Index
10 VerfassungsrechtNorm
StGG Art8Leitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; gesetzwidrige (fortdauernde) Anhaltung nach Zustellung einer Ausfertigung des Beschlusses des VwGH über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gemäß §30 Abs2 VwGG 1965 betreffend die Verhängung einer PrimärarreststrafeSpruch
Die Beschwerdeführerin ist am 13. Oktober 1982 in Wels, OÖ, dadurch, daß sie in der Zeit von kurz nach 12 Uhr 30 bis 17 Uhr 45 im dortigen Polizeigefangenenhaus in Verwaltungsstrafhaft belassen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck vom 2. August 1982, Z San RB 96-1510-1982, wurden über J. S. wegen der Übertretung nach den §§1 und 7 der Verordnung des Bundesministers für Gesundheit und Umweltschutz vom 9. Mai 1974 über die gesundheitliche Überwachung von Personen, die mit ihrem Körper gewerbsmäßig Unzucht treiben, BGBl. 314/1974, gemäß §12 Abs2 Geschlechtskrankheitengesetz, StGBl. 152/1945, idgF eine Geldstrafe von tausend Schilling (im Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzarreststrafe von zehn Tagen) sowie eine (Primär-)Arreststrafe von vierzehn Tagen verhängt.
1.1.2. In einem an die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck gerichteten Schriftsatz vom 28. September 1982 beantragte J. S. unter anderem, die Vollziehung dieser (Primär-)Freiheitsstrafe bis zur rechtskräftigen Erledigung ihres zugleich gestellten Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist bzw. bis zur Entscheidung über ihr gleichzeitig gegen das Straferkenntnis vom 2. August 1982 erhobenes Rechtsmittel der Berufung aufzuschieben.
1.1.3. Die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck - die dem Wiedereinsetzungsantrag, ohne ihm aufschiebende Wirkung iS des §71 Abs6 AVG 1950 beizulegen, mit Bescheid vom 30. September 1982, Z San RB 96-1510-1982 (bestätigt mit Bescheid des Landeshauptmannes von OÖ vom 27. Oktober 1982, Z San RB-475/1-1982-Hau/Gr), gemäß §71 Abs1 lita, 2 und 4 AVG 1950 iVm §24 VStG 1950 keine Folge gab - ließ J. S. nach erfolgloser Aufforderung zum Antritt der Primärfreiheitsstrafe beim polizeilichen Gefangenenhaus in Wels zwangsweise vorführen (Strafvollzugsbeginn: 29. September 1982, 17 Uhr 45) und wies mit Bescheid vom 1. Oktober 1982, Z San RB 96-1510-1982, den Antrag auf Gewährung eines "Strafaufschubes" vom 28. September 1982 als unbegründet ab.
1.1.4.1. Gegen diesen Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck ergriff J. S. eine auf Art131 B-VG gestützte und mit einem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung verbundene Beschwerde an den VwGH, der diesem (Aufschiebungs-)Antrag mit Beschluß vom 12. Oktober 1982, Z 82/11/0262, gemäß §30 Abs2 VwGG 1965 stattgab.
1.1.4.2. Begründend führte der VwGH ua. aus:
"Gemäß §30 Abs2 VwGG 1965 igF hat der VwGH auf Antrag des Beschwerdeführers die aufschiebende Wirkung mit Beschluß zuzuerkennen, insoweit dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung aller berührten Interessen mit dem Vollzug oder mit der Ausübung der mit Bescheid eingeräumten Berechtigung durch einen Dritten für den Beschwerdeführer ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.
Vollziehbar iS des §30 Abs2 VwGG 1965 sind nach der Rechtsprechung des VwGH (vgl. ua. die Beschlüsse vom 18. Jänner 1978, VwSlg. 9474/A, vom 16. September 1980, Z 1408/80, und vom 17. Februar 1981, Z 81/11/0010) jene Bescheide, die
1. unmittelbar der Zwangsvollstreckung unterliegen (wobei unter Zwangsvollstreckung alle behördlichen Maßnahmen zu verstehen sind, die darauf abzielen, den Bescheidanspruch unmittelbar zu verwirklichen) oder
2. für einen möglicherweise in jenem Vollziehungsbereich, in dem die belangte Behörde tätig gewesen ist, nachfolgenden Vollzugsakt, der entweder unmittelbar oder in weiterer Folge zwangsvollstreckbar ist, verbindlich sind.
