TE Vfgh Erkenntnis 1981/11/26 B86/79

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Veröffentlicht am 26.11.1981
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
VStG §35 lita
PersFrSchG §4

Leitsatz

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; rechtswidrige Festnahme nach §35 VStG

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch seine am 4. Februar 1979 gegen 3.10 Uhr in Sellrain (Tirol) durch Organe der Bundesgendarmerie erfolgte Festnahme und die nachfolgende Anhaltung im Gendarmeriepostenkommando Kematen bis 3.25 Uhr im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.1. In der Beschwerde wird vorgebracht, der Beschwerdeführer sei am 4. Februar 1979 um etwa 3.10 Uhr vor der Diskothek "Pfandlalm" in Sellrain nach einer verbalen Auseinandersetzung mit Gendarmeriebeamten festgenommen, zum Gendarmeriepostenkommando Kematen gebracht und nach Aufnahme seiner Personalien wieder freigelassen worden. Da die Festnahme sich auf keinen der Gründe des §35 VStG stützen könne (sein Verhalten sei keineswegs iS des ArtIX EGVG tatbildlich gewesen, er habe sich mit seinem Dienstausweis als Justizwachebeamter ausgewiesen, habe sich einer Strafverfolgung nicht zu entziehen versucht und habe auch keineswegs in der Fortsetzung einer strafbaren Handlung verharrt), sei der Beschwerdeführer durch die Festnahme im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

2. Die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck als belangte Behörde beantragte die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer habe sich geweigert, seine Identität anzugeben oder sich auszuweisen, obwohl er hiezu unter Androhung der Festnahme aufgefordert worden sei. Nach Feststellung der Identität des Beschwerdeführers am Gendarmeriepostenkommando Kematen sei der Beschwerdeführer unverzüglich freigelassen worden.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. a) Der VfGH hat Beweis erhoben durch die Einvernahme der Zeugen H. S., F. G., A. H., F. J. F. und des Beschwerdeführers als Partei im Rechtshilfewege sowie durch Einsichtnahme in die Akten 29 Vr 1125/79 des Landesgerichtes Innsbruck und 6-4128/79 der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck.

b) Den Akten des Landesgerichtes Innsbruck ist zu entnehmen, daß gegen die drei an der Amtshandlung, die den Gegenstand der vorliegenden Beschwerde bildet, beteiligten Gendarmeriebeamten W. O., A. R. und H. H. ein Strafverfahren eingeleitet wurde.

Mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 22. Dezember 1980 wurden I.) die Angeklagten W. O. und A. R. des Vergehens der Körperverletzung nach den §83 Abs2, 313 StGB und II.) der Angeklagte H. H. des Vergehens der fahrlässigen Verletzung der Freiheit der Person nach §303 StGB schuldig erkannt, begangen dadurch, daß am 4. Februar 1979 in Sellrain

I.) W. O. und A. R. als Gendarmeriebeamte unter Ausnützung der ihnen durch ihre Amtstätigkeit gebotenen Gelegenheit R. P. mißhandelt und fahrlässig verletzt haben, indem 1.) ihm W. O. einen Schlag gegen den linken Unterkiefer versetzt und gewürgt hat, wodurch P. eine Kontusion der linken Mandibula erlitten hat, 2.) ihm A. R. mit dem Knie mehrere Stöße in das Gesäß versetzt hat, wodurch P. eine Kontusion der Lendenwirbelsäule erlitten hat, und

II.) H. H. als Gendarmeriebeamter fahrlässig den R. P. an seinen Rechten durch eine gesetzwidrige Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit geschädigt hat, indem er ihn um 3.10 Uhr festgenommen und bis 3.25 Uhr festgehalten habe, obwohl ein Haftgrund nach §35 VStG nicht vorgelegen sei.

Die Angeklagten W. O. und A. R. wurden von der weiter gegen sie erhobenen Anklage, sie hätten am 4. Februar 1979 in Sellrain als Gendarmeriebeamte fahrlässig den R. P. an seinen Rechten durch eine gesetzwidrige Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit geschädigt, indem sie ihn um 3.10 Uhr festgenommen und bis 3.25 Uhr festgehalten hätten, obwohl ein Haftgrund nach §35 VStG nicht vorgelegen sei, und sie hätten dadurch das Vergehen der fahrlässigen Verletzung der Freiheit der Person gemäß §303 StGB begangen, gemäß §259 Z3 StPO freigesprochen.

Mit Urteil vom 16. Juli 1981, 4 Bs 187/81, hat das Oberlandesgericht Innsbruck im Instanzenzug das erstgerichtliche Urteil insoweit abgeändert, als H. H. von der gegen ihn erhobenen Anklage, er habe am 4. Februar 1979 in Sellrain als Gendarmeriebeamter fahrlässig den R. P. an seinen Rechten durch eine gesetzwidrige Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit geschädigt, indem er ihn um 3.10 Uhr festgenommen und bis 3.25 Uhr festgehalten habe, er habe hiedurch das Vergehen der fahrlässigen Verletzung der Freiheit einer Person nach §303 StGB begangen, gemäß §259 Z3 StPO freigesprochen wurde (weitere Aussprüche des Berufungsgerichtes, die sich nicht auf die Schuldfrage beziehen, können im gegebenen Zusammenhang außer Betracht bleiben).

