TE Vfgh Erkenntnis 2006/6/19 B3378/05

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Veröffentlicht am 19.06.2006
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Index

L7 Wirtschaftsrecht
L7200 Beschaffung, Vergabe

Norm

B-VG Art83 Abs2
Richtlinie des Rates vom 21.12.89. 89/665/EWG, zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentl Liefer- und Bauaufträge (Rechtsmittelrichtlinie)
Wr VergaberechtsschutzG §11, §13

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch die im Gesetz nicht vorgesehene Nichtigerklärung des Widerrufs einer Ausschreibung im Unterschwellenbereich; Zuständigkeit der Vergabekontrollbehörden ausschließlich nach nationalem, nicht nach Gemeinschaftsrecht zu beurteilen; keine Bedenken gegen die Beschränkung des Rechtsschutzes im Unterschwellenbereich im Wiener Vergaberechtsschutzgesetz auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit und Schadenersatz

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Wien ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit € 2.340,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Stadt Wien - Wiener Wohnen als Unternehmung iSd §71 der Wiener Stadtverfassung schrieb zur Erbringung verschiedener Arbeiten in ihren Wohnhausanlagen insgesamt neun Rahmenverträge jeweils separat im Wege eines offenen Verfahrens im Unterschwellenbereich aus. Die Ausschreibungsbedingungen in diesen Vergabeverfahren waren im Wesentlichen identisch.

Nachdem der Vergabekontrollsenat des Landes Wien (im Folgenden: VKS) am 14. Juni 2005 eine dieser Ausschreibungen, nämlich jene betreffend Spenglerarbeiten, wegen eines rechtswidrigen Zuschlagskriteriums für nichtig erklärt hatte, widerrief die Auftraggeberin auch die Ausschreibung betreffend Glaserarbeiten. Gegen den zunächst nicht näher begründeten und lediglich im Amtsblatt der Stadt Wien bekannt gemachten Widerruf richtete sich der Nachprüfungsantrag der beteiligten Partei, einer Glashandlung - Glaserei, in dem sie die Nichtigerklärung des Widerrufes begehrte. Die Auftraggeberin wendete die Unzulässigkeit des Antrages ein und erwiderte, dass der vom VKS im Parallelverfahren festgestellte Ausschreibungsmangel auch im vorliegenden Fall gegeben gewesen sei und daher ein zwingender Widerrufsgrund bestanden habe.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 26. August 2005 gab der VKS diesem Antrag statt und erklärte den Widerruf unter Zuspruch eines Gebührenersatzes zugunsten des Antragstellers für nichtig. Zur Wirksamkeit des Widerrufes führte der VKS aus, dass die Bieter zwar zunächst nicht iSd §105 Abs4 des Bundesvergabegesetzes 2002, BGBl. I Nr. 99 (im Folgenden: BVergG), verständigt wurden, dieser Mangel allerdings durch die mit einer Begründung versehene Verständigung jedes einzelnen Bieters nach Einleitung des Nachprüfungsverfahrens nachträglich behoben worden sei.

2. Der VKS verwies zunächst auf die Urteile des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in den Rechtssachen Hospital Ingenieure (18.6.2002, Rs C-92/00) und Koppensteiner (2.6.2005, Rs C-15/04), um dann "in analoger Anwendung der in [...] der genannten Entscheidung vertretenen Ansicht" festzustellen, dass er für die Nachprüfung von Entscheidungen iSd Art1 Abs1 der Richtlinie 89/665/EWG (kurz: RM-RL) zuständig und

"im Hinblick auf den Anwendungsvorrang des Europäischen Rechts verpflichtet ist, diese vom EuGH in seinem Urteil 'Koppensteiner' festgeschriebenen Grundsätze zu beachten und für sein Verfahren anzuwenden.

[...]

Im Hinblick auf die klare Entscheidung des EuGH in der Rechtssache 'Koppensteiner' hat daher der Vergabekontrollsenat im Falle des Widerrufes nach Ende der Angebotsfrist wegen der unmittelbaren Vorrangwirkung der Rechtsmittelrichtlinie die entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechtes unangewendet zu lassen (Urteil Koppensteiner, RZ 39). Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass der Vergabekontrollsenat unter unmittelbarer Anwendung der Bestimmungen der Rechtsmittelrichtlinie dazu berufen ist, zu prüfen, ob der bekämpfte Widerruf gegebenenfalls als nichtig aufzuheben ist."