In seinem Beschluß eines verstärkten Senates vom 25. Februar 1981, Z 03/2680/80, hat der VwGH darüber hinaus ausgesprochen, unter Vollzug iS des §30 Abs2 VwGG sei (ganz allgemein) die Umsetzung eines Bescheides in die Wirklichkeit, und zwar sowohl iS der Herstellung der dem Bescheidinhalt entsprechenden materiellen Rechtslage als auch iS der Herstellung des dieser Rechtslage entsprechenden faktischen Zustandes zu verstehen, da von den Folgen einer solchen Umsetzung des angefochtenen Bescheides in die Wirklichkeit die Gefahr einer Aushöhlung der Rechtsschutzfunktion der Bescheidprüfung durch den VwGH drohe.
Geht man davon aus, dann liegt im Beschwerdefall ein vollziehbarer Bescheid iS des §30 Abs2 VwGG 1965 vor. Die Umsetzung des angefochtenen Bescheides in die Wirklichkeit iS des zuletzt zitierten Beschlusses liegt darin, daß die über die Beschwerdeführerin verhängte Arreststrafe zufolge der Abweisung des Antrages auf Strafaufschub nunmehr vollzogen wird, was nach Behauptung der Beschwerdeführerin ja tatsächlich derzeit geschieht. Darüber hinaus war iS der erstzitierten Rechtsprechung der Bescheid, mit dem der Antrag auf Strafaufschub abgewiesen wurde, für den nachfolgenden Vollzugsakt der belangten Behörde - nämlich für die Vollstreckung der Arreststrafe - verbindlich.
Es sind daher die Voraussetzungen für die beantragte Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung im Lichte der Bestimmungen des §30 Abs2 VwGG zu prüfen, wobei ... festzuhalten ist, daß sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Strafaufschub ausdrücklich nur auf die verhängte (Primär-)Arreststrafe bezieht; dasselbe gilt daher auch für den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.
Daß im vorliegenden Fall zwingende öffentliche Interessen der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung entgegenstünden, vermag der VwGH auch unter Bedachtnahme auf die Begründung des bekämpften Bescheides nicht zu erkennen. Dagegen liegt es - wieder Gerichtshof schon wiederholt ausgesprochen hat - grundsätzlich schon wegen der mit der Vollstreckung von Arreststrafen notwendigerweise verbundenen, einer Rückgängigmachung nicht mehr zugänglichen Freiheitsbeschränkung auf der Hand, daß der Vollzug solcher Strafen für den davon unmittelbar Betroffenen mit einem unverhältnismäßigen Nachteil verbunden wäre. Auch der Umstand, daß mit dem Vollzug der Arreststrafe bereits begonnen wurde, steht der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nicht entgegen, weil im Zeitpunkt dieser Entscheidung die Strafe noch nicht verbüßt ist.
Daher war dem Aufschiebungsantrag zu entsprechen."
1.1.5. Eine Ausfertigung dieses Beschlusses des VwGH ging am 13. Oktober 1982 vormittags dem Rechtsvertreter der J. S. zu, der daraufhin die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck in einem - dort um 11 Uhr 30 eingelangten - Telex unter Hinweis auf die erflossene Entscheidung des VwGH zur sofortigen Enthaftung seiner Mandantin, nötigenfalls nach Rückfrage beim VwGH aufforderte. Außerdem legte der Rechtsvertreter die ihm zugestellte Beschlußausfertigung einem Konzeptsbeamten der Bundespolizeidirektion Wels vor, in deren Gefangenenhaus der Strafvollzug stattfand (s. Punkt 1.1.3.). Dieser Beamte fragte sogleich (13. Okober 1982, kurz vor 12 Uhr) mit Beziehung auf die ihm vorgewiesene Ausfertigung des Beschlusses des VwGH beim zuständigen Referenten der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck telefonisch an, ob der noch bis 17 Uhr 45 dieses Tages dauernde Strafvollzug sistiert werden solle. Diese Frage wurde mit der Begründung verneint, daß der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck bisher noch keine Ausfertigung der Entscheidung des VwGH vom 12. Oktober 1982 zugekommen sei.
Kurz danach (12 Uhr 30 - s. Eingangsvermerk auf dem entsprechenden Briefumschlag) wurde der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck die für sie bestimmte Ausfertigung des Beschlusses des VwGH postamtlich zugestellt. Dieses Geschäftsstück wurde, da die Dienstzeit bereits um 12 Uhr 30 endete, aber erst am nächsten Tag, dem 14. Oktober 1982 eröffnet. Eine anschließende telefonische Anfrage der Bezirkshauptmannschaft beim polizeilichen Gefangenenhaus Wels ergab dann, daß J. S. schon am Vortag (13. Oktober 1982) um 17 Uhr 45 - nach vollständiger Strafverbüßung - aus der Haft entlassen worden war.
1.2.1. J. S. begehrt in ihrer auf Art144 Abs1 B-VG gegründeten Beschwerde an den VfGH - sinngemäß die kostenpflichtige Feststellung, daß sie durch ihre (fortdauernde) Anhaltung in Verwaltungsstrafhaft auch nach Zustellung des Beschlusses des VwGH vom 12. Oktober 1982, Z 82/11/0262, an die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck am 13. Oktober 1982, 12 Uhr 30, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Person (Art8 StGG) verletzt worden sei.
