TE Vfgh Erkenntnis 1984/11/23 B598/82

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Veröffentlicht am 23.11.1984
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
MRK Art3
StGG Art8
StPO §177 Abs1 Z1
StPO §177 Abs2

Leitsatz

StGG Art8; keine Verletzung im Grundrecht auf persönliche Freiheit durch eine in §177 Abs1 Z1 und §177 Abs2 StPO gedeckte Festnahme und Anhaltung MRK Art3; kein Nachweis für (behauptete) Mißhandlungen erbracht

Spruch

I. Der Bf. ist durch seine am 15. Oktober 1982 in Wien von Organen der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in Haft weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird in diesem Umfang abgewiesen.

II. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Mag. S K begehrte in seiner mit Berufung auf Art144 Abs1 B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er durch (der Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. zuzurechnende) Zwangsmaßnahmen, nämlich seine polizeiliche Festnehmung um etwa 1 Uhr des 15. Oktober 1982 in Wien und seine anschließende Anhaltung in Verwaltungshaft bis 7 Uhr 20 desselben Tages sowie Zufügung körperlicher Mißhandlungen in Durchführung dieser Festnahme, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, und zwar auf persönliche Freiheit (Art8 StGG, Art5 MRK) und auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK), verletzt worden sei.

1.1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und beantragte darin die Abweisung der Beschwerde.

1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß (Polizei-)Inspektor K G von der Bundespolizeidirektion Wien den Bf. am 15. Oktober 1982 um 00 Uhr 50 in Wien (ua.) wegen des Verdachtes des Vergehens des (versuchten) Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§15, 269 StGB aus dem Haftgrund des §175 Abs1 Z1 StPO ohne richterlichen Befehl festnahm; der Festgenommene wurde im weiteren Verlauf - nach seiner Einvernahme - noch am selben Tag um 7 Uhr 45 wieder aus der Haft entlassen.

Die Akten AZ 3dE Vr 12541/82 des LG für Strafsachen Wien ergeben im einzelnen, daß der Bf. am 15. Oktober 1982 um 00 Uhr 50 in Wien während eines polizeilichen Einschreitens gegen die mit ihm befreundete E A - das Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Beschwerdesache AZ B599/82 bildet - den Sicherheitswachebeamten K G gewaltsam angriff, um ihn an der Vollziehung einer Amtshandlung, und zwar der Eskortierung des festgenommenen E A zum nächstgelegenen Wachzimmer, zu hindern. Mag. S K wurde deswegen bereits im Verfahren AZ 3dE Vr 12541/82 des LG für Strafsachen Wien des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach den §§15, 269 Abs1 StGB rechtskräftig schuldig gesprochen und zu einer - bedingt nachgesehenen - Freiheitsstrafe verurteilt (Urteile des Einzelrichters des LG für Strafsachen Wien vom 31. Jänner 1983, AZ 3dE Vr 12541/82-19, und des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 11. Juli 1983, AZ 21 Bs 237/83).

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpft waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9860/1983).

2.1.2. Demgemäß ist festzuhalten, daß sich die vorliegende Beschwerde jedenfalls insoweit gegen Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art144 Abs1 B-VG wendet, als die in Rede stehende Festnahme und Anhaltung des Bf. (Punkt 1.2.) angefochten wird.

2.1.3. Da hier ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde in diesem Umfang zulässig.

2.2.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

2.2.1.1. Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1967, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen iS des §4 leg. cit. sind ua. die §§175 bis 177 StPO.

2.2.1.2. Der VfGH geht in rechtlicher Beurteilung des feststehenden Sachverhaltes (s. Abschn. 1.2.) aus dem Blickwinkel der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit davon aus, daß der Bf. im Dienste der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl festgenommen und verwahrt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob diese Freiheitsbeschränkung nach §177 (§10 Z1) StPO iVm. §175 StPO zulässig war. Gemäß §177 Abs1 Z1 (§10 Z1) StPO darf die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in dem hier von der bel. Beh. herangezogenen und damit (s. VfSlg. 5232/1966, vgl. auch VfSlg. 9393/1982) allein in Betracht kommenden Fall des Haftgrundes nach §175 Abs1 Z1 StPO - so ua. bei Betretung auf frischer Tat - zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter ausnahmsweise auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden.

