Index
10 VerfassungsrechtNorm
StGG Art8Leitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Verhaftung im Dienste der Strafjustiz; vertretbare Annahme der Fluchtgefahr iSd §175 Abs1 Z2 StPOSpruch
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I.1. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird im wesentlichen folgendes vorgebracht:
Der Beschwerdeführer sei am 14. Juni 1979 gegen 11.40 Uhr als Lenker eines PKWs von Jugoslawien in Richtung Graz fahrend auf der Landesstraße 208 im Gemeindegebiet St. Veit am Vogau an einem Verkehrsunfall beteiligt gewesen, bei dem die Lenkerin eines Fahrrades, das er mit seinem PKW gestreift hatte, zu Sturz gekommen und verletzt worden sei. Das Fahrrad sei beschädigt worden. Da der Beschwerdeführer infolge schwerer Körperbehinderung zur Hilfeleistung nicht imstande gewesen sei, habe er seine Beleiterin ersucht, diese Aufgabe zu übernehmen. Weitere Verkehrsteilnehmer seien sodann hinzugekommen. In der Meinung, daß Rettung und Gendarmerie bereits verständigt worden seien, habe er mit seinem PKW die Unfallstelle verlassen und sich in ein Gasthaus nach Neutillmitsch begeben. Dort sei er von zwei Gendarmeriebeamten wegen Fahrerflucht verhaftet und zum Gendarmerieposten Leibnitz gebracht worden. Von dort habe man ihn nach Abnahme des Führerscheins gegen 18 Uhr nach Neutillmitsch zurückgebracht. Eine gesetzliche Grundlage für diese Verhaftung bzw. Festnahme finde sich weder in den Bestimmungen des §35 VStG noch in §175 StPO. Dadurch, daß er "am 14. Juni 1979 durch ein Organ des Landesgendarmeriekommandos für die Steiermark festgenommen und von 11.40 Uhr bis 18 Uhr in Haft gehalten worden ist", sei er in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
2. Die belangte Behörde (Bezirkshauptmannschaft Leibnitz, vgl. hinsichtlich der Zurechnung VfSlg. 7509/1975) hat von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen.
II.1. Der Verfassungsgerichtshof hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsstrafakt der Bezirkshauptmannschaft Leibnitz, GZ 15 CZe 9/1-79, weiters in den Erhebungsbericht des Landesgendarmeriekommandos für die Steiermark, Gendarmerieabteilungskommando Leibnitz, E.Nr. 529/79, betreffend eine vom Beschwerdeführer wegen seiner Festnahme an das Landesgendarmeriekommando für die Steiermark gerichtete Eingabe, sowie durch die im Rechtshilfeweg durchgeführte Vernehmung der Zeugen M.G., K.H. und K.B. und des Beschwerdeführers, und nimmt aufgrund dieser Beweise folgenden Sachverhalt als erwiesen an:
Nachdem sich der Verkehrsunfall in der in der Beschwerde geschilderten und im wesentlichen oben wiedergegebenen Weise ereignet hatte, hielt der Beschwerdeführer seinen PKW einige Meter nach der Unfallstelle an. Die nahe dem rechten Fahrbahnrand in Fahrtrichtung des Beschwerdeführers fahrende B.B. war vom PKW des Beschwerdeführers in den Straßengraben geschleudert worden und hatte dabei stark blutende Platzwunden am Kopf und Verletzungen an einem Arm erlitten. Das Fahrrad blieb beschädigt auf der Fahrbahn liegen. Ein die Unfallstelle passierender PKW-Lenker, K.H., hielt sein Fahrzeug an, half der Verletzten aus dem Straßengraben und ersuchte einen weiteren über seine Veranlassung anhaltenden Autofahrer um Verständigung von Gendarmerie und Rettung. Während der etwas vorausgefahrene Begleiter der Verletzten, K.B., und H. auf deren Eintreffen warteten, verließ die Mitfahrerin des Beschwerdeführers, M.G., den PKW des Beschwerdeführers und suchte die im PKW H. sitzende Verletzte