TE Vfgh Erkenntnis 1980/10/10 V36/77

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Veröffentlicht am 10.10.1980
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Index

82 Gesundheitsrecht
82/05 Lebensmittelrecht

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art83 Abs2
MRK Art7
LMG 1975 §7 Abs2
LMG 1975 §8 lite, §8 litf
LMG 1975 §10
LMG 1975 §51
Verordnung des BMGU vom 02.02.77, BGBl 89, über Extrawurst

Beachte

vgl. Kundmachung BGBl. 570/1980 am 23. Dezember 1980

Leitsatz

Lebensmittelgesetz 1975, Verordnung des BM für Gesundheit und Umweltschutz vom 2. Feber 1977, BGBl. 89, verstößt gegen die gesetzliche Ermächtigung des §10; fehlerhafte Normentechnik bei Konkretisierung des Begriffes der Verfälschung

Spruch

Die Verordnung des Bundesministers für Gesundheit und Umweltschutz vom 2. Feber 1977, BGBl. 89, über Extrawurst wird als gesetzwidrig aufgehoben.

Die Verordnung ist auch auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände nicht mehr anzuwenden.

Der Bundesminister für Gesundheit und Umweltschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.1. Auf Grund des §7 Abs2, des §10 Abs1 Z1 und des §10 Abs2 des Lebensmittelgesetzes 1975, BGBl. 86/1975, ist die Verordnung des Bundesministers für Gesundheit und Umweltschutz vom 2. Feber 1977 über Extrawurst, BGBl. 89/1977, erlassen worden. Die Verordnung hat folgenden Wortlaut:

"§1. Extrawurst in Stangen, welche der in der Anlage genannten Beschaffenheit nicht entspricht, insbesondere die dort aufgezählten Grenzwerte unterschreitet, ist gemäß §8 lite des Lebensmittelgesetzes 1975 verfälscht.

§2. Es ist gemäß §7 Abs2 des Lebensmittelgesetzes 1975 verboten, eine nach §1 verfälschte Extrawurst in Stangen auch bei deutlicher und allgemein verständlicher Kenntlichmachung ihrer Beschaffenheit in Verkehr zu bringen."

Die in §1 angeführte Anlage enthält getrennt für "Sorte 1 Extrawurst in Stangen" und für "Sorte 2 Extrawurst rund" Richtlinien für das zu verwendende Ausgangsmaterial und Grenzwerte.

2. Die Tir. Landesregierung stellt gemäß Art139 B-VG in Verbindung mit §57 VerfGG 1953 den Antrag, die genannte Verordnung als gesetzwidrig aufzuheben und auszusprechen, daß die Verordnung nicht mehr anzuwenden ist.

Nach Ansicht der Tir. Landesregierung verstößt die Verordnung gegen Art18 B-VG und gegen die §§7, 8 und 10 des Lebensmittelgesetzes 1975 - LMG 1975. Die Antragstellerin bringt - zusammengefaßt - vor:

... (Die Wiedergabe des Vorbringens unterbleibt hier).

3. Der Bundesminister für Gesundheit und Umweltschutz hat eine Äußerung erstattet, in der er seine Ansicht darlegt, daß die Verordnung gesetzeskonform erlassen worden sei und somit von einer Gesetzwidrigkeit der Verordnung nicht gesprochen werden könne.

... (Die Wiedergabe der Äußerung unterbleibt hier).

