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43 WehrrechtBeachte
vgl. Kundmachung BGBl. 446/1983 am 6. September 1983; berichtigt mit BGBl. 486/1983; s. Anlaßfall VfGH v. 4. 10. 1983 B270, 271/82Leitsatz
Heeresdisziplinargesetz; §72 Abs1 Z2 litd wegen Verstoßes gegen Art7 Abs1 B-VG verfassungswidrigSpruch
§72 Abs1 Z2 litd Heeresdisziplinargesetz, BGBl. 151/1956 idF der Nov. BGBl. 369/1975 - lautend "d) der Disziplinararrest bis zu 14 Tagen" - wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Mai 1984 in Kraft.
Frühere Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Mit den im Instanzenzug - unter Beziehung auf §23 Abs3 HDG, BGBl. 151/1956 - ergangenen Bescheiden des Militärkommandanten von Wien vom 30. März 1982, Z 8783-3170/77/82 und Z 8784-3170/77/82, wurden die Grundwehrdiener und Gefreiten C. T. und Mag. J. B. jeweils wegen eines Dienstvergehens nach §2 Abs1 HDG gemäß §77 Abs1 iVm §72 Abs1 HDG zur Strafe des Disziplinararrestes in der Dauer von zwei bzw. drei Tagen verurteilt.
1.1.2. Gegen diese zu 1.1.1. bezeichneten Berufungsbescheide richteten sich auf Art144 Abs1 B-VG gestützte - gemeinsam ausgeführte - Beschwerden der jeweiligen Bescheidadressaten an den VfGH (B270, 271/82), in denen die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 Abs1 B-VG, Art2 StGG), auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG), auf Versammlungsfreiheit (Art12 StGG) und auf Pressefreiheit (Art13 StGG) sowie die Verletzung der Art5 und 6 MRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide, ferner hilfsweise gemäß Art144 Abs2 (gemeint: Abs3) B-VG die Abtretung der Beschwerden an den VwGH beantragt wurde.
1.2.1. Im Zuge der verfassungsgerichtlichen Beratung über diese Beschwerden entstanden Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des §72 Abs1 Z2 litd Heeresdisziplinargesetz (HDG), BGBl. 151/1956 idF der Nov. BGBl. 369/1975 lautend "d) der Disziplinararrest bis zu 14 Tagen".
1.2.2.1. Der VfGH faßte daraufhin (am 15. Dezember 1982) zu B270, 271/82 den Beschluß, diese im §72 HDG enthaltene Wortfolge auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.
1.2.2.2. In der Begründung des Prüfungsbeschlusses heißt es ua. wörtlich:
"... die - Präsenzdienst leistende Heeresangehörige betreffende - Bestimmung des §72 HDG idF der Nov. BGBl. 369/1975 (sieht) für gleiche Dienstvergehen (§2 Abs1 HDG) ua. die - vorliegend verhängte - Disziplinarstrafe des Disziplinararrestes bis zu vierzehn Tagen (di. die Verschließung des Bestraften in einem Haftraum während der ganzen Strafdauer §76 Abs2 HDG), mithin eine freiheitsentziehende Maßnahme (§72 Abs1 Z2 litd HDG) vor, wenn es sich beim Täter (nur) um eine sogenannte 'Charge' handelt, hingegen der Art nach offenbar gelindere, weil durchwegs nicht freiheitsentziehende Disziplinarstrafen (§72 Abs1 Z1 lita bis d HDG), wenn der Täter der Gruppe der hierarchisch jedenfalls höherstehenden Offiziere oder Unteroffiziere zuzuzählen ist.
Der VfGH vermag vorerst keinerlei stichhaltigen Gründe zu erkennen, die derartige - anscheinend auch vergleichbaren europäischen Rechtsordnungen fremde - unterschiedliche Strafdrohungen für gleiche Disziplinarvergehen je nach Dienstgrad der Betroffenen - und zwar eine Bevorzugung der Offiziere und Unteroffiziere - rechtfertigen könnten, zumal das höhere Maß an Verantwortung, das diese Heeresangehörigen - im allgemeinen - tragen, grundsätzlich eher gegen die sich aus §72 HDG anscheinend ergebende verminderte (iS von mildere) disziplinarrechtliche Behandlung spricht.
