Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / LegitimationLeitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; rechtmäßige Verhaftung nach §177 Abs1 Z1 StPOSpruch
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I.1. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, daß der Beschwerdeführer am 19. Juli 1979 mit seinem Moped zu einem Freund nach Wien 23; E-straße 133 gefahren sei. Kurz nach dem Eintreffen des Beschwerdeführers seien zwei Sicherheitswacheorgane der Bundespolizeidirektion Wien mit einem Streifenwagen erschienen und hätten über den Beschwerdeführer und einige andere Mopedfahrer Organmandate wegen Lärmerregung verhängt. Nachdem sich die Sicherheitswacheorgane wieder entfernt hätten, habe unter den Mopedfahrern und jüngeren Passanten eine Diskussion über die Vorgangsweise der Polizeibeamten stattgefunden.
Kurze Zeit später seien neuerlich die beiden Sicherheitswacheorgane erschienen, welche bereits zuvor eingeschritten waren, und hätten den Beschwerdeführer und zwei andere Personen auf Grund von - unzutreffenden - Beschuldigungen, welche gegen sie von einer Partei des Hauses E-straße 133 erhoben worden seien, festgenommen und auf das Bezirkspolizeikommissariat Liesing gebracht. Erst nach Vernehmung jener Hauspartei, welche die Anzeige erstattet habe, und nach neuerlicher Aufnahme der Personalien sei der Beschwerdeführer auf freien Fuß gesetzt worden. Die Festnahme und Anhaltung des Beschwerdeführers entbehre einer gesetzlichen Deckung.
Der Beschwerdeführer beantragt, der VfGH wolle erkennen, daß seine Festnahme und Anhaltung durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien verfassungswidrig war.
2. Die Bundespolizeidirektion Wien als belangte Behörde (vertreten durch die Finanzprokuratur) hat eine Gegenschrift erstattet, in welcher der Sachverhalt - soweit dies für die Beurteilung des vorliegenden Falles von Belang ist - hinsichtlich der zweiten Intervention der Sicherheitswacheorgane wie folgt dargestellt wird:
Die zweite Intervention sei deshalb erfolgt, weil gegen 19.40 Uhr die Mitteilung eingelangt sei, daß W. Sch. (welcher die erste Intervention der Sicherheitsbehörde wegen Lärmerregung mit den Mopeds ausgelöst habe) nunmehr bedroht werde. Als die Besatzung des Funkwagens "Wilhelm 1" vor der Wohnungstüre des W. Sch. eingelangt sei, habe dieser berichtet, daß er, nachdem der erste Einsatz der Sicherheitswacheorgane beendet war, in seine Wohnung habe zurückkehren wollen. Drei Burschen (darunter der Beschwerdeführer) seien ihm jedoch nachgegangen, hätten ihn auf der Stiege laut schreiend beschimpft, ihn gestoßen und mit den Worten "Jetzt erwischen wir Dich, und es passiert Dir was" bedroht. Da er sich deswegen, vor allem im Hinblick auf seine Behinderung, gefürchtet habe, habe er seiner in der Wohnung verbliebenen Gattin zugerufen, sie möge "die Polizei" rufen. Daraufhin hätten die drei Burschen die Flucht ergriffen.
Die Beamten hätten auf Grund dieser Mitteilung gemeinsam mit der mittlerweile eingetroffenen Besatzung des Funkwagens "Wilhelm 2" die vor dem Haus befindliche Grünanlage überquert und hätten in der Folge die drei Burschen samt ihren Mopeds in der Gasse "In der Wiesen" stehen gesehen. Die Jugendlichen hätten bestritten, den Anzeiger bedroht zu haben. Noch während dieses Gespräches sei W. Sch. hinzugekommen und hätte die Burschen neuerlich beschuldigt, ihn bedroht zu haben. Die Jugendlichen seien auf Grund dessen um etwa
19.50 Uhr festgenommen und in das Wachzimmer des Bezirkspolizeikommissariates Liesing gebracht worden; auch der Anzeiger sei mitgekommen.
