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40 VerwaltungsverfahrenNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
AVG 1950; Verletzung der Entscheidungspflicht infolge Nichterlassung eines Aussetzungsbescheides nach §38 - Entzug des gesetzlichen RichtersSpruch
Der Bescheid wird aufgehoben.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Dem Beschwerdeführer wurde als vermutlichem Lenker eines Kraftfahrzeuges im Anschluß an einen Verkehrsunfall am 1. März 1980 der Führerschein gemäß §76 Abs1 des Kraftfahrgesetzes 1967, BGBl. 267 (KFG), vorläufig abgenommen, weil aus seinem Verhalten deutlich zu erkennen gewesen sei, daß er infolge übermäßigen Alkoholgenusses nicht mehr die volle Herrschaft über seinen Geist und seinen Körper besitze. Der einschreitende Sicherheitswachebeamte stellte über die Abnahme eine Bestätigung aus.
Mit dem bei der Bundespolizeidirektion Wien am 23. Mai 1980 eingelangten Antrag vom 22. Mai 1980 begehrte der Beschwerdeführer, den ihm "abgenommenen Führerschein ehestens auszufolgen und ein allenfalls eingeleitetes Ermittlungsverfahren einzustellen".
Da die Bundespolizeidirektion Wien über diesen Antrag bis dahin nicht entschieden hatte, richtete der Beschwerdeführer einen mit 21. April 1981 datierten Antrag an den Landeshauptmann von Wien (dort eingelangt am 29. April 1981), mit dem er gemäß §73 AVG 1950 die Entscheidung über den erwähnten Antrag durch diese Oberbehörde verlangte.
Der Landeshauptmann von Wien wies mit Bescheid vom 3. Juni 1981 dieses Begehren auf Übergang der Entscheidungspflicht gemäß §73 Abs2 AVG 1950 ab.
Dieser Bescheid wurde im wesentlichen wie folgt begründet:
"... Obwohl die Angelegenheit über die 6monatige Frist hinaus anhängig war, kann der Behörde I. Rechtsstufe kein Verschulden an der Nichtentscheidung gemacht werden, da auf Grund der Judikatur des VwGH die Verwaltungsbehörde mit ihrer Entscheidung über eine Vorfrage (diesfalls über das Vorliegen von Tatsachen iS des §66 Abs1 KFG die für die Annahme der Verkehrsunzuverlässigkeit sprechen) bis zur Erlassung einer rechtskräftigen Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörde oder eines Gerichtes zuwarten kann (§38 Abs2 AVG). Da die Verzögerung in diesem Verfahren durch das Erfordernis des Zuwartens auf die Entscheidung über die Vorfrage begründet war, da beim Bezirksgericht Floridsdorf bzw. bei der Staatsanwaltschaft Wien derzeit ein gerichtliches Strafverfahren wegen Körperverletzung anhängig ist, das noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, und dessen Ergebnis als Vorfrage für das vorliegende Lenkerberechtigungsverfahren heranzuziehen ist, ist die Verzögerung nicht ausschließlich auf ein Verschulden der Behörde I. Rechtsstufe zurückzuführen und war daher das Verlangen auf Entscheidung durch die Oberbehörde abzuweisen."
2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt wird.
3. Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.
II. Der VfGH hat erwogen:
1. Mit dem bekämpften Bescheid wird ein Devolutionsantrag abgewiesen. Ein solcher Verwaltungsakt ist ein sogenannter verfahrensrechtlicher Bescheid. Solche Bescheide, die formell ihre gesetzliche Grundlage aus dem AVG 1950 schöpfen, unterliegen nach der ständigen Rechtsprechung beider Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes (vgl. zB VfSlg. 8628/1979, S 50, und die dort enthaltenen Hinweise auf weitere Judikatur), hinsichtlich des Instanzenzuges grundsätzlich denselben Vorschriften, die für den Instanzenzug in der den Gegenstand des Verfahrens bildenden Verwaltungsangelegenheit maßgebend sind. Dies gilt bezüglich aller verfahrensrechtlichen Bescheide, für die - wie hier - der Instanzenzug nicht besonders geregelt ist.
Von dieser Regel besteht für Bescheide, mit denen Devolutionsanträge abgelehnt werden, keine Ausnahme (vgl. VfSlg. 8628/1979, S 50).
Wie sich aus §123 Abs1 KFG ergibt, ist zur Entscheidung über den Antrag, einen vorläufig abgenommenen Führerschein auszufolgen, in erster Instanz die Bezirksverwaltungsbehörde, im örtlichen Wirkungsbereich einer Bundespolizeibehörde diese, zuständig; in zweiter Instanz hat über einen derartigen Antrag der Landeshauptmann zu entscheiden; gegen seinen Bescheid ist eine Berufung nicht zulässig. Aus dem Gesagten folgt, daß auch gegen den angefochtenen Bescheid des Landeshauptmannes, mit dem ein Devolutionsantrag abgewiesen wurde, eine Berufung nicht zulässig und sohin der administrative Instanzenzug iS des Art144 Abs1 letzter Satz B-VG erschöpft ist.
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.
