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60 ArbeitsrechtNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Arbeitsverfassungsgesetz; Zuständigkeit des Einigungsamtes zur Entscheidung über Streitigkeiten über das Beschränkungsverbot des §115 Abs3 (hier: eine Versetzung); Entzug des gesetzlichen RichtersSpruch
Der Bescheid wird aufgehoben.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Die Beschwerdeführer waren als Angestellte der Semperit Aktiengesellschaft in deren Wr. Betrieb beschäftigt und zu Mitgliedern des Angestelltenbetriebsrates gewählt worden, der sich am 19. Oktober 1978 konstituiert hatte. Am 19. Dezember 1979 wurden sie zusammen mit anderen Arbeitnehmern (darunter zwei weitere Betriebsratsmitgliedern) in den Betrieb Traiskirchen versetzt. Der Betriebsrat hatte dieser Maßnahme zugestimmt und mit dem Betriebsinhaber eine Vereinbarung über die Ausübung der Mandate der versetzten Betriebsratsmitglieder getroffen. Die Beschwerdeführer haben dieser Vorgangsweise aber nicht zugestimmt und beim Einigungsamt Wien beantragt, ihre Versetzung als rechtsunwirksam zu erklären. Diesen Antrag wies das Einigungsamt mit Bescheid vom 4. März 1980 zurück. Die Antragsteller seien nach der Rechtsprechung des VfGH (ArbSlg. 5390 - VfSlg. 2303/1952) zur Anrufung des Einigungsamtes nicht legitimiert. Andernfalls würde man einer Minderheit im Betriebsrat die Möglichkeit eröffnen, durch ständige Bekämpfung der von der Mehrheit getroffenen Entscheidungen den Betriebsrat gleichsam lahmzulegen, und auch der Betriebsinhaber könne nicht mehr darauf vertrauen, daß es bei einer vom Betriebsrat getroffenen Entscheidung verbleibe.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter gerügt wird.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen. Die Antragsgegnerin im Verwaltungsverfahren hat als Beteiligte eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
1. Gegen Entscheidungen der Einigungsämter ist eine Berufung nicht zulässig (§152 Abs2 ArbVG). Der Instanzenzug ist daher erschöpft (vgl. VfSlg. 8135/1977). Auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen sind gegeben.
2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde unter anderem verletzt, wenn die Behörde in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (vgl. zB VfSlg. 8828/1980).
Die Zuständigkeit des Einigungsamtes ist in §157 ArbVG geregelt. Unter der Rubrik "Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten aus der Betriebsverfassung" heißt es hier unter anderem:
"(1) Die Einigungsämter haben über Antrag eines hiezu Berechtigten einen Ausgleich anzubahnen und, wenn erforderlich, eine Entscheidung zu fällen in Streitigkeiten
1. ...
2. über die Bestellung und die Geschäftsführung sowie die Beendigung der Funktion der Organe der Arbeitnehmerschaft;
3. über die Mitgliedschaft zu den Organen und die Rechtsstellung der Mitglieder der Organe der Arbeitnehmerschaft;
4. ..."
Die Betriebsräte der Arbeiter und der Angestellten sind Organe der Arbeitnehmerschaft (§40 Abs2 Z4 ArbVG). Die Mitgliedschaft zum Betriebsrat erlischt, wenn das Mitglied aus dem Betrieb ausscheidet (§64 Abs1 Z3 ArbVG). Die Mitglieder des Betriebsrates dürfen in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht beschränkt (und wegen dieser, insbesondere hinsichtlich des Entgelts und der Aufstiegsmöglichkeiten, nicht benachteiligt) werden (§115 Abs3 ArbVG). Es ist offenkundig, daß durch einschneidende Änderungen der Verwendung im Unternehmen, zumal durch eine Versetzung aus einem Betrieb in einen anderen, eine Beschränkung der Ausübung der Tätigkeit eines Betriebsratsmitgliedes eintreten kann. Streitigkeiten über das Beschränkungsverbot (§115 Abs3) betreffen aber die Ausübung des Betriebsratsamtes, sind daher Streitigkeiten über die Rechtstellung der Mitglieder der Organe der Arbeitnehmerschaft (in dieser ihrer Eigenschaft) und haben betriebsverfassungsrechtlichen Charakter. Zur Entscheidung über derartige Streitigkeiten - und zwar auch für Feststellungsbegehren - sind nach §157 Abs1 Z3 die Einigungsämter zuständig (Floretta im ArbVG - Handkommentar, 1975, 775). Ob gleiches gilt, wenn es nur um die Auswirkungen des Benachteiligungsverbotes auf das Arbeitsverhältnis als solches geht, kann hier dahinstehen.
Der belangten Behörde ist einzuräumen, daß der VfGH im Erk. VfSlg. 2303/1952 - und ihm folgend in VfSlg. 5456/1967 - die Zuständigkeitsbestimmung des §26 lita BetriebsräteG 1947 ("Streitigkeiten aus der Geschäftsführung der Organe der Betriebsvertretung") dahin ausgelegt hat, daß nicht das einzelne Betriebsratsmitglied, sondern nur der Betriebsrat in seiner Gesamtheit das Einigungsamt anrufen könne, das Mitglied hingegen die Sache nur vor das Kollegium des Betriebsrates bringen könne. Eine neuerliche Stellungnahme zu dieser Frage erübrigt sich jedoch. Denn der Wortlaut des nunmehr maßgeblichen §157 Abs1 ArbVG enthält keinen Anhaltspunkt für die Annahme, daß Streitigkeiten zwischen den betroffenen Betriebsratsmitgliedern und dem Arbeitgeber von der Zuständigkeit des Einigungsamtes ausgeschlossen sein sollen. Er legt vielmehr nahe, daß gegebenenfalls auch individuelle Konflikte erfaßt sein sollen und das Mitglied des Organs der Arbeitnehmerschaft daher in dem seine (persönliche) Rechtsstellung (in dieser Eigenschaft) betreffenden Streit (§157 Abs1 Z3 ArbVG) Parteistellung hat und antragslegitimiert ist (vgl. Floretta im ArbVG - Handkommentar 229, 77 f.; und Strasser ebenda 1003). Nichts spricht dafür, daß die dem Betriebsratsmitglied in §115 Abs3 ArbVG eingeräumte Rechtsstellung durch Zustimmung des Betriebsrates zu einer Versetzung zu einer Frage bloß interner Meinungsverschiedenheiten wird, die durch Abstimmung bereinigt wäre (vgl. auch VfGH B610/81 vom März 1983). Daß die detaillierte Regelung des Kündigungs- und Entlassungsschutzes der Betriebsratsmitglieder (§§120 ff. ArbVG) dem - dort gar nicht als Antragsteller auftretenden - Mitglied ausdrücklich Parteistellung im Verfahren vor dem Einigungsamt einräumt (§120 Abs2), rechtfertigt einen Gegenschluß für das in verfahrensrechtlicher Hinsicht ohne jede nähere Regelung gebliebene Beschränkungsverbot nicht.
Die Beschwerdeführer waren somit legitimiert, das Einigungsamt zur Entscheidung über ihren Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit der Versetzung anzurufen. Durch die Zurückweisung ihres Antrages hat die Behörde den Beschwerdeführern die Sachentscheidung zu Unrecht verweigert und sie im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.
Der Bescheid ist daher aufzuheben.
Schlagworte
Arbeitsverfassung / Behörden u Verfahren, Arbeitsverfassung, BetriebsratEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1983:B188.1980Dokumentnummer
JFT_10169298_80B00188_00