Insoweit bestehen daher aus den dargelegten Erwägungen Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Regelung des §72 Abs1 Z2 litd HDG idF BGBl. 369/1975 unter dem Blickwinkel des Art7 Abs1 B-VG (s. zB VfSlg. 7331/1974 ua.)."
1.2.3. Die Bundesregierung gab im Gesetzesprüfungsverfahren eine Äußerung ab, verteidigte darin die Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Gesetzesbestimmung, stellte abschließend den Antrag, der VfGH wolle den §72 Abs1 Z2 litd HDG nicht als verfassungswidrig aufheben, und begehrte in eventu, es möge gemäß Art140 Abs5 B-VG für die Aufhebung eine Frist von einem Jahr gesetzt und von einem Ausspruch gemäß Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG abgesehen werden.
In dieser Äußerung brachte die Bundesregierung ua. vor:
"Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Urteil vom 8. Juni 1976 im Fall ENGEL (vgl. hiezu Europäische Grundrechtezeitung 3. Jg., Heft 12, 1976) festgestellt, daß 'die in den Streitkräften herrschende hierarchische Ordnung Unterscheidungen nach Rängen zur Folge hat. Den unterschiedlichen Dienstgraden entsprechen unterschiedliche Verantwortlichkeiten, die ihrerseits bestimmte Ungleichbehandlungen in Disziplinarsachen rechtfertigen. Solche Ungleichbehandlungen finden sich herkömmlicherweise in den Vertragsstaaten und das humanitäre Völkerrecht duldet sie'.
Weiters weist die Bundesregierung darauf hin, daß die Genfer Konvention über die Behandlung der Kriegsgefangenen, BGBl. 155/1953, vielfach Bestimmungen enthält, die auf den Dienstgrad Bezug nehmen und eine differenzierte Behandlung der Kriegsgefangenen vorsehen bzw. Regelungen enthalten, die eine übereinstimmende Behandlung Kriegsgefangener des gleichen Dienstgrades sicherstellen sollen. (Vgl. die Artikel 16, 17, 39, 43, 44, 45, 49, 60, 88, 89 und 97 der Konvention.) Als für das gegenständliche Gesetzesprüfungsverfahren von besonderer Bedeutung erscheinen die Regelungen über die Straf- und Disziplinarmaßnahmen (Art88, 89 und 97).
Demnach darf zB von den für Kriegsgefangene vorgesehenen Disziplinarstrafen die Strafe des Arbeitsdienstes auf Offiziere nicht angewendet werden.
Die Beurteilung der Frage, ob alle Disziplinarmaßnahmen unterschiedslos gegen jeden Soldaten, gleich welcher Dienststellung und welchen Dienstgrades verhängt werden dürfen, führt beim Vergleich mit Regelungen in anderen Staaten zu unterschiedlichen Ergebnissen. ...
Die im §72 des Heeresdisziplinargesetzes (HDG) angeführten Arten der Disziplinarstrafen können über Heeresangehörige, die Präsenzdienst leisten (§1 Abs3 Z1 Wehrgesetz 1978), verhängt werden. Die im Abs1 Z1 des §72 HDG angeführten Disziplinarstrafen werden über Offiziere und Unteroffiziere verhängt. Für Chargen und Wehrmänner sind die Disziplinarstrafen im Abs1 Z2 leg. cit. aufgezählt. Die für Chargen und Wehrmänner vorgesehenen Strafen sind ua. freiheitsbeschränkende und freiheitsentziehende Maßnahmen.
Eines der im §72 HDG für die unterschiedliche Regelung angeführten Kriterien ist der Dienstgrad. Dabei handelt es sich nach Auffassung der Bundesregierung um ein objektives Element, das aus nachstehenden Erwägungen als ein sachliches Unterscheidungsmerkmal geeignet ist.