Auf dem Boden des gegebenen Sachverhaltes konnte nun jener Beamte (Inspektor K G), der die Festnahme aussprach und durchführte, vertretbarerweise annehmen, daß der Bf. ein den Gerichtshöfen erster Instanz zur Aburteilung zugewiesenes Vergehen (in der Erscheinungsform des Versuchs: §15 StGB) begangen habe, nämlich das Vergehen des Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §269 Abs1 StGB, dessen sich schuldig macht, wer einen Beamten mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung an einer Amtshandlung, durch die Befehls- oder Zwangsgewalt ausgeübt wird, hindert.

2.2.1.3. Unter diesen Bestimmungen war aber die Festnahme des Bf. durch §177 Abs1 Z1 (iVm. §175 Abs1 Z1) StPO voll gedeckt:

Da diese Amtshandlung aufgrund persönlicher Beobachtungen des (Sicherheitswache-)Beamten an Ort und Stelle stattfand und im engsten zeitlichen Zusammenhang mit der vertretbarerweise bejahten Tat stand, waren hier die Voraussetzungen für eine Festnehmung (durch Sicherheitsorgane aus Eigenmacht) wegen "Betretung auf frischer Tat" (§§15, 269 Abs1 StGB) iS der Bestimmungen der Strafprozeßordnung erfüllt.

2.2.1.4. Nach §177 Abs2 StPO ist der von Sicherheitsorganen aus eigener Macht in Verwahrung genommene Verdächtige durch die Sicherheitsbehörde unverzüglich zur Sache und zu den Voraussetzungen der Verwahrungshaft zu vernehmen und, wenn sich dabei ergibt, daß kein Grund zu seiner weiteren Verwahrung vorhanden sei, sogleich freizulassen, sonst aber binnen achtundvierzig Stunden dem zuständigen Gericht einzuliefern.

Diesen Voraussetzungen wurde hier durchaus entsprochen. Von einer unnötigen, durch die Umstände nicht gerechtfertigten Verzögerung der Einvernahme und Entlassung des Festgenommenen aus der (Verwaltungs-)Haft kann - wie die Aktenlage zeigt - keinesfalls die Rede sein.

2.2.1.5. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß der Bf. im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt wurde.

2.2.1.6. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde (soweit gegen die Festnahme und Anhaltung gerichtet) - da die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder behauptet wurde noch im Verfahren hervorkam und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die den bekämpften Verwaltungsakten zugrunde liegenden Rechtsvorschriften nicht entstanden - als unbegründet abzuweisen (Punkt I des Spruches).

2.2.2.1. Was das Beschwerdevorbringen zum Grundrecht nach Art3 MRK anlangt, so sieht sich der VfGH angesichts der Ergebnisse des durchgeführten Beweisverfahrens - insbesondere angesichts der im gegebenen Zusammenhang unbedenklichen und glaubhaften Aussagen der im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren einvernommenen Zeugen K G und W S sowie des Inhalts der Akten AZ 3dE Vr 12541/82 des LG für Strafsachen Wien - außerstande, den entsprechenden - nicht weiter und zureichend bestätigten - Behauptungen des Bf. und der Bf. im Verfahren B599/82 (E A) zu folgen und die in der Beschwerdeschrift angeführten Mißhandlungen als erwiesen anzunehmen.

2.2.2.2. Da demgemäß ein Nachweis für die behaupteten Vorgänge nicht erbracht wurde, liegt der Beschwerde im dargestellten Punkt kein geeigneter Beschwerdegegenstand zugrunde. Die Beschwerde war daher im geschilderten Umfang schon allein aus dieser Überlegung als unzulässig zurückzuweisen (Punkt II des Spruches).

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, Mißhandlung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1984:B598.1982

Dokumentnummer

JFT_10158877_82B00598_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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