RS Vfgh 2008/6/11 B464/07

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Veröffentlicht am 11.06.2008
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Index

L6 Land- und Forstwirtschaft
L6650 Flurverfassung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
StGG Art5
EMRK Art6 Abs1 / civil rights
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
EMRK 1. ZP Art1
Tir FlVLG 1996 §33 Abs2 litc, §69

Leitsatz

Verletzung im Gleichheits- und im Eigentumsrecht durch Verneinung desAnspruchs einer Gemeinde an eine Agrargemeinschaft auf Zahlungen überdie land- und forstwirtschaftliche Nutzung hinausgehender Erträgnisseaus dem Gemeindegut sowie auf Abänderung des Regulierungsplanes;keine Beseitigung der Zuordnung des Substanzwertes an die Gemeindedurch den formalen - ursprünglich verfassungswidrigen - Übergang desEigentums am Gemeindegut an die Agrargemeinschaft; Antragsrecht derGemeinde auf Abänderung (Neuregulierung) des Regulierungsplanesaufgrund geänderter Verhältnisse bereits vor der Novelle 2007 zumTiroler Flurverfassungs-Landesgesetz anzunehmen;verfassungsrechtliches Gebot der Berücksichtigung des bisher nichtberücksichtigten Substanzwertes; denkunmögliche Gesetzesanwendungdurch anhaltende Verweigerung der Berücksichtigung des Substanzwertesbei Bemessung der Anteile

Rechtssatz

Entscheidung über ein "civil right" iSd Art6 EMRK.

Keine Bedenken gegen die Unabhängigkeit der Mitglieder des Landesagrarsenates.

Gegen die Bescheide der Landesagrarsenate kann Beschwerde auch an den Verwaltungsgerichtshof erhoben werden. Damit aber ist gewährleistet, dass jedenfalls in der nachprüfenden Kontrolle des letztinstanzlichen Bescheides mit dem Verwaltungsgerichtshof ein Gericht entscheidet, das bei verfassungskonformer Wahrnehmung seiner Zuständigkeit den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiliches Tribunal nach Art6 EMRK genügt.

Gemeindegut der Gemeinde Mieders bereits 1962/1963 als agrargemeinschaftliche Grundstücke ebenso wie Bezugsmodalitäten für Nutz- und Brennholz, die Weideausübung und andere Nutzungsrechte festgelegt. Offenkundig verfassungswidrige Übertragung des Eigentums am Gemeindegut auf die Agrargemeinschaft.

Der über die Summe der Nutzungsrechte hinausgehende Substanzwert des Gemeindegutes, der je nach Art der Nutzung möglicherweise freilich erst bei Eingriff in die Substanz oder bei Teilungen zutage tritt, steht der Gemeinde zu (vgl VfSlg 9336/1982). Die Befugnis der Agrarbehörden zur Regelung der rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse am Gemeindegut (§36 Abs2 litd Tir FlVLG 1952, nunmehr §33 Abs2 litc Tir FlVLG 1996) hätte sich folglich auf die Regulierung der Ausübung der land- und forstwirtschaftlichen Nutzungsrechte beschränken müssen. Das ist im Hinblick auf die undifferenzierte Einbeziehung des Gemeindegutes in das System des Flurverfassungsrechtes nicht geschehen.

Es wäre unsachlich und einer ersatzlosen Enteignung gleichzuhalten, wenn aus dem formalen Übergang des Eigentums am Gemeindegut an die Agrargemeinschaft der - nach Inhalt des rechtskräftig gewordenen Bescheides nicht zwingende - Schluss gezogen würde, die Zuordnung des Substanzwertes an die Gemeinde sei damit als solche (auch materiell) für alle Zeiten beseitigt worden (vgl VfSlg 9336/1982).

Abänderung von Regulierungsplänen unter dem Gesichtspunkt einer Orientierung an veränderten Nutzungsrechten in §69 Tir FlVLG 1996 vorgesehen.

Antragsrecht der Gemeinde auf Abänderung (Neuregulierung) des Regulierungsplanes bereits vor Inkrafttreten der Novelle LGBl 13/2007 anzunehmen.

Die Notwendigkeit, der Gemeinde die Antragstellung für eine Neuregulierung zu eröffnen (worunter auch eine bloß teilweise Änderung des Regulierungsplans fällt), folgt daraus, dass seit VfSlg 9336/1982 das Gemeindegut nicht mehr wie ein sonstiges agrargemeinschaftliches Grundstück behandelt werden darf. Der auf diese Situation (verständlicherweise) nicht Bedacht nehmende Gesetzeswortlaut steht seither einer verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen; die Novelle 2007 hat diesem verfassungsrechtlichen Gebot nur noch ausdrücklich Rechnung getragen.

Zahlreiche Veränderungen der Substanz und Ausweitung der Nutzungen seit dem Jahre 1984 (dem Jahr der Novellierung des Gesetzes im Gefolge des Erk VfSlg 9336/1982), infolgedessen auch Änderung der für die Anteilsverhältnisse maßgeblichen Umstände. Es wäre daher längst Aufgabe der Agrarbehörde gewesen, die Änderung der Verhältnisse von Amts wegen aufzugreifen.

Der Umstand, dass eine Regulierung der Sechziger Jahre das Eigentum am Gemeindegut der Agrargemeinschaft zugeordnet und der Gemeinde einen Anteil nur nach Maßgabe der Nutzungen zugebilligt hat, dispensiert heute nicht vom verfassungsrechtlichen Gebot, den der Gemeinde zustehenden, wenngleich bisher nicht berücksichtigten Substanzwert im Falle einer Teilung zu berücksichtigen und gegebenenfalls schon vorher die Anteile neu festzustellen.

Verfehlte Prämisse, es handle sich bei den in Rede stehenden Liegenschaften nicht mehr um Gemeindegut.

Die Wirkungen der Regulierung dürfen nicht mehr vor dem Hintergrund einer verfehlten, unsachlichen und das Eigentumsgrundrecht verletzenden Rechtsansicht, sondern müssen anhand der verfassungskonform verstandenen Rechtslage beurteilt werden.

Anders als die allgemein als öffentlich-rechtlich angesehenen, wenngleich auf Grund alter Übung nur bestimmten Gemeindemitgliedern zustehenden Nutzungsrechte ist der Anteil der Gemeinde an dem als agrargemeinschaftliches Grundstück regulierten Gemeindegut als Surrogat ihres ursprünglichen (durch die Regulierung beseitigten) Alleineigentums und somit auch in Gestalt des bloßen Anteils an der Agrargemeinschaft jedenfalls Eigentum iSd Art5 StGG bzw Art1 1. ZP EMRK. Eigentumsverletzung daher durch denkunmögliche Gesetzesanwendung. Als denkunmögliche Gesetzesanwendung ist aber die anhaltende Verweigerung der Berücksichtigung des Substanzwertes bei Bemessung der Anteile zu werten.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Bodenreform, Flurverfassung, Tribunal, civil rights, Auslegungverfassungskonforme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2008:B464.2007

Zuletzt aktualisiert am

18.08.2010
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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