Das Oberlandesgericht Innsbruck begründete seine Entscheidung im wesentlichen damit, daß die Frage auf sich beruhen könne, ob bei strenger Prüfung der im Verwaltungsverfahren normierten Vorschriften die von den Beamten zur Tatzeit vorgenommene Sachverhaltsannahme und rechtliche Würdigung letztlich gebilligt werden können. Nach Auffassung des Berufungsgerichtes könnte in der damals gegebenen Situation (späte Nachtzeit, Durcheinander, emotionsgeladene Atmosphäre) den Angeklagten auch eine allfällige Vernachlässigung der objektiv gebotenen Sorgfalt nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen nicht zum Verschulden angerechnet werden. Die Beamten hätten gegenüber dem sich erregt gebärdenden R. P., der ein provozierendes Verhalten an den Tag gelegt habe, und in dem dabei entstandenen Wirbel sofort zu entscheiden gehabt, ob der Verdacht einer Verwaltungsstraftat vorliege und ob ein Haftgrund iS des §35 VStG gegeben sei. Auch wenn ihnen dabei ein Fehler unterlaufen sein sollte, so könne ihnen dies nicht gemäß §303 StGB als Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden, da sie bei dem aus dem Beweisverfahren hervorgekommenen Sachverhalt doch von einer zumindest vertretbaren Auffassung ausgegangen seien.

c) Das Verwaltungsstrafverfahren gegen den Beschwerdeführer bei der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck ist (noch) nicht abgeschlossen.

2. Der VfGH nimmt auf Grund der vorliegenden Beweismittel als erwiesen an, daß der Beschwerdeführer am 4. Februar 1979 gegen 3.00 Uhr vor der Diskothek "Pfandlalm" in Sellrain dem Gendarmeriebeamten

O. (der gemeinsam mit seinen Kollegen R. und H. zwecks Überwachung der Einhaltung der Sperrstunde in der Diskothek erschienen war) gegenüber seinen Unmut äußerte, daß die Gendarmen nichts gegen ein vor der Diskothek vorschriftswidrig abgestelltes Kraftfahrzeug unternähmen. Im Verlauf des sich daraus entwickelnden lautstarken Disputs zeigte der Beschwerdeführer dem Gendarmeriebeamten O. seinen Dienstausweis mit dem Bemerken, daß er Justizwachebeamter sei. Der Beschwerdeführer wandte sich sodann an H. H. und begann auch mit diesem eine Auseinandersetzung. Als W. O. hinzutrat und seinem Kollegen H. etwas sagen wollte, fuhr der Beschwerdeführer O. mit den Worten an: "Halten Sie den Mund, wenn ich mit einem Bezirksinspektor spreche". Auf das hin forderte H. den Beschwerdeführer auf, sich auszuweisen, weil er gegen ihn Anzeige erstatten werde. Der Beschwerdeführer verweigerte aber die Ausweisleistung mit dem Hinweis, daß er sich bereits ausgewiesen habe. Dabei blieb er trotz Androhung der Festnahme, worauf H. H. die Festnahme aussprach. Der Beschwerdeführer wurde sodann um etwa 3.10 Uhr in das Gendarmeriedienstfahrzeug und mit diesem zum Gendarmeriepostenkommando Kematen gebracht. Nach Feststellung seiner Identität wurde er um 3.25 Uhr auf freien Fuß gesetzt.

3. Nach §4 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit, dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen. Hiezu zählt auch die Bestimmung des §35 VStG, auf welche sich die belangte Behörde beruft. Nach der lita dieses Paragraphen dürfen auf frischer Tat betretene Personen zum Zwecke ihrer Vorführung vor die Behörde festgenommen werden, wenn sie dem anhaltenden Organ unbekannt sind, sich nicht ausweisen und ihre Identität auch sonst nicht sofort feststellbar ist.

Es ist unbestritten, daß der Beschwerdeführer dem Gendarmeriebeamten O. seinen Dienstausweis vorgewiesen hat. Auch im Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck wird festgestellt, daß der Beschwerdeführer dem genannten Gendarmeriebeamten seinen Dienstausweis mit der Bemerkung vorgehalten habe, daß er "Bezirksinspektor" (vielleicht habe er auch "Justiz-Bezirksinspektor" gesagt) sei. Diese Feststellung wird durch die Angaben der im verfassungsgerichtlichen Verfahren vernommenen Zeugen S. und F. erhärtet, wonach im Zuge der Auseinandersetzung von seiten der Gendarmeriebeamten eine Bemerkung über den "Ziegelstadel" (die Dienststelle des Beschwerdeführers) gefallen sei.

Aufgrund dieser Umstände gelangt der VfGH zur Auffassung, daß der Beschwerdeführer zumindest einem der einschreitenden Gendarmeriebeamten nicht "unbekannt" iS des §35 VStG war. Das, was im Zeitpunkt der Festnahme über die Person des Beschwerdeführers bekannt war, reicht hin, um seine wegen Verdachtes der Verwaltungsübertretung nach ArtIX EGVG erfolgte Festnahme schon deshalb als ungerechtfertigt erscheinen zu lassen.

Dieses Ergebnis steht deshalb in keinem Widerspruch zu den hinsichtlich des Tatbestandes des §303 StGB erfolgten gerichtlichen Freisprüchen, weil das Gericht (nur) über das Vorliegen eines strafgerichtlichen Verschuldens zu urteilen hatte und weil auch das Oberlandesgericht Innsbruck in seinem Urteil nicht ausgeschlossen hat, daß den Gendarmeriebeamten bei der von ihnen zur Tatzeit vorgenommenen Sachverhaltsannahme und rechtlichen Würdigung, ob ein Haftgrund iS des §35 VStG gegeben war, ein Fehler unterlaufen sein könnte.

4. Da die Festnahme nicht gerechtfertigt war, wurde der Beschwerdeführer somit durch seine Festnahme und nachfolgende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1981:B86.1979

Dokumentnummer

JFT_10188874_79B00086_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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