TE Vfgh Erkenntnis 1980/6/11 B8/77, B9/77

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Veröffentlicht am 11.06.1980
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
B-VG Art144 Abs1 / Verhaftung
StGG Art8
PersFrSchG §4
StGB §146
StPO §175 Abs1 Z2
StPO §177 Abs1 Z2

Leitsatz

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Verhaftung im Dienste der Strafrechtspflege; kein hinreichender Tatverdacht

Spruch

Die Beschwerdeführer sind dadurch, daß sie am 24. November 1976 um etwa 0.30 Uhr von Sicherheitswachebeamten der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und bis 0.55 Uhr im Bezirkspolizeikommissariat Ottakring angehalten wurden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.1. In den in den wesentlichen Teilen wörtlich übereinstimmenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden - die unter B8/77 protokollierte Beschwerde wurde von R. S. und die unter B9/77 protokollierte Beschwerde von T. K. erhoben - wird vorgebracht, daß sich die Beschwerdeführer am 23. November 1976 mit Frau Ch. R. in einem Heurigenlokal aufgehalten hätten. Als die Beschwerdeführer etwa um 23 Uhr bezahlen wollten, habe der Kellner erklärt, daß sie 15 Viertel Wein konsumiert hätten, wogegen es nach ihrer Erinnerung lediglich 9 Viertel gewesen seien. Der herbeigerufene Oberkellner habe von den Beschwerdeführern die Bezahlung von 15 Vierteln Wein verlangt; widrigenfalls werde er die Polizei herbeiholen.

Nach einer Wiederholung dieses Verlangens habe sich der Oberkellner entfernt, sei jedoch kurze Zeit darauf in Begleitung zweier Sicherheitswachebeamter erschienen. Diese hätten von den Beschwerdeführern als erstes verlangt, daß sie sich ausweisen, ohne daß sie etwas zum Grund ihrer Intervention gesagt hätten. Frau R. habe sich mit einem Dokument ausgewiesen, die Beschwerdeführerin T. K. habe ihren Reisepaß, den sie bereits in ihrer Hand gehabt habe, wiederum in ihre Tasche gesteckt und erklärt, "sie würde ihn nicht herzeigen, da sie überhaupt nicht gefragt" worden sei, "was los" sei. Der Beschwerdeführer S. habe erklärt, seine Ausweispapiere in dem (vor dem Lokal abgestellten) PKW zu haben.

Daraufhin habe der ältere der beiden Sicherheitswachebeamten den Beschwerdeführer S. am Ärmel gefaßt und gesagt, er müsse mitgehen. Der jüngere Beamte habe die Beschwerdeführerin K. aufgefordert, auch mitzukommen, worauf diese sich geweigert habe. Nun habe der Sicherheitswachebeamte den Arm der Beschwerdeführerin erfaßt und ihn auf ihren Rücken gedreht. Auf diese Weise sei die Beschwerdeführerin gezwungen worden mitzugehen.

Vom Eintreffen der Sicherheitswachebeamten in das Lokal bis zur Verhaftung seien nicht einmal fünf Minuten vergangen. Vor dem Lokal habe der Beschwerdeführer S. nochmals erklärt, daß sich seine Ausweispapiere in dem geparkten Auto befänden. Es sei ihm nicht gestattet worden, die Papiere zu holen.

Die Beschwerdeführer seien auf das Bezirkspolizeikommissariat Ottakring gebracht, dort jedoch nur um ihre Adressen, aber überhaupt nicht zum Vorfall befragt worden. Es sei den Beschwerdeführern erklärt worden, daß sie wegen Betruges angeklagt seien und "alles Weitere dem Richter erzählen" könnten. Daraufhin seien die Beschwerdeführer - nach einem mehr als einstündigen Aufenthalt - vom Bezirkspolizeikommissariat entlassen worden.

Die Beschwerdeführer stellen den Antrag, der VfGH möge kostenpflichtig feststellen, daß sie in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden seien.