II. Der VfGH hat erwogen:

1. Die angefochtene Verordnung stützt sich auf drei Bestimmungen des LMG 1975, in denen dem Bundesminister für Gesundheit und Umweltschutz die Kompetenz zur Erlassung von Normen übertragen wird:

Gemäß §7 Abs2 hat der Bundesminister, "wenn das zur Sicherung einer einwandfreien Nahrung oder zum Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsschädigung oder Täuschung geboten ist, unter Bedachtnahme auf den jeweiligen Stand der Wissenschaft und der Technologie nach Anhören der Codexkommission durch Verordnung zu bestimmen, daß bestimmte unter das Verbot des Abs1 litb fallende Lebensmittel, Verzehrprodukte oder Zusatzstoffe auch bei deutlicher und allgemein verständlicher Kenntlichmachung ihrer Beschaffenheit nicht in Verkehr gebracht werden dürfen". Nach dem zitierten Abs1 litb ist es verboten, Lebensmittel, Verzehrprodukte und Zusatzstoffe in Verkehr zu bringen, die "verdorben, unreif, nachgemacht, verfälscht oder wertgemindert sind, ohne daß dieser Umstand deutlich und allgemein verständlich kenntlich gemacht ist".

Gemäß §10 Abs1 Z1 LMG 1975 in Verbindung mit dem Einleitungssatz dieses Abs. hat der Bundesminister, "wenn das zur Sicherung einer einwandfreien Nahrung oder zum Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsschädigung oder Täuschung geboten ist, unter Bedachtnahme auf den jeweiligen Stand der Wissenschaft und der Technologie nach Anhören der Codexkommission festzustellen, in welcher Beschaffenheit Lebensmittel, Verzehrprodukte oder Zusatzstoffe gesundheitsschädlich, verdorben, unreif, nachgemacht, verfälscht, falsch bezeichnet oder wertgemindert sind".

Gemäß §10 Abs2 LMG 1975 schließlich kann der Bundesminister, "in Vollziehung des Abs1 Teile des Österreichischen Lebensmittelbuches (§51) als Verordnung erlassen". Nach dem zitierten §51 dient das vom Bundesminister herausgegebene Österreichische Lebensmittelbuch (Codex Alimentarius Austriacus) der Verlautbarung von Sachbezeichnungen, Begriffsbestimmungen, Untersuchungsmethoden und Beurteilungsgrundsätzen sowie von Richtlinien für das Inverkehrbringen von dem LMG 1975 unterliegenden Waren.

Mit der angefochtenen Verordnung sollte für das ganze Bundesgebiet gesichert werden, daß von den unter der Bezeichnung Extrawurst hergestellten Brätwürsten (Österr. Lebensmittelbuch Kapitel B 14, Abschnitt B Punkt 15) schon nach der äußeren Form die höherwertige Sorte 1 - feine Extrawurst, Extrawurst in Stangen - von der geringerwertigen Sorte 2 - Extrawurst rund - unterschieden werden kann.

Die vom Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz im Entwurf vorbereitete Verordnung "betreffend das Verbot des Inverkehrbringens von Extrawurst der Sorte 2 in Stangenform" brachte dies noch deutlicher zum Ausdruck als die schließlich erlassene - angefochtene - Verordnung, die wörtlich einer von der Codexkommission vorgeschlagenen Fassung entspricht.

2. a) Voraussetzung für die Erlassung einer auf §7 Abs2 oder §10 Abs1 LMG 1975 gestützten Verordnung ist, daß "das zur Sicherung einer einwandfreien Nahrung oder zum Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsschädigung oder Täuschung geboten" ist; dies gilt aber auch für die Erlassung von Verordnungen nach §10 Abs2, denn solche Verordnungen sind daran geknüpft, daß sie "in Vollziehung des Abs1" ergehen.

Diese Voraussetzung muß gegeben sein, bevor sich die Frage stellt, ob die für Lebensmittel, Verzehrprodukte oder Zusatzstoffe konkret getroffene Regelung mit dem Gesetz in Einklang steht.

