten die Ehre oder das Ansehen des Standes beeinträchtigt, begeht ein Disziplinarvergehen."
§18 der Richtlinien für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes, für die Überwachung der Pflichten des Rechtsanwaltes und für die Ausbildung der Rechtsanwaltsanwärter, lautet:
"§18. Der Rechtsanwalt darf den Rechtsanwalt einer anderen Partei nicht umgehen und es auch nicht ablehnen, mit diesem zu verhandeln; er darf ihn weder unnötig in den Streit ziehen noch persönlich angreifen."
1.2. Der Beschwerdeführer bringt gegen die dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegenden Rechtsvorschriften keine verfassungsrechtlichen Bedenken vor. Auch beim Verfassungsgerichtshof sind solche aus Anlass des vorliegenden Beschwerdefalles nicht entstanden.
2.1.1. Der Beschwerdeführer erachtet sich zunächst im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt. Begründend führt er unter anderem aus, die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt, weil wesentliche Feststellungen unvollständig gewesen seien. Die vom Beschwerdeführer begehrten zusätzlichen Feststellungen hätten eine für ihn im Hinblick auf den Strafausschließungsgrund des §3 DSt 1990 bzw. in Bezug auf die Möglichkeit eines Schuldspruches ohne Strafe (§39 DSt 1990) oder eines Verweises gemäß §16 Abs1 Z1 DSt 1990 günstigere Rechtsfolge haben können. Darüber hinaus hätte die belangte Behörde das Beweisverfahren ergänzen müssen; durch die Nichteinvernahme des beantragten Zeugen sei ihr Willkür vorzuwerfen.
2.1.2. Bei der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlage (s. dazu Punkt II.1.2.) käme eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nur in Frage, wenn der Behörde eine willkürliche Rechtsanwendung anzulasten wäre.
Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
Wenn der Beschwerdeführer behauptet, der belangten Behörde sei im Hinblick auf die Nichteinvernahme des beantragten Zeugen Willkür vorzuwerfen, ist ihm zu erwidern, dass die Aufnahme des angebotenen Beweises mit der Begründung abgelehnt wurde, dass - selbst wenn der Zeuge die Aussagen des Beschwerdeführers bestätigt hätte - es nichts daran geändert hätte, dass eine Umgehung des Gegenanwaltes bereits im Verhandeln mit der von einem Rechtsanwalt vertretenen Gegenpartei ohne dessen Zustimmung vorliege. Der belangten Behörde, die damit in unbedenklicher Weise ihr Ermessen zur Beurteilung der Entscheidungsrelevanz der Beweisaufnahme geübt (und begründet) hat, kann insofern aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegengetreten werden.
Der Ansicht des Beschwerdeführers, wonach §3, §39 bzw. §16 Abs1 Z1 DSt 1990 anzuwenden gewesen wären, ist entgegenzuhalten, dass es der Verfassungsgerichtshof allein aufgrund des - in einem unbedenklichen Ermittlungsverfahren festgestellten - Verhaltens des Beschwerdeführers für vertretbar hält, dass die genannten Bestimmungen nicht zur Anwendung kamen. Ob die Bestimmungen in jeder Hinsicht richtig angewendet wurden, ist eine Frage der Anwendung des einfachen Gesetzes, für deren Beurteilung dem Verfassungsgerichtshof keine Zuständigkeit zukommt.
Insgesamt ist den Verwaltungsakten zu entnehmen, dass die belangte Behörde jedenfalls ein - aus verfassungsrechtlicher Sicht - nicht zu beanstandendes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat.
2.2.1. Der Beschwerdeführer behauptet weiters in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden zu sein. Zum einen habe die belangte Behörde einen vom Beschwerdeführer beantragten Zeugen zu Unrecht nicht einvernommen, zum anderen habe sie §36 DSt 1990 in denkunmöglicher Weise angewendet. Trotz des Widerspruchs des Beschwerdeführers sei in der Disziplinarverhandlung des Disziplinarrates vom 4. Juni 2004 eine Zeugenaussage verlesen worden.