auf. Zwar erklärte diese, offenbar unter Schockwirkung, nicht verletzt zu sein, die sichtbar stark blutenden Wunden widerlegten diese Angaben jedoch. Sowohl B. als auch H. gingen zu dem in seinem PKW sitzenden Beschwerdeführer und forderten ihn, der das Geschehen durch einen Rückspiegel beobachtete, auf, sich selbst von den Unfallsfolgen zu überzeugen. Der Beschwerdeführer wies weder seine Identität nach, noch nannten er oder seine Begleiterin seinen Namen. Auch die Tatsache seiner schweren Körperbehinderung (Gehbehinderung) wurde von niemandem erwähnt und war auch nicht erkennbar. Sowohl B. als auch H. forderten den Beschwerdeführer auf, das Eintreffen von Gendarmerie und Rettung abzuwarten. Dieser rief jedoch ca. 20 Minuten nach dem Unfall seine Begleiterin zu sich und fuhr mit ihr ohne eine weitere Äußerung in Richtung Graz weg. Hierauf führte H. über Ersuchen B. die Verletzte in ein Krankenhaus. Auf dem Weg dorthin überholte H. den PKW des Beschwerdeführers und veranlaßte ihn, stehenzubleiben. H. teilte dem Beschwerdeführer mit, daß er die Verletzte in das Krankenhaus bringe und forderte ihn auf, in das Spital mitzukommen oder zur Gendarmerie zu fahren, um dort den Unfall zu melden. Der Beschwerdeführer sagte darauf kein Wort, sondern fuhr einfach weg. Die Gendarmeriebeamten trafen ca. 20 Minuten nach Abfahrt des Beschwerdeführers an der Unfallstelle ein und veranlaßten aufgrund der ihnen von B. und dem ebenfalls an die Unfallstelle zurückgekehrten H. gegebenen Unfallsdarstellung eine Personenfahndung nach dem Lenker des am Unfall beteiligt gewesenen PKW, dessen Identität noch unbekannt war. Ein entsprechender Funkspruch erging unter anderem an den Gendarmerieposten Leibnitz.
Gegen 13.25 Uhr desselben Tages erhielt der Gendarmerieposten Leibnitz weiters die telefonische Mitteilung, daß sich auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus R. in Neutillmitsch bei Leibnitz ein Verkehrsunfall mit Sachschaden ereignet habe. Den beiden zwecks Unfallaufnahme an dieser Unfallstelle erschienenen Gendarmeriebeamten A.W. und J.St. wurde vom Unfallsgeschädigten mitgeteilt, daß der Lenker eines anderen PKWs gegen sein parkendes Fahrzeug angefahren sei und dieses dabei beschädigt habe. Dazu von ihm zur Rede gestellt, habe ihn dieser Lenker angeschrien und bestritten, angefahren zu sein, obwohl sich beide unfallsbeteiligten Fahrzeuge noch in unveränderter Kollisionsposition befanden, da sich die Stoßstange des anfahrenden PKWs am Kotflügel des parkenden PKW verhängt hatte. Da sich der Lenker trotz Aufforderung auch nicht ausgewiesen habe, sei der Geschädigte genötigt gewesen, die Gendarmerie um Unfallsaufnahme zu ersuchen.
Die beiden Gendarmeriebeamten stellten fest, daß es sich bei dem PKW um jenes Fahrzeug handelte, nach dessen Lenker wegen des erstgenannten Verkehrsunfalles gefahndet wurde. Sie betraten hierauf das Gasthaus R., und A.W. fragte den Beschwerdeführer, ob er der Lenker des in Rede stehenden Fahrzeuges und als solcher an den beiden genannten Verkehrsunfällen beteiligt gewesen sei. Der Beschwerdeführer bejahte die erste Frage, bestritt aber entschieden jegliche Unfallsbeteiligung. Daraufhin erklärte der Beamte den Beschwerdeführer "im Namen des Gesetzes" für festgenommen und forderte ihn auf, in die Dienststelle nach Leibnitz mitzukommen. Der Beschwerdeführer leistete dieser Aufforderung nach einigen Debatten schließlich Folge. Die Beamten brachten den Beschwerdeführer und M.G. sodann zum Gendarmerieposten Leibnitz.