Am Bezirkspolizeikommissariat sei W. Sch. von den Beamten erklärt worden, die Jugendlichen seien auf Grund seiner Angabe wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung, nämlich einer gefährlichen Drohung, festgenommen worden. Daraufhin habe Sch. gemeint, er habe die Drohung nur insofern ernst genommen, als sie dazu bestimmt war, ihm einen Schrecken einzujagen; er habe nicht geglaubt, daß die Burschen ernsthaft gegen ihn tätlich vorgehen würden; auch wolle er gar nicht, daß sie gerichtlich verfolgt würden. Der Beschwerdeführer (und die beiden anderen Jugendlichen) seien daraufhin nach Feststellung ihrer Identität gegen 20.05 Uhr entlassen worden. Allerdings sei gegen sie ein Verwaltungsstrafverfahren wegen Verstoßes gegen ArtVIII und IX EGVG eingeleitet worden, welches noch nicht abgeschlossen sei.
II. Der VfGH hat erwogen:
1. Der Beschwerdeführer war im Zeitpunkt der Einbringung der Beschwerde minderjährig. Seine Mutter J. S. (welcher der Beschwerdeführer mit Beschluß des Bezirksgerichtes Liesing vom 21. Dezember 1970, P 30/67, zur Erziehung und Pflege zugewiesen worden ist) hat der Beschwerdeerhebung dadurch zugestimmt, daß sie die dem Beschwerdevertreter ausgestellte Vollmacht ebenfalls unterfertigt hat.
Einer pflegschaftsbehördlichen Genehmigung - wie die Finanzprokuratur vermeint - oder der Zustimmung des anderen Elternteiles iS des §154 Abs3 ABGB idF BGBl. 403/1977 zur Erhebung der vorliegenden Beschwerde bedurfte es deshalb nicht, weil die vorliegende Beschwerde keine Vermögensangelegenheit iS des §154 Abs3 ABGB betrifft.
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, ist die Beschwerde zulässig.
2. Der VfGH nimmt auf Grund des Parteienvorbringens sowie auf Grund des Inhaltes des Verwaltungsstrafaktes Pst 8468/79 des Bezirkspolizeikommissariates Liesing - soweit das zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Festnahme und nachfolgenden Anhaltung des Beschwerdeführers von Belang ist - folgenden Sachverhalt als erwiesen an:
Am 19. Juli 1979 kam es gegen 19.30 Uhr vor dem Hause Wien 23; E-straße 131 - 133 zu einer Intervention von zwei Sicherheitswachebeamten der Bundespolizeidirektion Wien, Bezirkspolizeikommissariat Liesing, weil Jugendliche (darunter der Beschwerdeführer) von dem dort wohnhaften W. Sch. der Erregung ungebührlichen Lärms mit ihren Mopeds bezichtigt worden waren. Nach Verhängung von Organstrafmandaten entfernten sich die Polizeibeamten wieder.
Gegen 19.40 Uhr verständigte die Gattin des W. Sch., M., telefonisch die Sicherheitsbehörde mit der Behauptung, ihr Mann sei soeben von drei Burschen (darunter dem Beschwerdeführer) im Stiegenhaus bedroht worden. Den daraufhin abermals erschienenen Polizeibeamten teilte W. Sch. mit, drei Burschen seien, als er nach dem ersten Vorfall wieder in seine Wohnung gehen wollte, hinter ihm in das Stiegenhaus gekommen und hätten eine drohende Haltung gegen ihn eingenommen. Einer der Burschen habe zu ihm gesagt: "Jetzt erwischen wir Dich, und es passiert Dir etwas". Als die Burschen bemerkt hätten, daß Frau Sch. den Polizeinotruf betätigte, hätten sie das Haus verlassen.
Der Beschwerdeführer und die beiden anderen Jugendlichen wurden sodann um etwa 19.50 Uhr von den Sicherheitswacheorganen in der Nähe des Hauses festgenommen, nachdem sie von W. Sch. identifiziert worden waren. Sie wurden auf das Bezirkspolizeikommissariat Liesing überstellt und nach Feststellung ihrer Identität gegen 20.05 Uhr entlassen.