Dem Einwand der Auftraggeberin, die RM-RL beziehe sich nur auf Vergabeverfahren im Oberschwellenbereich, begegnet der VKS mit dem Hinweis auf die verfassungsgerichtliche Judikatur, wonach das Fehlen des Rechtsschutzes im Unterschwellenbereich dem Gleichheitsgrundsatz widerspreche. Aufträge im Unterschwellenbereich würden daher grundsätzlich denselben Vergaberegeln wie Aufträge im Oberschwellenbereich sowie dem speziell eingerichteten Rechtsschutz durch Vergabekontrollbehörden unterliegen. Auch das BVergG sehe eine strikte Trennung hinsichtlich des Rechtsschutzes nicht mehr vor, sodass die Auslegung des Urteils des EuGH "auch auf Verfahren im Unterschwellenbereich anzuwenden" sei.

In der Sache verwarf der VKS die Begründung des Widerrufs, dass der vom VKS in einem anderen Verfahren festgestellte Ausschreibungsmangel zum Widerruf zwinge: Da sich das vorliegende Vergabeverfahren bereits im Stadium der Angebotsöffnung befunden und keiner der Bieter die Ausschreibungsbestimmungen angefochten habe, seien allfällige Ausschreibungsmängel unanfechtbar geworden und als geheilt anzusehen.

3. Die gegen diesen Bescheid gemäß Art144 Abs1 B-VG erhobene Beschwerde der Auftraggeberin rügt die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf Gleichheit vor dem Gesetz. Der VKS habe sich mit der Nichtigerklärung des Widerrufs eine Kompetenz angemaßt, für die es keine gesetzliche Grundlage gebe, da die vom VKS herangezogene RM-RL lediglich für den Oberschwellenbereich gelte. Davon abgesehen habe im vorliegenden Fall - mangels unverzüglicher Verständigung der Bieter iSd §105 Abs4 BVergG - gar kein wirksamer Widerruf bestanden. Ferner wendet sich die Beschwerde gegen die Auffassung des VKS, der Widerruf sei rechtswidrig erfolgt, mit dem Hinweis auf die Spruchpraxis verschiedener Vergabekontrollinstanzen, wonach ein rechtswidriges oder ungeeignetes Bestbieterermittlungsschema zum Ausschreibungswiderruf verpflichte; der Ausschreibungsmangel im vorliegenden Vergabeverfahren werde darüber hinaus zweifach "verwirklicht", weil er nicht nur die Ausschreibungsunterlage, sondern auch die Zuschlagsentscheidung, bei der das rechtswidrige Zuschlagskriterium erstmals angewendet werde, mit Rechtswidrigkeit belaste.

4. Der VKS legte als belangte Behörde die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der er die Abweisung der Beschwerde beantragte.

Was die Zulässigkeit der Nichtigerklärung eines Widerrufes im Unterschwellenbereich anbelangt, räumt die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift ein, dass die RM-RL nur Auftragsvergaben im Oberschwellenbereich betreffe, meint aber, dass die RM-RL dessen ungeachtet auch für den Unterschwellenbereich "relevant" sei. Die belangte Behörde argumentiert dahingehend, dass nach der Rechtsprechung des EuGH auch für Beschaffungen von öffentlichen Auftraggebern, die nicht den Vergaberichtlinien unterliegen, die Regelungen des EG-Vertrages zu beachten seien. Daraus resultiere die Notwendigkeit einer Überprüfung, ob Vergabeverfahren unparteiisch und fair durchgeführt wurden. Nach den Grundregeln des EG-Vertrages sei ein willkürlicher Widerruf des Vergabeverfahrens auch im Unterschwellenbereich unzulässig. Unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes führt die belangte Behörde schließlich aus, dass es unsachlich sei, wenn bei gleichem Sachverhalt im Oberschwellenbereich der Rechtsschutz durch Vergabekontrollbehörden, im Unterschwellenbereich aber nur durch Gerichte erfolgen würde.

Die beteiligte Partei, die den Nachprüfungsantrag im Anlassverfahren gestellt hatte, erstattete ebenfalls eine Äußerung, in der sie den angefochtenen Bescheid verteidigt.

