TE Vfgh Erkenntnis 1980/6/26 B392/77, B393/77

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Veröffentlicht am 26.06.1980
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Index

L0 Verfassungs- und Organisationsrecht
L0300 Landtagswahl

Norm

B-VG Art95
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
Bgld LandtagswahlO 1949 §28 Abs2
Bgld LandtagswahlO 1949 §29 Abs2
EGVG ArtII Abs6 litb
VfGG §82 Abs3 dritter Satz
VfGG §83 Abs1

Beachte

ebenso Erk. B437 bis 440/77 vom gleichen Tag betreffend Bgld. Gemeindewahlordnung

Leitsatz

Bgld. Landtagswahlordnung; rechtswidrige Streichung aus dem Wählerverzeichnis; Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt

Spruch

Die Beschwerdeführer sind dadurch, daß sie anläßlich der Wahl in den Landtag des Burgenlandes 1977 aus dem Wählerverzeichnis der Gemeinde Neustift bei Güssing gestrichen worden sind, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht verletzt worden.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.1.a) Die Beschwerdeführer waren für die am 2. Oktober 1977 stattgefundenen Wahlen in den Landtag des Burgenlandes in das Wählerverzeichnis der Gemeinde Neustift bei Güssing eingetragen.

Gegen ihre Aufnahme in das Wählerverzeichnis wurde gem. §27 der Bgld. Landtagswahlordnung, LGBl. 5/1949, idF des LG LGBl. 28/1976 (im folgenden kurz: LWO) innerhalb der Auflagefrist mit der Begründung Einspruch erhoben, daß die Beschwerdeführer seit acht Jahren in Wien wohnhaft seien.

Die Gemeindewahlbehörde Neustift bei Güssing hat in ihrer Sitzung vom 23. August 1977 beschlossen, daß die Beschwerdeführer aus dem Wählerverzeichnis nicht zu streichen sind. Eine Begründung ist aus dem Beratungsprotokoll nicht ersichtlich.

Gegen diese Entscheidungen haben die Einspruchswerber Berufung erhoben und sie damit begründet, daß die beiden Beschwerdeführer seit ungefähr acht Jahren in Wien wohnten und nur gelegentlich auf Besuch nach I. (ein Ortsteil von Neustift) kämen.

b) Die Bezirkswahlbehörde bei der Bezirkshauptmannschaft Güssing (im folgenden kurz: Bezirkswahlbehörde) hat in ihrer Sitzung vom 2. September 1977 in Ansehung des den Beschwerdeführer J. K. betreffenden Streichungsbegehrens den folgenden Beschluß gefaßt:

"Der Vorsitzende tritt der Anschauung der 3 Beisitzer bei, die den ordentl. Wohnsitz des J. K. in Wien mit der Begründung bejahen, daß er dort den Mittelpunkt seiner wirtschaftlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Lebensbeziehungen hat.

Die Entscheidung der Gemeindewahlbehörde wird mit Stimmenmehrheit aufgehoben und das Streichungsbegehren mit Stimmenmehrheit bewilligt."

Hinsichtlich der Beschwerdeführerin E. K. wurde die gleiche Entscheidung beschlossen.

c) Die Bezirkswahlbehörde hat ihre die beiden Beschwerdeführer betreffenden Beschlüsse am 6. September 1977 dem Bürgermeister von Neustift (als Leiter der Gemeindewahlbehörde) mitgeteilt.

Die Beschwerdeführer geben an, daß sie erst ganz kurz vor der Wahl informell von den sie betreffenden Beschlüssen der Bezirkswahlbehörde erfahren haben. Dieses Vorbringen wird von der belangten Behörde nicht bestritten.

d) Die Beschwerdeführer wurden tatsächlich aus dem Wählerverzeichnis der Gemeinde Neustift gestrichen.

2. Gegen diese Streichungen aus dem Wählerverzeichnis wenden sich die vor liegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden. Darin wird die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrechtes behauptet.

3. Der VfGH hat gem. §187 ZPO iVm §35 VerfGG die Verfahren zu B392, 393/77 und die Verfahren zu B437 bis 440/77 zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.