Zweck des Heeresdisziplinargesetzes ist es, die Disziplin mit Mitteln zu wahren, die den einzelnen Kategorien von Soldaten angepaßt sind. Die Lebensumstände der einzelnen Kategorien weisen in bestimmten Beziehungen erhebliche Unterschiede auf, die auch in den Allgemeinen Dienstvorschriften für das Bundesheer (ADV), BGBl. 43/1979, ihren Niederschlag finden. So dürfen gemäß §30 Abs5 Z2 ADV Offiziere und Unteroffiziere, die Präsenzdienst leisten, bis zum Dienstbeginn über den Zapfenstreich ausbleiben. Chargen und Wehrmänner haben grundsätzlich spätestens zum Zapfenstreich (24.00 Uhr) in der Unterkunft einzutreffen (§30 Abs3 ADV). Aus dieser Regelung ist zu ersehen, daß Chargen und Wehrmänner in wesentlich stärkerem Maße in das militärische Leben eingebunden sind als Offiziere und Unteroffiziere, die nach Dienst die Kaserne verlassen und erst bei Dienstbeginn wieder in der Unterkunft zu sein haben.
Wenn bei Offizieren und Unteroffizieren keine freiheitsbeschränkenden und freiheitsentziehenden Strafen vorgesehen sind, läßt dies nicht den Schluß zu, daß sich daraus eine 'verminderte disziplinarrechtliche Behandlung' ergibt. Für Offiziere und Unteroffiziere einerseits und Chargen anderseits sind als strengste Disziplinarstrafen die Ausschließung von der Beförderung und die Degradierung vorgesehen. Für beide Personengruppen sieht der jeweils für sie geltende Strafkatalog als die zwei strengsten Disziplinarstrafen gleiche Strafen vor. Diesen zwei Strafen sind bei der Gruppe der Offiziere und Unteroffiziere zwei, bei den Chargen hingegen vier mildere Disziplinarstrafen vorgestuft. Dies bedeutet, daß über Angehörige der erstgenannten Gruppe - da es nur vier Strafarten gibt - viel eher eine der zwei strengsten Disziplinarstrafen verhängt wird, als dies bei Chargen (wegen der größeren Zahl der Strafarten) der Fall ist. Aus dem Bestehen dieser unterschiedlichen Strafarten für Offiziere und Unteroffiziere einerseits und Chargen und Wehrmänner anderseits ergibt sich der Schluß, daß auf Dienstvergehen von Offizieren und Unteroffizieren ein strengerer Maßstab angelegt wird. Dies entspricht auch dem höheren Maß an Verantwortung, das diese Soldaten im allgemeinen tragen. ..."
1.3. Die mit "Arten der Disziplinarstrafen" überschriebene Vorschrift des §72 HDG idF der Nov. BGBl. 369/1975 hat folgenden Wortlaut:
"(1) Disziplinarstrafen, die über Präsenzdienst leistende Heeresangehörige verhängt werden können, sind
1. bei Offizieren und Unteroffizieren
a) der Verweis,
b) die Geldbuße,
c) die Ausschließung von der Beförderung,
d) die Degradierung;
2. bei Chargen
a) die Ausgangsbeschränkung von sieben bis zu 14 aufeinanderfolgenden Tagen,
b) das Ausgangsverbot von sieben bis zu 14 aufeinanderfolgenden Tagen,
c) die Disziplinarhaft bis zu 14 Tagen,
d) der Disziplinararrest bis zu 14 Tagen,
e) die Ausschließung von der Beförderung,
f) die Degradierung;
3. bei Wehrmännern die in Z2 genannten Disziplinarstrafen, ausgenommen die Degradierung."
2. Der VfGH hat erwogen:
2.1. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig.
Die in Prüfung stehende Gesetzesbestimmung bildet eine der Rechtsgrundlagen der angefochtenen - keinem weiteren Rechtszug unterliegenden (s. VfSlg. 7156/1973; VwSlg. 8862 A/1975) - Berufungsbescheide; sie ist demnach auch bei Fällung des Erk. über die von den beiden Beschwerdeführern ergriffenen Beschwerden gemäß Art144 Abs1 B-VG anzuwenden und somit in diesen Beschwerdesachen präjudiziell iS des Art140 Abs1 Satz 1 B-VG.