2. In der Gegenschrift der belangten Behörde wird im wesentlichen ausgeführt, daß die Sicherheitswachebeamten durch einen Funkspruch des Informationsdienstes der Bundespolizeidirektion Wien angewiesen worden seien, sich in das in der Beschwerde genannte Heurigenlokal zu begeben, da "dort Zechpreller anwesend" seien. Den um 0.03 Uhr eingetroffenen Sicherheitswachebeamten sei vom Kellner mitgeteilt worden, daß sich die Beschwerdeführer und eine dritte an ihrem Tisch sitzende Person (Frau R.) geweigert hätten, ihre Zeche zu bezahlen. Der die Amtshandlung leitende Polizeirayonsinspektor H. sei vorerst bestrebt gewesen, "wenn schon nicht die Angelegenheit überhaupt, so zumindest den strafrechtlichen Aspekt derselben zu bereinigen". Er habe die drei Gäste darauf hingewiesen, daß sie entweder den geforderten Betrag zu bezahlen hätten oder aber, falls sie der Meinung seien, daß der Kellner mehr verrechne, als sie tatsächlich konsumiert hätten, ihre Identität bzw. das Vorhandensein von für die Begleichung der Zeche ausreichenden Mitteln nachzuweisen hätten. Durch dieses Einwirken habe sich eine der beiden Frauen bereit gefunden, die von dem Kellner von ihr geforderte Zechschuld zu bezahlen. Diese Frau wäre auch bereit gewesen, die gesamte Zechschuld zu bezahlen, doch hätten das die beiden Beschwerdeführer abgelehnt. Sie hätten sich geweigert, auch nur einen Teilbetrag zu bezahlen. Als der Sicherheitswachebeamte die Beschwerdeführer um die Bekanntgabe ihrer Identität ersucht habe, hätten dies beide verweigert, wobei der Beschwerdeführer gesagt habe, daß er sich gar nicht ausweisen könne, da er keine entsprechenden Papiere bei sich habe; die Beschwerdeführerin habe jedoch auf einen in ihrer Handtasche steckenden Reisepaß gezeigt und gesagt, daß sie diesen, da sie die Polizei nicht gerufen habe, nicht herzuzeigen gedenke. Auf die Frage, ob die Beschwerdeführer überhaupt genug Geld bei sich hätten, um den geforderten Betrag in der Höhe von 274 S zu bezahlen, habe die Beschwerdeführerin gesagt, "daß das den Beamten gar nichts anginge". An dieser Haltung der beiden erheblich alkoholisierten Beschwerdeführer habe auch ein Hinweis auf strafrechtliche Folgen nichts ändern können. Da somit der Verdacht einer gerichtlich strafbaren Handlung gem. §146 StGB und der Haftgrund gem. §§452 Z1, 177 Abs1 Z2 und 175 Abs1 Z2 StPO vorgelegen sei, habe Polizeirayonsinspektor H. die Festnahme der beiden Beschwerdeführer um zirka 0.30 Uhr ausgesprochen, den Mann aus dem Lokal geführt und ihn einem beim Funkwagen verbliebenen Sicherheitswachebeamten übergeben. Der Sicherheitswachebeamte G. habe die Beschwerdeführerin aufgefordert, mit ihm zu gehen.

Die festgenommenen Beschwerdeführer seien sodann in das Bezirkspolizeikommissariat Ottakring gebracht worden und von dort nach Feststellung ihrer Identität um etwa 0.55 Uhr entlassen worden.

II. Der VfGH hat erwogen:

1. Die Beschwerdeführer sind ohne richterlichen Haftbefehl und ohne verwaltungsbehördliche Anordnung von Organen der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen worden. Diese Festnahme ist ein in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergangener Verwaltungsakt, der nach Art144 B-VG beim VfGH bekämpft werden kann. Die Beschwerden sind zulässig.

2. Die Festnahme der Beschwerdeführer ist - wie auch aus der Gegenschrift der belangten Behörde hervorgeht - im Dienste der Strafjustiz unter Berufung auf die Bestimmungen des §452 Z1, des §177 Abs1 Z2 und des §175 Abs1 Z2 StPO vorgenommen worden.

Nach §177 Abs1 Z2 StPO kann ausnahmsweise die vorläufige Verwahrung des eines Verbrechens oder Vergehens Verdächtigen zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter auch durch einen zur Untersuchung nicht zuständigen Richter und durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung ua. in den Fällen des §175 Abs1 Z2 und 3 vorgenommen werden, wenn die Einholung des richterlichen Befehls wegen Gefahr im Verzug nicht tunlich ist.

Im §175 Abs1 Z2 StPO ist bestimmt, daß auch ohne vorangegangene Vorladung der Untersuchungsrichter die Vorführung oder vorläufige Verwahrung des eines Verbrechens oder Vergehens Verdächtigen anordnen kann, wenn er flüchtig ist oder sich verborgen hält oder wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, er werde wegen der Größe der ihm mutmaßlich bevorstehenden Strafe oder aus anderen Gründen flüchten oder sich verborgen halten.

Unter Berufung auf diese Bestimmungen hält die belangte Behörde die von den Sicherheitswachebeamten vorgenommene Festnahme der Beschwerdeführer als gerechtfertigt, weil bei ihnen der Verdacht eines Vergehens des Betruges nach §146 StGB bestanden habe.

