TE Vfgh Erkenntnis 1982/6/11 B332/80

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Veröffentlicht am 11.06.1982
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

MRK Art3
StGG Art8
VStG §35 litc
VStG §36 Abs1 1.Satz

Leitsatz

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; gesetzmäßige Festnehmung nach §35 litc VStG MRK; keine Verletzung des Art3

Spruch

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Der Antrag, die Beschwerde dem VwGH abzutreten, wird - soweit sie sich gegen die Festnahme und die Anhaltung an sich richtet - abgewiesen; im übrigen wird die Beschwerde dem VwGH zur Entscheidung darüber abgetreten, ob der Beschwerdeführer durch das bekämpfte Verhalten der Gendarmeriebeamten in einem sonstigen Recht verletzt worden ist.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird im wesentlichen vorgebracht:

Der Beschwerdeführer habe am 31. Mai 1980 in den frühen Morgenstunden seinen LKW mit dem Kennzeichen St ... im Ortsgebiet von St. Michael i. O./Bezirk Leoben gelenkt. Er sei von einem Gendarmeriebeamten angehalten und beschuldigt worden, die im Ortsgebiet zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten zu haben.

Zwischen dem Beamten und dem Beschwerdeführer habe sich ein Wortwechsel entsponnen. Der Beschwerdeführer habe sich hiebei jedoch keiner strafbaren Handlung schuldig gemacht. Dennoch habe sich der Beamte auf den Beschwerdeführer gestürzt, auf ihn eingeschlagen und ihn gewürgt. Als sich der Beschwerdeführer dagegen verwahrt habe, habe der Beamte seine Festnahme ausgesprochen. Er sei dann mit Hilfe eines zweiten Gendarmeriebeamten in ein Gendarmeriefahrzeug gezerrt worden. Als der Beschwerdeführer den Beamten neuerlich darauf aufmerksam gemacht habe, daß sein Vorgehen nicht richtig sei, habe ihm der Beamte mehrere Schläge ins Gesicht versetzt. Dadurch sei er offenbar in Mißhandlungsabsicht verletzt worden. Der Beschwerdeführer sei über eine Stunde im Dienstwagen festgehalten worden.

Erst nachdem dem einschreitenden Gendarmeriebeamten eine vom Beschwerdeführer gegen ihn erhobene Dienstaufsichtsbeschwerde an das Landesgendarmeriekommando für Stmk. bekannt geworden sei, habe der Beamte gegen ihn Anzeigen erstattet.

Der Beschwerdeführer beantragt, der VfGH möge kostenpflichtig feststellen, daß "der Beschwerdeführer durch seine Verhaftung in den Morgenstunden des 31. 5. 1980 und die dabei erlittenen Verwundungen in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf persönliche Freiheit und Integrität" (gemeint ist offenbar das durch Art3 MRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht, nicht einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden) "verletzt wurde". Hilfsweise wird die Abtretung der Beschwerde an den VwGH begehrt.

2. Die Bezirkshauptmannschaft Leoben als belangte Behörde hat dem VfGH die bezughabenden Akten vorgelegt, auf die Erstattung einer Gegenschrift jedoch verzichtet.

II. 1. Der VfGH hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in folgende Akten:

... (die Wiedergabe unterbleibt hier) ...

2. Auf Grund der im Zuge dieser Verfahren durchgeführten

Beweiserhebungen ... (deren Wiedergabe unterbleibt hier) nimmt der

VfGH folgenden Sachverhalt als erwiesen an:

Am 31. Mai 1980 um etwa 06,20 Uhr hielt der Gendarmeriebeamte Rev. Insp. W. in St. Michael i.O. den vom Beschwerdeführer gelenkten, mit lebenden Kälbern beladenen LKW ... an, weil dieser nach Schätzung des Beamten die im Ortsgebiet zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten hatte. Der Beschwerdeführer bestritt dies mit unhöflichen Worten in schreiendem Tonfall. Der Beamte mahnte ihn ab, sein ungestümes Verhalten einzustellen. Dieser Aufforderung kam der Beschwerdeführer jedoch nicht nach. Vielmehr setzte er seine beleidigenden, schreiend und gestikulierend vorgebrachten Äußerungen fort. Der Beamte mahnte ihn hierauf nochmals ab und drohte ihm die Festnahme an. Der Beschwerdeführer beachtete die Aufforderung des Beamten nicht, worauf dieser seine Festnahme aussprach. Der Beschwerdeführer wollte sich entfernen, worauf ihm der Beamte nachlief und ihn am Arm erfaßte. Um einem befürchteten Angriff des Beschwerdeführers zuvorzukommen - der Beschwerdeführer hatte mit dem anderen Arm gegen den Beamten ausgeholt - ergriff Rev. Insp. W. den Beschwerdeführer im Brustbereich an den Oberkleidern, wobei die Jacke des Beschwerdeführers zerriß. Als ihn der Beamte wieder losließ, wollte er neuerlich weggehen. Der Beamte eilte ihm nach, erfaßte ihn in der Nackengegend und brachte ihn zu dem etwa 30 Meter entfernt abgestellten Gendarmeriepatrouillenwagen.