Beide Gesetzesbestimmungen (§7 Abs2 und §10 Abs1 LMG 1975) tragen dem Verordnungsgeber eine "Bedachtnahme auf den jeweiligen Stand der Wissenschaft und der Technologie" und die Anhörung der Codexkommission auf. Mit dieser Regelung wird auch eine Bedachtnahme auf das Österr. Lebensmittelbuch (§51 LMG 1975), das den "Ausdruck der Auffassung der am Lebensmittelverkehr interessierten Gesellschaftskreise" darstellt (Rittler, Lehrbuch des österr. Strafrechts, 2. Auflage, I. Band 1954 S 218; OGH 29. 10. 1957 5 Os 572, 573/57, EvBl. 54/1958), insoweit ermöglicht, als dieses dem jeweiligen Stand der Wissenschaft und der Technologie entspricht. Daß die bei Erlassung der angefochtenen Verordnung in Betracht gezogenen Sachbezeichnungen, Begriffsbestimmungen und Beurteilungsgrundsätze des Österr. Lebensmittelbuches diesem Erfordernis nicht entsprächen, wurde von der antragstellenden Landesregierung nicht behauptet und ist im Verfahren auch nicht hervorgekommen.

Nach dem Österr. Lebensmittelbuch (Kapitel B 14, Abschnitt B Punkt 14) ist der Begriff der Wurstsorte eine Unterteilung des Begriffes der Wurstart. Die Extrawurst in Stangen gehört zur Sorte 1, die Extrawurst rund zur Sorte 2 der Brätwürste. Es ist daher auch zulässig, für jede der beiden Sorten eine Feststellung iS des §10 Abs1 Z1 zu treffen.

Die Extrawurst in Stangen ist nach den Herstellungsrichtlinien des Österr. Lebensmittelbuches gegenüber der Extrawurst rund (d.i. in Kränzen) ein höherwertiges Lebensmittel. Die Form, in der die Wurst in Verkehr gebracht wird (Stangen oder Kränze) deutet daher auf eine bestimmte Beschaffenheit hin. Aus den die Erlassung der angefochtenen Verordnung betreffenden Akten ist zu entnehmen, daß lediglich in Tirol auch Extrawurst der Sorte 2 seit Jahrzehnten in Stangenform, seit 1969 mit dem fortlaufenden Aufdruck "Extrawurst Sorte 2", in Verkehr gebracht wird. Mit dem Hinweis auf diesen Handelsbrauch, insbesondere auf die Beschriftung der Ware, hat das Landesgericht Innsbruck als Berufungsgericht mit Urteil vom 14. Feber 1972, Bl 28/75, die Täuschungseignung verneint.

Mit Rücksicht auf die Geltung der angefochtenen Verordnung für das ganze Bundesgebiet und den Umstand (auf welchen in Äußerungen im Verordnungsgebungsverfahren hingewiesen worden ist), daß die Extrawurst in Stangen meistens geschält und geschnitten gekauft wird und im übrigen eine Unterscheidung der Würste nach Sorten nicht üblich ist, vertritt der VfGH die Ansicht, die für die Erlassung der angefochtenen Verordnung erforderliche Voraussetzung, daß sie nämlich "zum Schutz der Verbraucher vor Täuschung geboten ist" als gegeben anzunehmen. Für diese Beurteilung der gesetzlichen Voraussetzungen ist es unbeachtlich, daß Extrawurst der geringerwertigen Sorte 2 in derselben Form wie die höherwertige Sorte 1 tatsächlich nur in Tirol in Verkehr gebracht wird, denn ebensowenig wie die für die Erlassung einer Verordnung gemäß §7 Abs2 und §10 Abs1 LMG 1975 erforderliche alternative Voraussetzung "zur Sicherung einer einwandfreien Nahrung geboten" eine konkrete Gefährdung der Verbraucher im ganzen Bundesgebiet durch nichteinwandfreie Nahrung verlangt, setzt die hier in Betracht kommende Voraussetzung "zum Schutz der Verbraucher vor Täuschung geboten" eine konkrete Täuschungsgefahr im ganzen Bundesgebiet voraus. Was insbesondere die Verhältnisse in Tirol betrifft, sind auch in diesem Bundesland, vor allem infolge des starken Fremdenverkehrs, auch mit dem Handelsbrauch nicht vertraute Personen als Verbraucher in Betracht zu ziehen.