Die Einvernahme des Beschwerdeführers durch einen an der Aufnahme des erstgenannten Verkehrsunfalles mitwirkenden Gendarmeriebeamten, der erst nach dem Beschwerdeführer am Gendarmerieposten Leibnitz eintraf, gestaltete sich deshalb schwierig und beanspruchte mehr Zeit, als dies unter gewöhnlichen Verhältnissen der Fall gewesen wäre, weil der Beschwerdeführer infolge eines Schlaganfalles sprechbehindert war und verlangte, daß das Protokoll nach seinem Diktat aufgenommen werden müsse, und die von ihm diktierten Worte nachträglich immer wieder berichtigte bzw. bestritt, sie verwendet zu haben. Er verweigerte schließlich auch die Unterzeichnung dieses Protokolles. Während dieser Zeit wurde M.G. wegen Herzbeschwerden in ein Spital eingeliefert und von dort nach ca. 1 1/2 Stunden zum Gendarmerieposten Leibnitz zurückgebracht, wo sie ca. 1/2 Stunde später im Anschluß an den Beschwerdeführer ebenfalls zum Unfallgeschehen befragt wurde. Über sein Ersuchen wurden der Beschwerdeführer und M.G. gegen 16.40 Uhr von Gendarmeriebeamten mit einem Dienstwagen nach Neutillmitsch zurückgebracht.
2. Der Beschwerdeführer hat einerseits bei seiner Vernehmung durch die Gendarmerie zum erstgenannten Verkehrsunfall angegeben: "Ich wartete nicht auf die Gendarmerie, da ich nicht wußte, daß sie von diesem Vorfall in Kenntnis gesetzt wurde. Als ich in Richtung Leibnitz fuhr, hielt mich ein unbekannter PKW-Lenker an und sagte mir, daß er die Radfahrerin in das Spital bringen werde. Ferner ersuchte er mich, daß ich mich am Gendarmerieposten Leibnitz melden solle. Dieser Aufforderung wäre ich niemals nachgekommen. Ich berichtige, daß die zwei vorangeführten Sätze nicht der Wahrheit entsprechen." Bei seiner durch den VfGH veranlaßten Vernehmung im Rechtshilfeweg gab er hingegen an, er habe die erste Unfallstelle 20 Minuten nach dem Verkehrsunfall verlassen, weil sich die Verletzte entfernt gehabt hätte. Einem Verkehrsteilnehmer habe er auf dessen Aufforderung, den Verkehrsunfall am Gendarmerieposten St. Veit am Vogau zu melden, erwidert, dieser Ort habe keinen Gendarmerieposten. Er habe dann in der Annahme gewartet, daß dieser Mann die Gendarmerie verständigt hätte. Ob seine Begleiterin jemanden ersucht habe, die Gendarmerie zu verständigen, wisse er nicht. An der erstgenannten Unfallstelle habe niemand die Bekanntgabe seiner Personalien verlangt.