II. 1. Die für dieses Verfahren maßgebende Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

Nach §11 Abs2 Z2 des Wiener Vergaberechtsschutzgesetzes, LGBl. Nr. 25/2003 (im Folgenden: WVRG), ist der VKS bis zur Zuschlagserteilung - zwecks Beseitigung von Verletzungen des BVergG u. a. - zur Nichtigerklärung rechtswidriger Entscheidungen des Auftraggebers zuständig. Gemäß §11 Abs5 ist nach Widerruf einer Ausschreibung der VKS zur Feststellung zuständig, ob der Widerruf wegen eines Verstoßes gegen das BVergG rechtswidrig war; im Falle eines Widerrufs nach Angebotsöffnung hat der VKS darüber hinaus auf Antrag des Auftraggebers festzustellen, ob der antragstellende Bieter auch bei Einhaltung der Bestimmungen des BVergG keine echte Chance auf Erteilung des Zuschlages gehabt hätte. §11 WVRG lautet folgendermaßen:

"Nachprüfungsverfahren

Zuständigkeit des Vergabekontrollsenates

§11. (1) Der Vergabekontrollsenat ist auf Antrag zur Durchführung des Nachprüfungsverfahrens nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Abschnittes zuständig.

(2) Bis zur Zuschlagserteilung ist der Vergabekontrollsenat zum Zwecke der Beseitigung von Verstößen gegen das Bundesvergabegesetz 2002 und die hierzu ergangenen Verordnungen zuständig

1. zur Erlassung einstweiliger Verfügungen sowie

2. zur Nichtigerklärung rechtswidriger Entscheidungen des Auftraggebers im Rahmen der vom Antragsteller innerhalb der Antragsfristen (§20) geltend gemachten Beschwerdepunkte.

(3) Unbeschadet des §27 ist der Vergabekontrollsenat zuständig, nach der Zuschlagserteilung festzustellen, ob wegen eines Verstoßes gegen das Bundesvergabegesetz 2002 oder die hierzu ergangenen Verordnungen der Zuschlag nicht gemäß den Angaben in der Ausschreibung dem Angebot mit dem niedrigsten Preis oder dem technisch und wirtschaftlich günstigsten Angebot erteilt wurde. In einem solchen Verfahren ist der Vergabekontrollsenat ferner zuständig, auf Antrag des Auftraggebers oder des Zuschlagsempfängers festzustellen, ob der antragstellende Bieter auch bei Einhaltung der Bestimmungen des Bundesvergabegesetzes 2002 und der hierzu ergangenen Verordnungen keine echte Chance auf Erteilung des Zuschlages gehabt hätte.

(4) Bei Direktvergaben ist der Vergabekontrollsenat nach Zuschlagserteilung nur mehr zuständig, festzustellen, ob die Wahl des Vergabeverfahrens zu Recht erfolgte.

(5) Nach Widerruf einer Ausschreibung ist der Vergabekontrollsenat zuständig, festzustellen, ob der Widerruf wegen eines Verstoßes gegen das Bundesvergabegesetz 2002 rechtswidrig war. Im Falle eines Widerrufs nach Angebotsöffnung ist der Vergabekontrollsenat ferner zuständig, auf Antrag des Auftraggebers festzustellen, ob der antragstellende Bieter auch bei Einhaltung der Bestimmungen des Bundesvergabegesetzes 2002 und der hierzu ergangenen Verordnungen keine echte Chance auf Erteilung des Zuschlages gehabt hätte."

§13 WVRG regelt in Abs1 die Nichtigerklärungs- sowie in Abs2 die Feststellungsverfahren und lautet:

"Arten der Nachprüfungsverfahren

§13. (1) (Nichtigerklärungsverfahren) Ein Unternehmer, der ein Interesse am Abschluss eines dem Bundesvergabegesetz 2002 unterliegenden Vertrages behauptet, kann die Nichtigerklärung einer gesondert anfechtbaren Entscheidung (§20 Z13 lita des Bundesvergabegesetzes 2002 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 99/2002) des Auftraggebers im Verfahren zur Vergabe von Aufträgen wegen Rechtswidrigkeit beantragen, sofern ihm durch eine behauptete Rechtswidrigkeit ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht. Dem Antrag auf Nichtigerklärung kommt keine aufschiebende Wirkung für das betreffende Verfahren zur Vergabe von Aufträgen zu. Nicht gesondert anfechtbare Entscheidungen (§20 Z13 litb des Bundesvergabegesetzes 2002 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 99/2002) können nur gemeinsam mit den ihnen jeweils nächst folgenden gesondert anfechtbaren Entscheidungen angefochten werden.