Inzwischen war auch der Gendarmeriebeamte G. hinzugekommen. Der Beschwerdeführer nahm im Dienstkraftwagen Platz und verhielt sich ab diesem Zeitpunkt ruhig. Rev. Insp. W. nahm die Personalien des Beschwerdeführers und seine Rechtfertigung auf. Um 07,05 Uhr wurde er entlassen.

Ein praktischer Arzt stellt am Abend des 31. Mai 1980 beim Beschwerdeführer die folgenden Verletzungen fest: Zwei ca. 10 cm lange strichförmige Abschürfungen und eine ca. 3 cm lange oberflächige strichförmige Schürfwunde an der linken Halsseite, Druckschmerz im Bereich der 4. und 5. Rippe ventral; ein ca. linsengroßes Hämatom im unteren Drittel des linken Oberarmes sowie eine leichte Schwellung im unteren Drittel des linken Unterarmes; an der linken Ohrmuschel eine leichte Verletzung.

3. Zu den getroffenen Sachverhaltsfeststellungen ist festzuhalten, daß die Angaben des Beschwerdeführers einerseits und des gegen ihn einschreitenden Gendarmeriebeamten W. andererseits einander gerade in den hier bedeutsamen Belangen widersprechen. Der Zeuge G. vermag zu den relevanten Fakten nichts Wesentliches auszusagen. Der (unbeteiligte) Zeuge P. beurteilt das Verhalten des Beamten als "keinesfalls korrekt", gibt jedoch an, daß sich der Beschwerdeführer "lautstark" gegenüber dem Beamten verhalten habe.

Der VfGH nimmt vor allem auf Grund der Aussagen des zuletzt erwähnten (unbeteiligten) Zeugen P. und auf Grund des Umstandes, daß der Beschwerdeführer offenbar zu Aggressionen neigt (er wurde auch im Jahre 1976 wegen ungestümen Benehmens festgenommen; im Protokoll über seine Zeugenvernehmung vor dem KG Leoben vom 28. August 1980 hält der vernehmende Richter fest: "Die Vernehmung des Zeugen gestaltete sich schwierig, weil er sehr aufbrausend, rechthaberisch und streitsüchtig auftritt") - entgegen den Beschwerdebehauptungen und den Aussagen des Beschwerdeführers - als erwiesen an, daß sich der Beschwerdeführer dem Gendarmeriebeamten W. gegenüber sehr lautstark und beleidigend äußerte, wobei er heftig gestikulierte.

Bemerkenswert ist auch, daß die in der Beschwerde enthaltene Behauptung, der Gendarmeriebeamte habe erst Anzeigen gegen den Beschwerdeführer erstattet, als dem Beamten die vom Beschwerdeführer gegen ihn erhobene Dienstaufsichtsbeschwerde bekannt wurde, aktenkundig unrichtig ist: Die gegen den Beschwerdeführer erstatteten Anzeigen des GPK St. Michael sind mit 1. Juni 1980 datiert und langten bereits am 2. Juni 1980 bei der Bezirkshauptmannschaft Leoben ein.

III. Der VfGH hat über die - zulässige (vgl. zB VfSlg. 8145/1977, 8580/1979 S 443, VfGH 17. 3. 1982 B558/80) - Beschwerde erwogen:

1. a) Der VfGH beurteilt den festgestellten Sachverhalt unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit wie folgt:

Nach §4 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit, dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt (zu ihnen zählen die Gendarmeriebeamten) in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen. Einen solchen Fall regelt §35 litc VStG 1950, auf den sich der einschreitende Beamte berufen hat. Danach dürfen auf frischer Tat betretene Personen zum Zwecke ihrer Vorführung vor die Behörde festgenommen werden, wenn sie trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharren oder sie zu wiederholen suchen. Dem §36 Abs1 erster Satz VStG 1950 zufolge, ist jeder Festgenommene unverzüglich der nächsten sachlich zuständigen Behörde zu übergeben, oder aber, wenn der Grund der Festnehmung schon vorher entfällt, freizulassen.

Die Festnehmung einer Person durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gemäß §35 VStG 1950 setzt voraus, daß die Person "auf frischer Tat betreten wird". Das Sicherheitsorgan muß also selbst ein Verhalten unmittelbar wahrnehmen, das es zumindest vertretbarerweise als eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat qualifizieren kann (vgl. zB VfGH 17. 3. 1982 B558/80).