3. a) Bei einer in Anwendung der Bestimmungen des §177 Abs1 Z2 StPO durch Organe der Sicherheitsbehörden vorgenommenen Verhaftung handelt es sich um einen im Gesetz bestimmten Fall, in dem die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person iS des §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, in Verwahrung nehmen dürfen. Es ist daher zu prüfen, ob die Voraussetzungen der angeführten Bestimmungen für die Festnahme der Beschwerdeführer gegeben waren.

b) Sachverhaltsmäßig steht unbestritten fest, daß die Beschwerdeführer die Bezahlung des vom Kellner für die Konsumation der Getränke geforderten Betrages verweigert haben. Daraufhin wurde vom Oberkellner das Einschreiten der Sicherheitswachebeamten veranlaßt. Im übrigen stehen die Aussagen der Beschwerdeführer sowohl über den Zeitpunkt als auch über den Vorgang, der zu ihrer Festnahme geführt hat, in offenem Widerspruch zu den Ausführungen in der Gegenschrift der belangten Behörde. Im besonderen wird von den Beschwerdeführern das Vorliegen eines Verhaltens, durch das der Verdacht eines Vergehens nach §146 StGB begründet gewesen sei, bestritten.

Eine Klärung dieser Widersprüche konnte auch durch Einvernahme der Ch. R. und der einschreitenden Sicherheitswachebeamten F. H., J. G. und E. K. als Zeugen sowie der Beschwerdeführer als Parteien im Rechtshilfeweg nicht erzielt werden.

c) Nach dem Ergebnis der Ermittlungen nimmt der VfGH über den Zeitpunkt der Festnahme der Beschwerdeführer als erwiesen an, daß diese am 24. November 1976 um 0.30 Uhr erfolgt ist. Er folgt dabei den Ausführungen der belangten Behörde und den Aussagen der Sicherheitswachebeamten, weil sich diese auf die Zeitangaben in der Anzeige stützen können, die am 24. November 1976 unmittelbar im Zusammenhang mit der Einvernahme der Beschwerdeführer auf dem Bezirkspolizeikommissariat Ottakring erstattet worden ist. Aus den gleichen Gründen nimmt der VfGH als erwiesen an, daß die Beschwerdeführer aus dem Bezirkspolizeikommissariat Ottakring um 0.55 Uhr entlassen worden sind.

d) Der VfGH kann es dahingestellt sein lassen, ob die sowohl mit den Ausführungen in der Gegenschrift als auch mit den Aussagen der Sicherheitswachebeamten bei ihrer Einvernahme im Rechtshilfeweg in krassem Widerspruch stehende Behauptung der Beschwerdeführer zutrifft, daß ihnen von den Sicherheitswachebeamten ein Grund ihres Einschreitens überhaupt nicht bekanntgegeben worden sei. Im Hinblick darauf, daß die Beschwerdeführer - unbestritten - zunächst beim Kellner ihre Schuld bezahlen wollten, diese dann nur der Höhe nach bestritten und nach der Androhung durch den Oberkellner, die Polizei zu holen, deren Eintreffen an ihrem Tisch ruhig abgewartet haben, ergibt sich, daß lediglich die Frage der Höhe der Schuld zu klären gewesen wäre. Diese Frage ist als zivilrechtliche Angelegenheit zu werten. Nach der Lage des Falles waren jedenfalls keine Umstände gegeben, aus denen auf ein vorsätzliches Verhalten der Beschwerdeführer iS des §146 StGB geschlossen werden konnte.

Es folgt daraus, daß die Beschwerdeführer nach den gegebenen Umständen festgenommen worden sind, obwohl nicht mit hinreichenden Gründen der Verdacht eines Vergehens nach §146 StGB festgestanden ist. Die Festnahme der Beschwerdeführer im Dienst der Strafrechtspflege nach §177 Abs1 Z2 StPO und die ihr nachfolgende Anhaltung im Bezirkspolizeikommissariat Ottakring waren daher in Ermangelung eines hinreichenden Verdachtes einer gerichtlich strafbaren Handlung unstatthaft (VfSlg. 8439/1978). Der VfGH hatte daher, da eine andere gesetzliche Grundlage für die Festnahme der Beschwerdeführer überhaupt nicht in Betracht kommt, antragsgemäß festzustellen, daß die Beschwerdeführer durch den in Beschwerde gezogenen, in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gesetzten Verwaltungsakt im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt wurden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1980:B8.1977

Dokumentnummer

JFT_10199389_77B00008_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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