2. a) Der Beschwerdeführer wäre durch den bekämpften Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, dem gesetzlichen Richter nicht entzogen zu werden, verletzt worden, wenn die belangte Behörde den Antrag auf Zuständigkeitsübergang (§73 Abs2 AVG 1950) rechtswidrigerweise abgewiesen hätte (vgl. die ständige Rechtsprechung des VfGH, zB VfSlg. 8189/1977, S 366, und die dort zitierte weitere Vorjudikatur).
b) Die Bundespolizeidirektion Wien hat über den vom Beschwerdeführer gestellten Antrag nicht innerhalb der im §73 Abs1 AVG 1950 vorgesehenen Frist von sechs Monaten - die auch für die Entscheidung über einen Antrag auf Ausfolgung eines vorläufig abgenommenen Führerscheines gilt (vgl. VwGH 23. 2. 1982 Z 82/11/0047) - bescheidmäßig abgesprochen. Die belangte Behörde ist die sachlich in Betracht kommende Oberbehörde (s. die vorstehende Z1); der Devolutionsantrag wurde bei ihr eingebracht.
c) Die belangte Behörde meint, daß die Verzögerung der Entscheidung durch die Bundespolizeidirektion Wien nicht ausschließlich auf ein Verschulden dieser Behörde I. Instanz zurückzuführen sei, weil sie gemäß §38 letzter Satz AVG 1950 berechtigt gewesen sei, das Verfahren über den Antrag des Beschwerdeführers vom 22. Mai 1980 auf Ausfolgung seines vorläufig abgenommenen Führerscheines bis zur rechtskräftigen Entscheidung einer Vorfrage auszusetzen; diese Vorfrage bilde schon den Gegenstand eines beim Bezirksgericht Floridsdorf wegen des oben unter I.1. erwähnten Verkehrsunfalles gegen den Beschwerdeführer anhängigen Strafverfahrens.
d) Die Bundespolizeidirektion Wien hatte hier gemäß §75 Abs1 iVm §76 Abs3 KFG ein Ermittlungsverfahren darüber einzuleiten, ob die Voraussetzungen für die Erteilung der Lenkerberechtigung noch gegeben sind. Eine dieser Voraussetzungen ist dem §64 Abs2 KFG zufolge die Verkehrszuverlässigkeit. Wann eine Person nicht als verkehrszuverlässig anzusehen ist, ergibt sich aus §66 leg. cit. Bei Entscheidung der Frage, ob die Verkehrszuverlässigkeit (noch) gegeben ist, ist nach §66 Abs2 KFG ua. zu klären, ob die Person eine gerichtlich strafbare Handlung begangen hat.
Die Behörde hatte sohin in dem bei ihr anhängigen Führerscheinentzugsverfahren (auch) eine Frage zu beurteilen, für deren Abspruch nicht sie, sondern das Strafgericht zuständig ist, die aber für ihre Entscheidung eine notwendige Grundlage bildete und daher bei ihrer Beschlußfassung berücksichtigt werden mußte (vgl. Mannlicher - Quell, Das Verwaltungsverfahren, 8. Auflage, Anm. 1 zu §38 AVG). Bei dieser Frage handelte es sich daher um eine Vorfrage iS des §38 AVG 1950.
Diese Vorfrage war damals bereits Gegenstand eines anhängigen strafgerichtlichen Verfahrens.
Da das KFG keine von §38 AVG 1950 abweichenden Sondervorschriften enthält, hatte die Behörde die in ihr Ermessen gestellte Wahl, entweder die Vorfrage "nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen" oder aber das Verfahren auszusetzen (vgl. Mannlicher - Quell, aaO, Anm. 2 zu §38 AVG).
Die Behörde hat hier nicht in Aussicht genommen, den ersten Weg zu wählen (s. etwa S. 42 des Verwaltungsaktes: Am 18. Mai 1981 berichtete die Bundespolizeidirektion Wien dem Amt der Wiener Landesregierung, daß "das Gerichtsverfahren noch offen sei und der Ausgang bei Gericht abgewartet werde (§38 AVG)". Wenn die Behörde aber den zweiten Weg - nämlich die Aussetzung des Verfahrens gehen wollte, hätte sie die Aussetzung in Form eines anfechtbaren (s.o. II.1.) - verfahrensrechtlichen Bescheides verfügen müssen (vgl. hiezu VwSlg. 5238 A/1960). Entgegen der vom VwGH in dem - von der belangten Behörde zitierten - Erk. VwSlg. 7632 A/1969 vertretenen Meinung reicht es zur Vermeidung einer schuldhaften Verzögerung der Entscheidungspflicht der Behörde nicht aus, daß die säumige Behörde berechtigt gewesen wäre, das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung einer Vorfrage auszusetzen; vielmehr ist - wie dargetan - hiefür erforderlich, daß ein Aussetzungsbescheid erlassen wird. Wohl trifft der vom VwGH im erwähnten Erk. zur Begründung seiner Ansicht gemachte Hinweis zu, daß die Vorschriften des §38 AVG 1950 sinnlos wären, würden sie der Befristung des §73 AVG 1950 unterliegen, da der säumigen Behörde kein Einfluß auf den Zeitpunkt der Entscheidung der über die Vorfrage als Hauptfrage erkennenden Behörde zustehe. Gerade deshalb aber gebietet eine rechtsschutzfreundliche Auslegung, das Vermeiden schuldhaften Verzögerung der Entscheidungspflicht daran zu knüpfen, daß ein - bekämpfbarer - Aussetzungsbescheid erlassen wird, da nur so die Partei in die Lage kommt, sich gegen die Säumnis zu wehren.
Da ein solcher Aussetzungsbescheid hier nicht erging und sonst keine Gründe erkennbar sind, daß die Verzögerung der Entscheidung durch die Behörde erster Instanz nicht ausschließlich auf deren Verschulden zurückzuführen ist, ist die Entscheidungspflicht auf Grund des Antrages des Beschwerdeführers beim Landeshauptmann von Wien auf diesen übergegangen. Da die belangte Behörde dies verkannt hat, hat sie den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.
Der Bescheid war daher aufzuheben.
Schlagworte
Verwaltungsverfahren, Instanzenzug, Aussetzung des Verfahrens, Devolution, Bescheid verfahrensrechtlicherEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1982:B382.1981Dokumentnummer
JFT_10178988_81B00382_00