b) Gemäß §8 lite LMG 1975 sind Lebensmittel dann verfälscht, "wenn ihnen wertbestimmende Bestandteile, deren Gehalt vorausgesetzt wird, nicht oder nicht ausreichend hinzugefügt oder ganz oder teilweise entzogen wurden, oder sie durch Zusatz oder Nichtentzug wertvermindernder Stoffe verschlechtert wurden, oder ihnen durch Zusätze oder Manipulationen der Anschein einer besseren Beschaffenheit verliehen oder ihre Minderwertigkeit überdeckt wurde, oder wenn sie nach einer unzulässigen Verfahrensart hergestellt wurden". Gemäß §10 Abs1 Z1 LMG 1975 ist der Bundesminister für Gesundheit und Umweltschutz ermächtigt, ua. festzustellen, in welcher Beschaffenheit Lebensmittel verfälscht sind; er kann dabei gemäß §10 Abs2 auch Teile des Österr. Lebensmittelbuches als Verordnung erlassen.

Nach der Legaldefinition des §8 lite ist somit eine Verfälschung ua. auch dann gegeben, wenn wertbestimmende Bestandteile, deren Gehalt vorausgesetzt wird, - durch Nichthinzufügen oder durch Entzug - fehlen.

Der Inhalt des Begriffsmerkmales der "wertbestimmenden Bestandteile, deren Gehalt vorausgesetzt wird" kann in der Weise bestimmbar sein, daß entweder durch Auslegung ein Bezug hergestellt wird zu den Herstellungsrichtlinien des Österr. Lebensmittelbuches (§51 LMG 1975) oder daß durch eine normative Regelung gemäß §10 Abs1 und 2 LMG 1975 ein Teil dieses Österr. Lebensmittelbuches als Verordnung erlassen wird.

Es entspricht somit eine Vorgangsweise dem Gesetz, bei der der Verordnungsgeber das Lebensmittel "Extrawurst in Stangen" dann als verfälscht feststellt, wenn die im Österr. Lebensmittelbuch für die Herstellung dieses Lebensmittels enthaltenen Richtlinien für Ausgangsmaterialien und Grenzwerte nicht eingehalten werden.

Entspricht aber die Regelung insoweit dem Gesetz, als sie den Tatbestand der Verfälschung gemäß §8 lite LMG 1975 zu Recht annimmt, kann unerörtert bleiben, ob überhaupt und unter welchen Voraussetzungen der Tatbestand der Falschbezeichnung gegeben sein kann.

c) Die in der angefochtenen Verordnung konkret getroffene Regelung entspricht jedoch nicht dem Gesetz.

§1 der Verordnung verweist in Zusammenhang mit der Feststellung, daß Extrawurst in Stangen bei bestimmter Beschaffenheit verfälscht ist, auf die Anlage zur Verordnung. In dieser Anlage werden die Richtlinien für das zu verwendende Ausgangsmaterial und die Grenzwerte übereinstimmend mit dem Österr. Lebensmittelbuch (Kapitel B 14, Abschnitt B Punkt 15 und Abschnitt C Anhang) sowohl für Extrawurst der Sorte 1 (Extrawurst in Stangen) als auch für Extrawurst der Sorte 2 (Extrawurst rund) wiedergegeben.

Gegenstand der angefochtenen Verordnung ist eine Feststellung gemäß §10 Abs1 Z1 in Verbindung mit Abs2 LMG 1975, in welcher Beschaffenheit Extrawurst in Stangen verfälscht ist, und ein Verbot gemäß §7 Abs2 LMG 1975, derart verfälschte Extrawurst in Stangen auch bei Kenntlichmachung ihrer Beschaffenheit in Verkehr zu bringen. Die Regelung bezieht sich also ausschließlich auf diese Wurstsorte. Es ist unklar, in welcher Beziehung diese Regelung zu den in der Anlage genannten (dem Österr. Lebensmittelbuch entnommenen) Richtlinien und Grenzwerten für Extrawurst rund steht. Dabei ist auch zu beachten, daß gemäß §10 Abs2 LMG 1975 die Erlassung von Teilen des Österr. Lebensmittelbuches als Verordnung nur "in Vollziehung des Abs1", also nur im Zusammenhang einer Regelung gemäß §1, hier also einer die Extrawurst in Stangen betreffenden Regelung, zulässig ist.