(2) (Feststellungsverfahren) Ein Unternehmer, der ein Interesse am Abschluss eines dem Anwendungsbereich des Bundesvergabegesetzes 2002 unterliegenden Vertrages hatte, kann, sofern ihm durch die behauptete Rechtswidrigkeit ein Schaden entstanden ist, die Feststellung beantragen, dass

1. die Wahl der Direktvergabe nicht zu Recht erfolgte, oder

2. wegen eines Verstoßes gegen das Bundesvergabegesetz 2002 oder die hierzu ergangenen Verordnungen der Zuschlag nicht gemäß den Angaben in der Ausschreibung dem Angebot mit dem niedrigsten Preis oder dem technisch und wirtschaftlich günstigsten Angebot erteilt wurde, oder

3. der Widerruf einer Ausschreibung wegen eines Verstoßes gegen das Bundesvergabegesetz 2002 rechtswidrig war."

Keine Bestimmung des WVRG sieht hingegen die Zuständigkeit des VKS vor, den Widerruf einer Ausschreibung für nichtig zu erklären (vgl. auch §20 WVRG).

III. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg. 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).

2. Im Urteil vom 18. Juni 2002, Hospital Ingenieure, stellte der EuGH klar, Art1 Abs1 der RM-RL verlange, dass die Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, die Ausschreibung eines Dienstleistungsauftrages zu widerrufen, in einem Nachprüfungsverfahren auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen Vorschriften eines Mitgliedstaates, die dieses Recht umsetzen, überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden kann. Mit dem Urteil vom 2. Juni 2005, Koppensteiner, hat der EuGH diese Judikatur fortgesetzt.

Mit Erkenntnis vom 28. November 2002, VfSlg. 16.737/2002, hat der Verfassungsgerichtshof einen Bescheid des Bundesvergabeamtes (BVA), mit dem ein die Nichtigerklärung eines Widerrufs begehrender Antrag mangels Zuständigkeit des BVA zurückgewiesen wurde, mit Hinweis auf das Urteil in Sachen Hospital Ingenieure und unter Berufung auf das Gebot richtlinienkonformer Auslegung des §113 Abs2 BVergG 1997 aufgehoben.

Mit Erkenntnis vom 26. September 2005, B1330/04, hat der Gerichtshof schließlich einen Bescheid des VKS aufgehoben, mit dem dieser unter Berufung auf §101 des Wiener Landesvergabegesetzes einen Antrag auf Nichtigerklärung des Widerrufes zurückgewiesen hatte. Der Verfassungsgerichtshof wies auf das Urteil des EuGH in Sachen Koppensteiner hin, aus dem sich eindeutig ergebe, dass Vergabenachprüfungsbehörden nationales Recht, das einer Überprüfung des Widerrufs entgegensteht, unbeachtet zu lassen hätten.

Beide Erkenntnisse betrafen Vergaben im Oberschwellenbereich.

Der Verfassungsgerichtshof teilt die Ansicht der beschwerdeführenden Partei, dass die Aussagen in den obgenannten Entscheidungen des EuGH und des Verfassungsgerichtshofs nicht auf Vergaben im Unterschwellenbereich übertragen werden können, da das Gemeinschaftsrecht, insbesondere auch die RM-RL, keine Anordnungen für den Unterschwellenbereich trifft. Zwar gelten allgemeine gemeinschaftsrechtliche Grundsätze, wie etwa das Diskriminierungsverbot des Art12 EG, auch für den Unterschwellenbereich, doch ist die Frage der Anfechtbarkeit der Entscheidung des Auftraggebers, eine Ausschreibung zu widerrufen, nicht von diesen allgemeinen Grundsätzen erfasst. Daher ist aus dem Gemeinschaftsrecht nichts für die Zuständigkeit der Vergabekontrollbehörden der Mitgliedstaaten im Unterschwellenbereich abzuleiten.

Dies bedeutet, dass sich die Zuständigkeit der Vergabekontrollbehörden im Unterschwellenbereich ausschließlich nach innerstaatlichem Recht richtet. Sowohl §11 als auch §13 WVRG sehen aber für den Fall des Widerrufs einer Ausschreibung durch den öffentlichen Auftraggeber bloß ein Feststellungsverfahren vor, nicht aber die Möglichkeit der Nichtigerklärung der Entscheidung des Auftraggebers.