2.2.2. Gemäß Art6 Abs3 litd EMRK hat jeder Angeklagte das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie der Belastungszeugen zu erwirken. Die Bestimmung dient der Sicherstellung der Waffengleichheit im Strafverfahren, sie räumt einem Angeklagten jedoch kein grenzenloses Recht ein, Entlastungszeugen zu benennen und zu befragen (vgl. EGMR 8.6.1976, Fall Engel ua., EuGRZ 1976, 221). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht das Recht, die Ladung von Entlastungszeugen zu verlangen, nicht als absolut an (EGMR 22.4.1992, Fall Vidal gegen Belgien, Appl. Nr. 12351/86). Die Beurteilung, ob ein Zeuge zu laden ist, weil er "wesentlich" ist, obliegt zunächst den nationalen Gerichten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt nur darauf ab, ob das Verfahren insgesamt fair war (vgl. auch EKMR 2.4.1990, ÖJZ 1990, 484; EKMR 30.6.1993, ÖJZ 1994, 137). Der belangten Behörde, die ihr Ermessen zur Beurteilung der Entscheidungsrelevanz der Beweisaufnahme (vgl. auch Punkt II.2.1.2.) geübt hat, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegenzutreten (vgl. EGMR 6.9.1995, Fall Stadler, Appl. Nr. 23194/94; EGMR 27.11.1996, Fall Lods, Appl. Nr. 31199/96).
Im Hinblick auf die Verlesung einer Zeugenaussage im Rahmen der Disziplinarverhandlung ist darauf hinzuweisen, dass es nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes nicht in jedem Fall mit Art6 Abs3 litd EMRK unvereinbar ist, wenn in einer mündlichen Verhandlung aus einem anderen Verfahren gewonnene Aussagen verlesen werden, auf die die Entscheidung in der Folge Bezug nimmt (vgl. zB VfSlg. 15.495/1999, 16.554/2002). Im vorliegenden Fall ist auch zu beachten, dass die Disziplinarbehörden den festgestellten Sachverhalt in keiner Weise auf die in der Disziplinarverhandlung vom 4. Juni 2004 verlesene Zeugenaussage gestützt haben. Der belangten Behörde kann daher auch keine denkunmögliche Außerachtlassung des in §36 DSt 1990 normierten Unmittelbarkeitsgrundsatzes und dadurch eine Verletzung des Art6 EMRK vorgeworfen werden.
2.3.1. Schließlich behauptet der Beschwerdeführer auch unter dem Gesichtspunkt des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Unversehrtheit des Eigentums, dass die Vorschrift des §36 DSt 1990 bei Erlassung des angefochtenen Bescheides in denkunmöglicher Weise angewendet wurde.
2.3.2. Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Rechtsgrundlagen des angefochtenen Bescheides würde dieser das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Unversehrtheit des Eigentums nur verletzen, wenn die Behörde das Gesetz in denkunmöglicher Weise angewendet hätte, ein Fall, der nur dann vorläge, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre (vgl. zB VfSlg. 15.001/1997, 16.113/2001, 16.701/2002).
Wie bereits unter Punkt II.2.2.2. dargelegt, kann der belangten Behörde diesbezüglich keine denkunmögliche Gesetzesanwendung vorgeworfen werden, zumal auf die Aussage weder im erstinstanzlichen noch im angefochtenen Bescheid Bezug genommen wurde.
3. Die behauptete Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hat sohin nicht stattgefunden.
Ob der angefochtene Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen die Entscheidung einer Kollegialbehörde nach Art133 Z4 B-VG richtet, die beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl. zB VfSlg. 10.659/1985, 12.915/1991, 14.408/1996, 16.570/2002 und 16.795/2003).
Das Verfahren hat auch nicht ergeben, dass der Beschwerdeführer in von ihm nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde. Angesichts der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtsgrundlagen ist es auch ausgeschlossen, dass er in seinen Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurde.
Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Rechtsanwälte, Disziplinarrecht, Ermittlungsverfahren, Strafbemessung, fair trialEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2006:B3248.2005Dokumentnummer
JFT_09939772_05B03248_00