Der einschreitende Gendarmeriebeamte hat die Tat, derer er den Beschwerdeführer beschuldigte, selbst wahrgenommen. Er konnte zumindest vertretbarerweise annehmen, daß sich der Beschwerdeführer ihm gegenüber ungeachtet vorausgegangener Abmahnung, während er sich in rechtmäßiger Ausübung seines Amtes befand, ungestüm benommen hatte (ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950).

Bei dieser Sachlage war - da der Beschwerdeführer trotz Abmahnung in der Fortsetzung seines Verhaltens verharrte - der Festnahmegrund der litc des §35 VStG 1950 gegeben.

Der Beschwerdeführer wurde etwa eine halbe Stunde im Gendarmeriefahrzeug angehalten. Nachdem er sein Verhalten eingestellt hatte, wurde er freigelassen, also keinesfalls im Widerspruch zu §36 Abs1 erster Satz VStG 1950 übermäßig lang angehalten (vgl. hiezu VfGH 17. 3. 1982 B558/80).

Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, waren die Voraussetzungen für die Festnahme und die nachfolgende Anhaltung des Beschwerdeführers nach den §§35 und 36 VStG 1950 gegeben. Der Beschwerdeführer ist demnach durch diese Maßnahmen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt worden.

b) Unter dem Gesichtspunkt der geltend gemachten Verletzung des Art3 MRK wird der festgestellte Sachverhalt vom VfGH wie folgt beurteilt:

Aus den §§2, 4, 5, 6 Abs1 des Waffengebrauchsgesetzes ist abzuleiten, daß auch die als weniger gefährliche Maßregel eingestufte Anwendung von Körperkraft im Rahmen exekutiver Zwangsbefugnisse, die sich als Mittel zur Überwindung eines auf die Vereitelung einer rechtmäßigen Amtshandlung gerichteten Widerstandes und zur Erzwingung einer Festnahme vom Waffengebrauch selbst nur graduell unterscheidet, derselben grundsätzlichen Einschränkung wie der Waffengebrauch unterliegt, also zur Erreichung der vom Gesetz vorgesehenen Zwecke nur dann Platz greifen darf, wenn sie notwendig ist und maßhaltend vor sich geht, aber unter diesen Voraussetzungen wie der Waffengebrauch selbst keineswegs gegen Art3 MRK verstößt (vgl. zB VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8580/1979).

Der VfGH hat weiters ausgesprochen, daß nicht jede unzulässige Anwendung von Körperkraft - zwingend - auch Art3 MRK verletzt, sondern daß physische Zwangsakte gegen das im Art3 MRK statuierte Verbot "erniedrigender Behandlung" vielmehr nur dann verstoßen, wenn qualifizierend hinzutritt, daß ihnen eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zu eigen ist (vgl. zB VfSlg. 8654/1979).

Dies trifft auf den festgestellten Sachverhalt nicht zu: Gegen den Beschwerdeführer wurde Körperkraft deshalb angewendet, um die ausgesprochene Festnahme durchzusetzen, zunächst um ihn zu hindern, daß er sich entfernte, später um ihn ins Gendarmerieauto zu bringen. Das Verfahren hat nicht ergeben, daß der einschreitende Gendarmeriebeamte bei Anwendung der Körperkraft Handlungen gesetzt hätte, welche die Eignung besitzen, die Menschenwürde eines so Behandelten zu beeinträchtigen. Es erübrigte sich daher zu untersuchen, ob die festgestellten Verletzungen (s.o. II.2.) dem Beschwerdeführer überhaupt vom einschreitenden Gendarmeriebeamten zugefügt wurden.

Der Beschwerdeführer ist sohin auch nicht in dem durch Art3 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden.

c) Da die Verletzung eines anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes gleichfalls nicht stattgefunden hat und auch kein Anhaltspunkt dafür besteht, daß der Beschwerdeführer infolge Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt wurde, war die Beschwerde abzuweisen.

2. Der VfGH hat unter dem Blickwinkel des Rechtes auf persönliche Freiheit die Gesetzmäßigkeit einer Verhaftung schlechthin zu prüfen. Mit der Behauptung, in gesetzwidriger Weise festgenommen und angehalten worden zu sein, wird sohin ausschließlich die Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes geltend gemacht. Eine Abtretung der Beschwerde an den VwGH kommt also insoweit nicht in Betracht. Der darauf gerichtete Antrag des Beschwerdeführers war sohin abzuweisen (vgl. zB VfGH 17. 3. 1982 B558/80).

Die festgestellte Anwendung von Körperkraft ist jedoch möglicher Gegenstand der Überprüfung durch den VwGH. Soweit sich die Beschwerde gegen diese Gewaltanwendung richtet, war sie antragsgemäß nach Art144 Abs2 B-VG idF vor der Nov. BGBl. 350/1981 (vgl. deren ArtIV) dem VwGH abzutreten.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, Mißhandlung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1982:B332.1980

Dokumentnummer

JFT_10179389_80B00332_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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