Der Gesetzgeber hat bei der Normierung des Begriffes der Verfälschung eines Lebensmittels - soweit dieser die stoffliche Zusammensetzung des Lebensmittels betrifft - (§8 lite LMG 1975) klar zum Ausdruck gebracht, daß er damit einen Vorgang meint, der eine Verschlechterung der Beschaffenheit gegenüber der bei Lebensmitteln bestimmter Art zu erwartenden Beschaffenheit bewirkt.

§1 der angefochtenen Verordnung widerspricht in seinem Wortlaut diesem Grundgedanken des Gesetzes. Die Bestimmung, daß Extrawurst in Stangen, "welche der in der Anlage genannten Beschaffenheit nicht entspricht, insbesondere die dort aufgezählten Grenzwerte unterschreitet", verfälscht ist, bezieht sich unterschiedslos auf alle angeführten Ausgangsmaterialien und Grenzwerte. Abgesehen von der Unklarheit, die sich aus der Bezugnahme auf die für die beiden Wurstsorten Extrawurst in Stangen und Extrawurst rund angeführten Ausgangsmaterialien und Grenzwerte ergibt, liegt in §1 der Verordnung eine weitere Unstimmigkeit gegenüber dem Gesetz, weil damit eine Verfälschung auch für die Fälle feststellend normiert ist, in denen höherwertige als die angeführten Ausgangsmaterialien verwendet werden, und weil die Verknüpfung der Verfälschung mit dem Unterschreiten der angeführten Grenzwerte dazu führt, daß einerseits eine Verfälschung in den Fällen gegeben ist, in denen eine Unterschreitung des Grenzwertes eine Wertverbesserung gegenüber der zu erwartenden Beschaffenheit und nur die Überschreitung eines Grenzwertes eine Wertverminderung bewirkt, während anderseits eine Verfälschung in diesen Fällen, in denen die Wertverminderung in der Überschreitung eines Grenzwertes liegt, nicht gegeben ist (wie zB bei dem Grenzwert von 2% Kartoffelstärke). In der Fassung des §1 der Verordnung ist nicht beachtet, daß die in der Anlage angeführten (aus dem Österr. Lebensmittelbuch entnommenen) Grenzwerte dann, wenn sie sich auf wertbestimmende Bestandteile beziehen, deren Anteil zwecks Wahrung des Wertes des Lebensmittels nicht überschritten werden darf, Höchstwerte darstellen, aber dann, wenn sie sich auf Bestandteile beziehen, deren Anteil nicht unterschritten werden darf, Mindestwerte sind. Es ist deshalb auch im Österr. Lebensmittelbuch durchaus folgerichtig bemerkt (Kapitel B 14, Abschnitt B Punkt 9), daß die Herstellungsrichtlinien beispielhaften Charakter haben, also gewisse Variationen möglich sind, sofern dadurch die Grenzwerte auf Grund der Untersuchungen "nicht unter- bzw. überschritten" werden.

Die in §10 LMG 1975 dem Verordnungsgeber erteilte Ermächtigung zur Feststellung, in welcher Beschaffenheit Lebensmittel verfälscht sind, dient der Sicherung eines einheitlichen individuellen Vollzugs des §8 lite LMG 1975 und damit der Rechtssicherheit. Die fehlerhafte Normentechnik in der angefochtenen Verordnung ist nicht geeignet, den Gesetzesbegriff der Verfälschung zu konkretisieren, sondern schafft selbst weitgehende Unklarheiten. Mit der Erlassung des §1 der angefochtenen Verordnung ist somit gegen die gesetzliche Ermächtigung des §10 LMG 1975 verstoßen worden.