3. Zu diesen Feststellungen ist der VfGH vor allem auf Grund der Angaben der Zeugen W. und M. Sch. im Verwaltungsstrafverfahren gegen den Beschwerdeführer gelangt. Die Behauptung des Beschwerdeführers, er und die anderen Jugendlichen hätten nach der ersten Intervention der Polizeibeamten auf der Straße (nur) diskutiert und den Zeugen Sch. in keiner Weise bedroht, ist schon deshalb nicht glaubwürdig, weil nicht anzunehmen ist, daß M. Sch. ohne Anlaß den Polizeinotruf getätigt hat. Auch M. Sch. hat als Zeugin angegeben, sie hätte gesehen, wie ihr Gatte im Hausflur von drei Burschen umringt und am Weitergehen behindert worden sei.
4. Der VfGH beurteilt den festgestellten Sachverhalt wie folgt:
a) Der Beschwerdeführer wurde im Dienste der Strafjustiz ohne Vorliegen eines richterlichen Haftbefehles festgenommen. Es ist daher nach §177 in Verbindung mit §175 StPO zu prüfen, ob die Verhaftung in einem der "vom Gesetz bestimmten Fälle" iS des §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, erfolgt ist; in einem derartigen Fall hat eine Verletzung des Art8 StGG und des Art5 Abs1 MRK nicht stattgefunden (vgl. zB VfSlg. 7857/1976 und 8082/1977).
Nach §177 Abs1 (§10 Z1) StPO kann die vorläufige Verwahrung des eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens Verdächtigen auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden, wenn der Verdächtige auf frischer Tat betreten oder unmittelbar nach Begehung eines Verbrechens oder Vergehens glaubwürdig der Täterschaft beschuldigt wird (vgl. VfSlg. 8146/1977, S 159).
Diese Bestimmung erfordert nicht bloß im Falle der Betretung auf frischer Tat, sondern auch in den anderen von ihr umfaßten Fällen einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Tat und dem behördlichen Einschreiten gegen den Verdächtigen (vgl. VfSlg. 7277/1974, S 123).
Die einschreitenden Beamten der Bundespolizeidirektion Wien konnten, wie sich aus dem oben festgestellten Sachverhalt ergibt, mit gutem Grund annehmen, daß W. Sch. ua. vom Beschwerdeführer bedroht worden war (§107 StGB). Der Beschwerdeführer wurde kurz nach der Tat vom Zeugen Sch. glaubwürdig der Täterschaft beschuldigt und schon wenige Minuten später festgenommen. Unter diesen Voraussetzungen war die Festnahme durch §177 Abs1 Z1 StPO gedeckt; auch der von dieser Gesetzesbestimmung verlangte enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Tat und dem behördlichen Einschreiten war gegeben (vgl. auch VfSlg. 8816/1980). Der Umstand, daß der Anzeiger seine Anschuldigung in der Folge wieder zurückgezogen hat, ist bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verhaltens der Sicherheitswacheorgane im Zeitpunkt der Festnahme belanglos.
b) Nach §177 Abs2 StPO ist der durch Organe der Sicherheitsbehörden aus eigener Macht in Verwahrung Genommene durch die Sicherheitsbehörde unverzüglich zur Sache und zu den Voraussetzungen der Verwahrungshaft zu vernehmen und, wenn sich dabei ergibt, daß kein Grund zu seiner weiteren Verwahrung vorhanden ist, sogleich freizulassen, sonst aber binnen 48 Stunden dem zuständigen Gericht einzuliefern.
Der Beschwerdeführer wurde bereits 15 Minuten nach seiner Festnahme, und zwar nach (kurzer) informativer Befragung des Tatzeugen Sch. wieder freigelassen.
c) Da die Festnahme des Beschwerdeführers somit gerechtfertigt war und er auch sogleich freigelassen wurde, als sich ergab, daß kein Grund zu seiner weiteren Verwahrung vorhanden ist, ist der Beschwerdeführer weder durch seine Festnahme noch durch die nachfolgende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit und auch nicht in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden.
Da der VfGH keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die dieser Amtshandlung zugrundeliegenden Rechtsvorschriften hat, ist der Beschwerdeführer auch nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
5. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.
Schlagworte
VfGH / Legitimation, Festnehmung, Ausübung unmittelbarer Befehls- und ZwangsgewaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1981:B372.1979Dokumentnummer
JFT_10188874_79B00372_00