3. Die belangte Behörde gelangt offenbar zur Annahme ihrer Zuständigkeit, indem sie die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für den Oberschwellenbereich mit jener Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, die das Fehlen bestimmter Rechtsschutzeinrichtungen im Unterschwellenbereich für gleichheitswidrig erklärte, gedanklich verknüpfte. Der Verfassungsgerichtshof vermag sich dieser gedanklichen Verknüpfung nicht anzuschließen:

Mit Erkenntnis vom 30. November 2000, VfSlg. 16.027/2000, hob der Verfassungsgerichtshof eine Wortfolge des §3 Abs1 BVergG 1997 auf, weil - unter Bezugnahme auf das für Vergaben im Oberschwellenbereich vorgesehene Rechtsschutzinstrumentarium - keine sachliche Rechtfertigung für den gänzlichen Ausschluss eines vergabespezifischen Rechtsschutzes für Verfahren im Unterschwellenbereich zu erkennen war; gleichwohl führte er aus, dass keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Regelung bestünden, "die bei Verfahren unterhalb bestimmter Wertgrenzen Verfahrensvereinfachungen oder Verfahrensbeschleunigungen vorsieht, die die Entscheidungskompetenz Einzelrichtern überträgt, die denkbare Rechtszüge beschränkt o.ä.".

Im Erkenntnis vom 26. Februar 2002, VfSlg. 16.445/2002, wiederholte der Verfassungsgerichtshof diese Aussagen und meinte, es sei "sachlich nicht zu rechtfertigen, die Kontrolle der Einhaltung der (im Vergleich zu den Oberschwellenwertregelungen zulässiger Weise vereinfachten) Vergabevorschriften der ÖNORM A 2050 aufwendiger zu gestalten, Provisorialverfahren zu erschweren und das Interesse des Auftraggebers an raschen Entscheidungen als geringer zu veranschlagen."

Der Verfassungsgerichtshof hat diese Judikatur weder auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gestützt, noch sich auf eine gemeinschaftskonforme Auslegung berufen. Die Gesetzesaufhebungen waren einzig und allein auf die Verletzung des Gleichheitssatzes gestützt.

4. Im WVRG fehlt für den Fall des Widerrufs einer Ausschreibung wegen eines Verstoßes gegen das BVergG keineswegs jeder Rechtsschutz, wohl aber ist der Rechtsschutz auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit und damit der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen beschränkt (§13 Abs2 Z3 WVRG). Damit unterscheidet sich aber das WVRG von jenen Fällen, die den Erkenntnissen VfSlg. 16.027/2000 und 16.445/2002 zu Grunde lagen. Wie bereits in diesen Erkenntnissen zum Ausdruck kam, ist der Gesetzgeber nicht gehalten, für Vergaben im Unterschwellenbereich einen gleich umfänglichen Rechtsschutz wie in Fällen des Oberschwellenbereichs zu gewähren. Wenn der Wiener Landesgesetzgeber daher den Rechtsschutz beim Widerruf der Ausschreibung auf Feststellung und Schadenersatz beschränkt und keine Nachprüfung zulässt, so ist dies für den Oberschwellenbereich auf Grund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts unbeachtlich. Im Unterschwellenbereich ist die gesetzliche Regelung hingegen wirksam, begegnet aber keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch eine Analogie zum Oberschwellenbereich kommt nicht in Frage, da das Gesetz auf Grund des klaren Wortlautes keine Lücke offen lässt, die interpretativ zu schließen wäre.

Indem die belangte Behörde den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch auf Fälle im Unterschwellenbereich anwendete und trotz des klaren Wortlautes des Gesetzes jene Lösung, die nur für den Oberschwellenbereich in Frage kommt, auch auf den Unterschwellenbereich analog anwendete, hat sie eine Zuständigkeit in Anspruch genommen, die ihr nach dem Gesetz im Unterschwellenbereich nicht zusteht. Die beschwerdeführende Gesellschaft ist daher durch den angefochtenen Bescheid im Grundrecht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

IV. Die Kostenentscheidung gründet auf §88 VfGG; der zugesprochene Betrag enthält Umsatzsteuer in Höhe von 360 € sowie eine Eingabegebühr in Höhe von 180 €. Dieses Erkenntnis wurde in sinngemäßer Anwendung des §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung gefasst.

Schlagworte

Vergabewesen, EU-Recht Richtlinie, Rechtsschutz, Analogie, Behördenzuständigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2006:B3378.2005

Dokumentnummer

JFT_09939381_05B03378_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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