Index
10 VerfassungsrechtLeitsatz
Art8 StGG; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Lärmerregung iS des ArtVIII EGVG; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit mangels der Voraussetzung des "Verharrens in der strafbaren Handlung" für die Festnahme nach §35 litc VStGSpruch
Die Bf. sind durch ihre nachts zum 21. November 1981 in Wien von einem Organ der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in Haft im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Die Bf. begehren in ihren unter Berufung auf Art144 Abs1 B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerden (in der laut Schriftsatz vom 22. Dezember 1983 eingeschränkten Fassung) die kostenpflichtige Feststellung, daß sie durch (der Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. zuzurechnende) Amtshandlungen, nämlich ihre Festnahme in der Nacht zum 21. November 1981 in Wien (wegen Verdachts einer Verwaltungsübertretung) und ihre darauffolgende Verwahrung, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG sowie Art5 MRK) verletzt worden seien.
1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor, erstattete Gegenschrift und nahm darin den Standpunkt ein, daß die Betretung der Bf. bei der Begehung einer Verwaltungsübertretung - ausgenommen im Fall des N D - nicht bewiesen werden könne.
1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß (Sicherheitswache-)Inspektor R N nachts zum 21. November 1981 die sich damals als Teilnehmer einer Festveranstaltung in der Wohnung Wien, S-Straße aufhaltenden Bf. gemeinsam mit allen anderen dort anwesenden Festgästen wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretung nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 idF des ArtI Z7 des BGBl. 232/1977 gemäß §35 litc VStG 1950 für festgenommen erklärte und mit Hilfe mehrerer Sicherheitswacheorgane in Haft nahm, aus der die Festgenommenen erst nach Stunden entlassen wurden.
2. Über die - gemäß §§187, 404 ZPO (§35 VerfGG 1953) zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbundenen - Beschwerden wurde erwogen:
2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977 ua.).
2.1.2. Demgemäß sind die Beschwerden, da hier ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, in vollem Umfang zulässig.
2.2.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.
§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei die erste dieser beiden Bedingungen schon dann vorliegt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).
Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.
2.2.2.1. Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen konnte, daß die Bf. sich die Übertretung nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 zuschulden kommen ließen (s. Punkt 1.2.).
2.2.2.2. Nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 idgF begeht eine Verwaltungsübertretung, wer ungebührlicherweise störenden Lärm erregt.
Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8654/1979) und des VwGH (VwGH 25. 3. 1969 Z 1614/68, 19. 4. 1982 Z 81/10/0104) dadurch gekennzeichnet, daß (störender) Lärm dann "ungebührlicherweise" erregt wird, wenn das inkriminierte Verhalten jene Rücksichtnahme vermissen läßt, welche die Umwelt regelmäßig verlangen kann.
2.2.3. Dazu stellt der VfGH aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens, insbesondere der Aussage des vernommenen Zeugen R N und der Parteiaussage des N D sowie der vorgelegten Verwaltungsakten folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:
Am 20. November 1981 abends fand in den Räumen der Hochschülerschaft in Wien, S-Straße, eine Veranstaltung für erstsemestrige Studenten statt, an der zahlreiche Personen teilnahmen. Als eine Hausbewohnerin sich durch diese Feier in ihrer Ruhe gestört fühlte und die Polizei verständigte, schritten die Funkstreifenangehörigen R N und W N ein:
R N, der seiner Aussage nach im Hausinneren schon vor dem Betreten der Wohnung Nr. 6 Lärm ("Merkmale einer Feier", Tanz, Musik) vernahm, wandte sich zunächst an den Bf. N D, der sich als Verantwortlicher bezeichnete, und legte ihm nahe, er möge für Ruhe und Ordnung sorgen. Da sich N D jedoch - trotz offenbar einsetzenden Gelächters der Gäste - untätig verhielt, ging er im weiteren Verlauf mit den Worten "Es muß mehr Ruhe sein, sonst muß ich Anzeige erstatten" durch die Räumlichkeiten und drohte außerdem den Anwesenden die Festnahme (wegen Lärmens) an. Da er meinte, damit keinen nachhaltigen Erfolg erzielt zu haben, obwohl - wie vornehmlich aus der in diesem Punkt durchaus glaubhaften Aussage des Bf. N D erhellt - jedenfalls zu dieser Zeit keine (laute) Musik mehr ertönte, sprach er anschließend in Handhabung des §35 litc VStG 1950 tatsächlich - pauschal - die Festnahme aller Festteilnehmer (65 Personen), darunter auch die der Bf., aus, die daraufhin in polizeiliche Haftlokale überstellt und dort mehrere Stunden angehalten wurden.
2.2.4. Angesichts dieser Sach- und Beweislage durfte der Zeuge R N zumindest für die Zeit nach der Abmahnung iS des §35 litc VStG 1950 nicht mit gutem Grund davon ausgehen, daß die Bf. (weiterhin) eine Verwaltungsübertretung nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 begingen, also in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrten, weil gerechtfertigterweise erwartet und angenommen werden mußte, daß der mit der Veranstaltung verbundene (störende) Lärm durch den festgestellten Verzicht auf jede (laute) Musikbegleitung auf ein nach Lage der Verhältnisse gerade noch zu tolerierendes Maß zurückgehe.
Demzufolge fehlte es aber an der zwingenden Festnahmevoraussetzung des "Verharrens in der strafbaren Handlung", sodaß sich die Festnahmen - allein schon aus dieser Überlegung - als gesetzwidrig erweisen.
Daraus folgt, daß die Bf. durch die bekämpften Amtshandlungen (s. Punkt 1.1.1.), wie sie zutreffend rügen, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG) verletzt wurden.
Schlagworte
Festnehmung, Polizeirecht, Lärmerregung, Ausübung unmittelbarer Befehls- und ZwangsgewaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1984:B680.1981Dokumentnummer
JFT_10159776_81B00680_00