Index
41 Innere AngelegenheitenNorm
B-VG Art18 Abs1Leitsatz
Verfassungswidrigkeit von Bestimmungen im Niederlassungs- undAufenthaltsgesetz betreffend die Erteilung von Aufenthaltstiteln aushumanitären Gründen lediglich von Amts wegen; Aufhebung ausrechtsstaatlichen Erwägungen mangels eines Antragsrechtes des inseinen Rechten betroffenen Fremden; keine Bedenken gegen eineAusnahme vom Grundsatz der Auslandsantragstellung und dieZustimmungsbefugnis des Innenministers zur Erteilung humanitärerAufenthaltstitel; Fristsetzung für das Außer-Kraft-TretenRechtssatz
Unzulässigkeit einer isolierten Anfechtung des §72 Abs1 zweiter Satz
NAG.
Eine Aufhebung des §72 Abs1 zweiter Satz NAG und der damit verbundene Wegfall der beispielhaften Nennung eines Tatbestandes, der jedenfalls zu den "besonders berücksichtigungswürdigen Gründen" zählt, würde die von der Oberösterreichischen Landesregierung behauptete Verfassungswidrigkeit dieser Regelung - wegen mangelnder Bestimmtheit - im Hinblick auf den Tatbestand "in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen" gemäß dem ersten Satz des §72 Abs1 NAG nicht beseitigen.
Aufhebung jeweils der Wortfolge "von Amts wegen" in §72 Abs1, §73 Abs2 und §73 Abs3 NAG.
Ein Feststellungsantrag gem §73 Abs4 NAG (bei Unmöglichkeit einer Familienzusammenführung mangels eines Quotenplatzes) ist auf Grund der Begriffsbestimmung des §2 Abs1 Z9 NAG nur auf einen eng begrenzten Personenkreis (Ehegatte, unverheiratetes minderjähriges Kind ...) anwendbar. Über diesen genannten Personenkreis hinaus ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels "aus humanitären Gründen" jedoch nur von Amts wegen vorgesehen.
Kein Recht von Fremden gem Art8 EMRK auf Entfaltung des Privat- und Familienlebens in einem bestimmten Aufenthaltsstaat ihrer Wahl. Dennoch kann sich - in einem System, das die Erteilung von Aufenthaltstiteln vorsieht - aus Art8 EMRK unter besonderen Umständen eine Verpflichtung des Staates ergeben, den Aufenthalt eines Fremden zu ermöglichen, mit der Folge, dass die Verweigerung der Erteilung eines Aufenthaltstitels einen Eingriff in dieses Grundrecht bildet.
§72 Abs1, §73 Abs2 und Abs3 NAG stellen unter dem Aspekt humanitärer Gründe wesentlich auf Interessen von Fremden - auch solcher, für die besondere Umstände aus Art8 EMRK ein Recht auf Erteilung eines Aufenthaltstitels begründen können - ab, schließen aber generell die Möglichkeit aus, dass der einzelne Rechtsschutzsuchende diese Interessen als seine Rechte unabhängig vom Tätigwerden der Behörden geltend machen kann. Aus rechtsstaatlichen Gründen ist es jedoch unzulässig, in diesen Fällen lediglich ein Tätigwerden der Behörden von Amts wegen vorzusehen und keine Antragstellung des - in seinen Rechten betroffenen - Einzelnen zuzulassen.
Da §11 Abs3 NAG (Ausnahmetatbestand für die Erteilung eines Aufenthaltstitels, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art8 EMRK geboten ist) ausschließlich vom Vorliegen der Voraussetzungen des Abs2 leg cit dispensiert, schafft er darüber hinaus keine Möglichkeit der Antragstellung auf Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels.
Abweisung der Anträge der Oberösterreichischen Landesregierung auf Aufhebung der Wortfolge "von Amts wegen" in §74 NAG sowie des §75
NAG.
Verfassungskonforme Interpretation des §74 NAG (betr Ausnahme vom Grundsatz der Auslandsantragstellung, Zulassung der Antragstellung vom Inland aus durch die Behörde von Amts wegen) geboten (vgl B1263/07 ua, E v 11.12.07); keine Verletzung des Prinzips der Effizienz des Rechtsschutzes.
Der Unterschied zwischen §74 NAG und §72 Abs1, §73 Abs2 und Abs3 leg cit besteht darin, dass die Frage, ob ein Antrag auf Erteilung eines (humanitären) Aufenthaltstitels im Inland gestellt werden darf, jedenfalls im Rechtsweg geklärt werden kann. Für die Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels ist hingegen eine solche Klärung ausgeschlossen, wenn ein Antragsrecht überhaupt fehlt.
Keine Bedenken gegen die Zustimmungsbefugnis des Bundesministers für Inneres zur Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel in §75 NAG im Interesse einer möglichst einheitlichen Gesetzeshandhabung (vgl VfSlg 15687/1999 zu der der nunmehr bereinigten Rechtslage im Wesentlichen entsprechenden Vorgängerbestimmung des §90 Abs1 FremdenG 1997).
Der Bundesminister für Inneres ist bei der Ausübung seines Zustimmungsrechts an dieselben gesetzlichen Kriterien gebunden wie die zur Bescheiderlassung zuständige Behörde (kein schrankenloses Ermessen); durch die Aufhebung der Wortfolge "von Amts wegen" in §72 Abs1, §73 Abs2 und Abs3 NAG und die damit verbundene Einräumung eines Antragsrechts ist die rechtsstaatliche Kontrolle negativer behördlicher Entscheidungen sichergestellt.
Fristsetzung für das Außer-Kraft-Treten bis zum 31.03.09, weil nicht ausgeschlossen ist, dass nach der Aufhebung legistische Vorkehrungen getroffen werden müssen. Da die Wortfolge "von Amts wegen" aus rechtsstaatlichen Überlegungen aufgehoben wird, wird für das Außer-Kraft-Treten eine Frist von lediglich neun Monaten gesetzt, um die bestehende Verfassungswidrigkeit ehest möglich zu beseitigen.
Anlassfälle B215/07 ua und B375/07, beide E v 27.06.08, Aufhebung der angefochtenen Bescheide; Quasianlassfälle B62/07, B918/07, B1225/07, B1376/07 ua, B1858/07 und B72/08, alle E v 23.09.08, sowie B2116/07, E v 02.12.08.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Fremdenrecht, Aufenthaltsrecht, Rechtsstaatsprinzip, Rechtsschutz,Legalitätsprinzip, Ermessen, Determinierungsgebot, Privat- undFamilienleben, VfGH / Fristsetzung, VfGH / PrüfungsumfangEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2008:G246.2007Zuletzt aktualisiert am
31.08.2011