Schon angesichts dieser einander kraß widersprechenden Angaben - die erste Variante deckt sich auch nur teilweise mit der Aussage der Zeugin G. vor der Gendarmerie - und anderen Widersprüchen in den Aussagen des Beschwerdeführers folgt der VfGH bei seinen Feststellungen den widerspruchsfreien Angaben des unbeteiligten Zeugen H., wonach sich der Beschwerdeführer vom Unfallsort vor Eintreffen der Gendarmerie ohne Bekanntgabe seiner Identität entfernt hat, und den in den Verwaltungsakten erliegenden detaillierten Angaben der in dieser Angelegenheit eingeschrittenen Gendarmeriebeamten. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich des Zeitpunktes, zu dem der Beschwerdeführer den Gendarmerieposten Leibnitz verlassen hat. Während nämlich der Beschwerdeführer behauptet, er wisse genau, daß er um 18 Uhr "formlos vom Gendarmerieposten entlassen" worden sei, erklärte die Zeugin G., "dies dürfte schon gegen 19 Uhr gewesen sein". Beide Zeitangaben sind nicht in Einklang zu bringen mit den Angaben der genannten Zeugin über die zeitliche Abfolge der Geschehnisse, die vielmehr die Richtigkeit der diesbezüglichen unbedenklichen Angaben des Gendarmeriebeamten W.K. bestätigen. Dieser beruft sich darauf, daß er laut Bestätigung des landesgerichtlichen Gefangenenhauses in Graz einen in demselben PKW, mit dem auch der Beschwerdeführer und M.G. nach Neutillmitsch zurückgebracht wurden, gleichzeitig transportierten Häftling um 17.40 Uhr in Graz übergeben und daher den Gendarmerieposten Leibnitz mit diesen drei Personen gegen 16.40 Uhr verlassen haben dürfte. Der genaue Zeitpunkt ist nicht mehr feststellbar, insbesondere ist nicht ausgeschlossen, daß sich der Beschwerdeführer nach Beendigung seiner Vernehmung weiterhin freiwillig im Gendarmerieposten Leibnitz aufgehalten hat, damit er gemeinsam mit M.G. nach deren Vernehmung nach Neutillmitsch gebracht werden konnte. Seine Anhaltung war daher spätestens um 16.40 Uhr beendet.
III.1. Die Festnahme des Beschwerdeführers ist ein in Ausübung behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergangener Verwaltungsakt iS des Art144 Abs1 B-VG. Die Festnahme erfolgte durch den Gendarmeriebeamten aus eigenem Antrieb. Gleiches gilt für die folgende Anhaltung.
Die gegen diese Maßnahme erhobene Beschwerde ist, da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, zulässig.
2. Bei der rechtlichen Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes unter dem Gesichtspunkt der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit geht der VfGH davon aus, daß der Beschwerdeführer im Dienste der Strafjustiz ohne Vorliegen eines richterlichen Haftbefehles festgenommen und verwahrt wurde. Es ist daher nach §177 iVm mit §175 StPO zu prüfen (vgl. das Erk. VfSlg. 8916/1980 und die dort angeführte Vorjudikatur), ob die Freiheitsbeschränkung in einem der "vom Gesetz bestimmten Fälle" iS des §4 des Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, erfolgt ist.
a) Wie sich aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt, bestand der begründete Verdacht, der Beschwerdeführer habe durch Verursachung jenes Verkehrsunfalles, bei dem B.B. verletzt worden war, eine gerichtlich strafbare Handlung nach §88 StGB begangen. Weiters ist zu berücksichtigen, daß sich der Beschwerdeführer vom Unfallsort ohne Bekanntgabe seiner Identität vor Eintreffen der Gendarmerie entfernt hatte und auf Grund dessen gegen ihn eine Fahndung eingeleitet worden war. Der den Beschwerdeführer festnehmende Gendarmeriebeamte konnte auf Grund dieser Tatsache sowie des Umstandes, daß der Beschwerdeführer jegliche Unfallsbeteiligung in Abrede stellte, vertretbarerweise davon ausgehen, daß Fluchtgefahr iS des §175 Abs1 Z2 StPO vorlag.
Die Festnahme des Beschwerdeführers war daher gerechtfertigt.
b) Die Dauer der Anhaltung des Beschwerdeführers war ebenfalls rechtmäßig. Es kann keine Rede davon sein, daß die Gendarmeriebeamten die Entlassung des Beschwerdeführers ungebührlich verzögert hätten, da es einerseits im Interesse einer sachgerechten und zielführenden Vernehmung lag, hiezu das Eintreffen des die Unfallaufnahme an Ort und Stelle durchführenden Beamten abzuwarten, andererseits aber der Beschwerdeführer selbst durch sein Verhalten allfällige Verzögerungen während der Vernehmung verursacht hat.
c) Der Beschwerdeführer wurde daher weder durch die Festnahme noch durch die nachfolgende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.
3. Da auch die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte nicht hervorgekommen ist und kein Anhaltspunkt dafür besteht, daß der Beschwerdeführer infolge der Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt wurde, ist die Beschwerde abzuweisen.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, AnhaltungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1981:B309.1979Dokumentnummer
JFT_10189773_79B00309_00