II. Der VfGH hat erwogen:

1. a) Gem. §29 Abs2 LWO nehmen an der Landtagswahl nur Wahlberechtigte teil, deren Namen im abgeschlossenen Wählerverzeichnis enthalten sind. Die Aufnahme einer Person in das Wählerverzeichnis und ihre Streichung aus dieser Liste greifen daher unmittelbar in ihre Rechtssphäre ein.

Die Streichung aus dem Wählerverzeichnis ist kein Bescheid iS des Art144 Abs1 erster Satz B-VG, sondern ein Verwaltungsakt, der in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt ergangen ist (vgl. hiezu zB VfSlg. 7669/1975 und 7823/1976 sowie VfGH 6. 3. 1980 B405/78). Ein solcher Verwaltungsakt ist nach Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG beim VfGH bekämpfbar.

b) Die Streichung aus dem Wählerverzeichnis wurde zwar von der Gemeindewahlbehörde Neustift durchgeführt; ihr Vorgehen war aber durch den Beschluß der Bezirkswahlbehörde bei der Bezirkshauptmannschaft Güssing vom 2. September 1977 derart eindeutig vorausbestimmt, daß kein Raum für einen Willensakt der Gemeindewahlbehörde offen blieb; die Streichung war daher eine bloß exekutive Tätigkeit.

Der bekämpfte Verwaltungsakt ist sohin der Bezirkswahlbehörde zuzurechnen.

c) Ein ordentliches Rechtsmittel gegen die Streichung aus dem Wählerverzeichnis ist nicht vorgesehen.

Der administrative Instanzenzug ist erschöpft.

d) Nähere Erörterungen über die Rechtzeitigkeit der Beschwerden erübrigen sich. Die Beschlüsse der Bezirkswahlbehörde über die Streichung der Beschwerdeführer aus dem Wählerverzeichnis wurden am 2. September 1977 gefaßt. Die Streichung kann erst nach diesem Zeitpunkt durchgeführt worden sein. Die Verfassungsgerichtshofbeschwerden wurden am 14. Oktober 1977 zur Post gegeben. Die im §82 Abs2 VerfGG vorgesehene sechswöchige Beschwerdefrist ist also jedenfalls gewahrt, ohne daß geklärt zu werden brauchte, wann die Beschwerdeführer von der Streichung Kenntnis erlangt haben.

e) Alle Prozeßvoraussetzungen sind gegeben.

Die Beschwerden sind zulässig.

2. a) Gem. §28 Abs2 LWO hat in einem Verfahren, betreffend den Einspruch gegen das Wählerverzeichnis, die Bezirkswahlbehörde binnen fünf Tagen endgültig zu entscheiden. Dem folgenden Abs3 zufolge ist nach Rechtskraft der Entscheidung das Wählerverzeichnis sofort richtigzustellen.

Wenngleich nach ArtII Abs6 litb EGVG 1950 das AVG in den Angelegenheiten der Durchführung von Landtagswahlen keine Anwendung findet und die LWO keine besonderen Verfahrensvorschriften enthält, sind doch die grundsätzlichen Bestimmungen des AVG auch hier anzuwenden (vgl. VfSlg. 7017/1973). Insb. waren die Entscheidungen der Bezirkswahlbehörde über die Streichungen aus dem Wählerverzeichnis bescheidmäßig zu verfügen.

Bescheide sind aber hier nicht erlassen worden. Insb. wurden die Beschlüsse der Bezirkswahlbehörde vom 2. September 1977 weder mündlich verkündet noch schriftlich zugestellt. Die Streichungen der Beschwerdeführer aus dem Wählerverzeichnis waren, da ihnen keine Bescheide zugrunde lagen, unzulässig.

Die Beschwerdeführer sind durch die Streichungen aus dem Wählerverzeichnis also in ihrem durch Art95 iVm Art26 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht zum Landtag verletzt worden.

b) Zum Inhalt der erwähnten Beschlüsse verweist der VfGH auf sein Erk. VfSlg. 7766/1976. Darin hat er zum Ausdruck gebracht, es sei nicht ausgeschlossen, daß eine Person einen ordentlichen Wohnsitz in der Stadt und einen weiteren ordentlichen Wohnsitz am Land besitzt.

Schlagworte

Wahlen, Wahlrecht aktives, Wählerevidenz, Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Verwaltungsverfahren, Anwendbarkeit AVG

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1980:B392.1977

Dokumentnummer

JFT_10199374_77B00392_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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