Selbst wenn es möglich sein sollte, den Nebensatz in §1 der angefochtenen Verordnung "insbesondere die dort aufgezählten Grenzwerte unterschreitet" für sich betrachtet entgegen seinem Wortlaut in dem aus dem Österr. Lebensmittelbuch hervorgehenden Sinn auszulegen, verbietet sich eine solche berichtigende Auslegung im Zusammenhang mit den übrigen Unklarheiten.

Es darf dabei nicht außer acht gelassen werden, daß es den Tatbestand eines mit gerichtlicher Strafe bedrohten Verhaltens bildet, verfälschte Lebensmittel in Verkehr zu bringen (§63 Abs1 Z2 und §64 LMG 1975).

Wenn es auch verfassungsrechtlich zulässig ist, die Normierung von Elementen strafbarer Tatbestände durch Verordnung vorzunehmen, sofern eine dem Art18 B-VG entsprechende Grundlage in einem Gesetz gegeben ist (vgl. hiezu VfSlg. 6842/1972), so muß doch in jedem Fall, in dem zwischen das Gesetz und den individuellen Vollziehungsakt (Urteil, Bescheid) eine Verordnung tritt, an diese die Anforderung einer eindeutigen Umschreibung der als Elemente eines strafbaren Tatbestandes in Betracht kommenden Begriffe gestellt werden. Es darf nicht der individuellen Vollziehung überlassen bleiben, eine im Wortlaut eindeutige Strafnorm ergänzend oder berichtigend auszulegen ("nulla poena sine lege"; vgl. zur Unzulässigkeit einer Auslegung zum Nachteil eines Beschuldigten zB OGH 17. 9. 1975 9 Os 83 - 85/75, ÖRZ 1976 S 37 f.; OGH 21. 4. 1977 12 Os 9/77 verst. Senat, ÖRZ 1977, S 131 ff.). Eine extensive Auslegung eines Strafgesetzes in malam partem würde auch gegen die der österr. Verfassungsordnung angehörende Bestimmung des Art7 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten BGBl. 210/1958 in Verbindung mit dem BVG BGBl. 59/1964 verstoßen (vgl. Europäische Kommission für Menschenrechte Entscheidung 24. 9. 1963, Requete No. 1169/61, Slg. des Europarates Band 13 S 39 f.; Entscheidung 22. 4. 1965, Application No. 1852/63, Slg. des Europarates Band 16 S 38 f.).

§1 der angefochtenen Verordnung bildet in Verbindung mit der bezogenen Anlage eine Einheit. Aus den dargelegten Gründen sind beide Normen gesetzwidrig.

§2 der angefochtenen Verordnung enthält ein Verbot, daß "eine nach §1 verfälschte Extrawurst in Stangen" zum Gegenstand hat. Die Gesetzwidrigkeit des §1 hat die Gesetzwidrigkeit des §2 zur Folge.

3. Es war daher die angefochtene Verordnung gemäß Art139 Abs3 B-VG idF BGBl. 302/1975 und §59 VerfGG 1953 als gesetzwidrig aufzuheben.

Der Ausspruch, daß die Verordnung nicht mehr anzuwenden ist, daß sich also die Aufhebung auch auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände auswirkt, ist auf den zweiten Halbsatz des Art139 Abs6 zweiter Satz B-VG in der genannten Fassung gestützt.

Die Verpflichtung des Bundesministers für Gesundheit und Umweltschutz zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG in der genannten Fassung und §60 Abs2 VerfGG 1953 idF BGBl. 311/1976.

Schlagworte

Lebensmittelrecht, nulla poena sine lege, Strafrecht, Verwaltungsstrafrecht, Blankettstrafnorm

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1980:V36.1977

Dokumentnummer

JFT_10198990_77V00036_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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