1.2.2. Die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck als belangte Behörde erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und beantragte darin eine Abweisung der Beschwerde.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für eine Festnehmung und anschließende Verwahrung zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976).
2.1.2. Da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.
2.2.1. Art8 StGG gewährt iVm dem Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, im Hinblick auf Art149 B-VG verfassungsgesetzlichen Schutz gegen willkürliche, das heißt gesetzwidrige Verhaftung und Haftanhaltung (VfSlg. 3315/1958, 8816/1980). Hätte die Behörde hier also die (Verwaltungsstraf-)Haft über den 13. Oktober 1982, 12 Uhr 30, hinaus gesetzwidrigerweise ausgedehnt, wäre die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG) verletzt worden (vgl. VfSlg. 6439/1971, 8297/1978).
2.2.2.1. Wird vom VwGH einer Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt, hat die Behörde gemäß §30 Abs3 VwGG 1965 (zumindest) nach Zustellung des entsprechenden Beschlusses den "Vollzug" des angefochtenen Verwaltungsaktes "aufzuschieben". Wie bereits der VwGH in der Begründung seines Beschlusses vom 12. Oktober 1982, Z 82/11/0262, zum Ausdruck brachte, ist vorliegend unter diesem - behördlich aufzuschiebenden - "Vollzug" die Vollstreckung der mit Straferkenntnis vom 2. August 1982 verhängten Freiheitsstrafe, und zwar die Einleitung der Strafvollstreckung oder - da das Gesetz eine Strafunterbrechung nicht verbietet - die Fortsetzung der bereits im Gange befindlichen Vollstreckung, zu verstehen. Denn die Regelung des §30 Abs2 und 3 VwGG 1965 bedeutet, daß der angefochtene Bescheid, wenn der VwGH aufschiebende Wirkung gewährt, vorläufig keine Rechtswirkungen zu äußern vermag und alle der Bescheidverwirklichung dienenden Maßnahmen - hier: die Fortsetzung der Strafvollstreckung, für die der einen "Strafaufschub" ablehnende Bescheid jedenfalls verbindlich ist - unterbleiben müssen (s. dazu auch VfSlg. 7433/1974, 8348/1978); daran ändert auch nichts, daß das Gesetz einem Antrag auf Strafaufschub selbst - ob der Antrag vom 28. September 1982 wirklich nach §53 Abs2 VStG 1950 oder aber nach §71 Abs6 AVG 1950 iVm §24 VStG 1950 zu beurteilen ist, kann unerörtert bleiben - keine aufschiebende Wirkung beilegt.
2.2.2.2. Angesichts dieser Rechtslage wäre die belangte Behörde kraft §30 Abs3 VwGG 1965 (zumindest) sogleich nach Zustellung einer Ausfertigung des Zuerkennungsbescheides am 13. Oktober 1982, 12 Uhr 30, zur Sistierung der weiteren (Freiheits-)Strafvollstreckung verpflichtet gewesen. Keinesfalls durfte sie, auch wenn die Haftzeit am 13. Oktober 1982 bereits nachmittags endete, mit der Veranlassung der erforderlichen Verfügungen iS des §30 Abs3 VwGG 1965 (Enthaftungsauftrag) bis zum nächsten Tag zuwarten, zumal sie von der Bundespolizeidirektion Wels und dem Rechtsvertreter der Bestraften schon im Laufe des Vormittags des 13. Oktober 1982 auf die - ihr bis dahin noch nicht zugestellte - Entscheidung des VwGH besonders hingewiesen worden war, sodaß angesichts der mit Grund noch für denselben Tag zu erwartenden Beschlußzustellung entsprechende, gegebenenfalls eine sofortige Enthaftung sichernde Vorkehrungen geboten schienen: Versäumnisse in dieser Richtung gehen zu Lasten der Behörde, sie können nicht der Beschwerdeführerin zum Nachteil gereichen.
2.2.3. Daraus folgt, daß die Beschwerdeführerin (zumindest) in der Zeit kurz nach Zustellung dieser (Beschluß-)Ausfertigung an die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck am 13. Oktober 1982 gesetzwidrig in Haft belassen und dadurch in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG) verletzt wurde.
Aus diesen Erwägungen mußte spruchgemäß entschieden werden.
Schlagworte
Verwaltungsgerichtshof, Wirkung aufschiebende, Bindung (der Verwaltungsbehörden an VwGH), Ausübung unmittelbarer Befehls- und ZwangsgewaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1983:B535.1982Dokumentnummer
JFT_10169376_82B00535_00