2.2. Die Bedenken des VfGH sind aber auch begründet.
2.2.1. Der VfGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß es der Gleichheitsgrundsatz des Art7 Abs1 B-VG (Art2 StGG) dem Gesetzgeber verbietet, Gleiches ungleich zu behandeln, ihm also die Schaffung solcher Differenzierungen verwehrt, die nicht sachlich begründet sind (zB VfSlg. 4916/1965, 5727/1968, 7135/1973, 8457/1978). Die Bundesregierung erblickt hier ein zulässiges sachliches Unterscheidungsmerkmal im jeweiligen Dienstgrad der Heeresangehörigen, weil der Zweck des HDG mit Mitteln gewahrt werden müsse, die den einzelnen Kategorien von Soldaten angepaßt seien.
2.2.2. Entscheidend für den vorliegenden Fall ist indessen nicht die damit (2.2.1.) von der Bundesregierung in erster Linie hervorgekehrte und auch an Hand von Beispielen aus fremden Rechtsordnungen näher erörterte Frage allgemeiner Art, ob es nämlich das verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot erfordere, daß alle Disziplinarmaßnahmen unterschiedslos gegen jeden Soldaten, gleich welcher Dienststellung und welchen Dienstgrades, verhängt werden dürfen. Wohl ist die jeweilige dienstliche Position der vom Disziplinarrecht erfaßten Militärpersonen an sich ein objektives Element, das bei Schaffung und Ausgestaltung eines Katalogs von Disziplinarstrafen nach Lage der Verhältnisse als sachliches Unterscheidungskriterium durchaus geeignet sein mag. Doch gilt diese Aussage nur grundsätzlich, keinesfalls jedoch für den konkreten Regelungsfall spezifisch freiheitsentziehender und deshalb graduell besonders einschneidender (Disziplinar-)Strafen, um den allein es hier geht: Denn solche Maßregeln lassen sich, als Sanktionen für gleiches Fehlverhalten gedacht, schon wegen der besonderen Bedeutung des Rechtsgutes der persönlichen Freiheit für jedermann und der Schwere der Strafdrohung nicht mit sachlichem Grund auf jenen Teil der Heeresangehörigen (Chargen, Wehrmänner) beschränken, der regelmäßig geringere Verantwortung trägt als die Gruppe der diesen gesteigerten schweren Strafdrohungen nicht unterliegenden Offiziere und Unteroffiziere (s. dazu: §§2, 2a HDG). So gesehen, kann darum die in Prüfung gezogene gesetzliche Strafbestimmung nicht gerechtfertigterweise von der Dienststellung oder vom Dienstgrad des Strafunterworfenen abhängen, wollte man nicht der Auffassung anhängen, eine freiheitsentziehende Maßnahme als Disziplinarsanktion sei für Chargen und Wehrmänner ungeachtet des im allgemeinen kleineren Verantwortungsbereiches und Pflichtenkreises nur wegen der hierarchischen Einordnung dieser Betroffenen in das Heeresgefüge angepaßter als für - höherstehende - Offiziere und Unteroffiziere, denen eine gleichwertige Disziplinarverfehlung zur Last fällt.
2.2.3. Zusammenfassend ergibt sich, daß die in Prüfung stehende gesetzliche Regelung weder aus den von der Bundesregierung geltend gemachten Gründen noch, wie beizufügen bleibt, aus anderen Erwägungen sachlich gerechtfertigt ist; sie war darum wegen Verstoßes gegen Art7 Abs1 B-VG aufzuheben.
2.3. Die Aussprüche über das Inkrafttreten der Aufhebung und die Kundmachungspflicht stützen sich auf Art140 Abs5, der frühere gesetzliche Bestimmungen betreffende Ausspruch auf Art140 Abs6 B-VG.
Schlagworte
Disziplinarrecht Heer, Heeresdisziplinarrecht, Militärdienst, MilitärrechtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1983:G1.1983Dokumentnummer
JFT_10169379_83G00001_00