TE Vfgh Erkenntnis 2006/9/25 B527/06

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Veröffentlicht am 25.09.2006
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Index

67 Versorgungsrecht
67/01 Versorgungsrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
VerbrechensopferG §1 Abs8

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch gleichheitswidrige Auslegung einer Bestimmung des Verbrechensopfergesetzes betreffend den Ersatz einer Brille; Tatbestandsmerkmal der "Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels" auch durch Entziehung einer vom Opfer eines Raubüberfalls in der Handtasche mitgeführten Lesebrille erfüllt

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesministerin für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.340,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Nach der Aktenlage wurde die Beschwerdeführerin am 19. Juli 2005 Opfer eines von einem Unbekannten unter Einsatz eines Pfeffersprays verübten Raubüberfalles (mithin einer mit mehr als sechs Monaten bedrohten strafbaren Handlung), bei dem die Handtasche der Beschwerdeführerin samt ihrer darin (in einem Etui) verwahrten Lesebrille erbeutet wurde.

In der Folge beantragte die Beschwerdeführerin beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Bundessozialamt) Landesstelle Wien - gestützt auf das Verbrechensopfergesetz (im Folgenden: VOG) - den Ersatz der mit € 150,-- veranschlagten Kosten für die Anschaffung einer vergleichbaren Lesebrille. Mit Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen Landesstelle Wien vom 7. September 2005 wurde der Antrag gemäß §1 Abs1 und 8 VOG mit der Begründung abgewiesen, dass der Verlust einer in einer Tasche mitgeführten Lesebrille infolge eines Raubes nicht unter die Bestimmung des §1 Abs8 VOG falle.

2. Die dagegen erhobene Berufung wurde von der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz mit Bescheid vom 26. Jänner 2006 abgewiesen. Begründend führte die Behörde aus, dass der Wortlaut der Bestimmung des §1 Abs8 VOG eine Ersatzleistung nicht zulasse, weil die Beschwerdeführerin die Lesebrille nicht, wie es das Gesetz verlange, "in Verwendung seiner eigentlichen Bestimmung direkt am Körper getragen" habe, sondern der Sehbehelf in der geraubten Handtasche verwahrt gewesen sei. Bei der gegenständlichen Vorschrift des VOG - das primär auf die Unterstützung von Opfern einer (vorsätzlich herbeigeführten) Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung abstelle - handle es sich um eine restriktiv auszulegende Ausnahmeregelung.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie auf Unversehrtheit des Eigentums behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

Die Bestimmung des §1 Abs8 VOG bezeichne ausdrücklich eine "Brille" (worunter eine Lesebrille falle) als Beispiel für ein vom Ersatzanspruch umfasstes medizinisches Hilfsmittel. Die Beschwerdeführerin habe die Lesebrille während der an ihr verübten Straftat in der Handtasche, also iSd Gesetzes "am Körper" getragen. Mit Blick auf die gleichen Folgen für das Opfer liege eine unzulässige Ungleichbehandlung hinsichtlich des Ersatzes für eine in Verwendung stehende (Fern)Brille und einer in der Tasche mitgeführten (Lese)Brille vor. Im Sinne eines Größenschlusses müsse ferner die durch das Schadensereignis herbeigeführte dauernde Entziehung eines medizinischen Hilfsmittels unter den Begriff der "Beschädigung" des §1 Abs8 VOG fallen.

4. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdebehauptungen im Wesentlichen mit den schon im bekämpften Bescheid dargelegten Argumenten entgegentritt und die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Die im vorliegenden Fall maßgeblichen Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes, BGBl. Nr. 1972/288 idF BGBl. I Nr. 2005/48, lauten auszugsweise wie folgt:

"§1

Kreis der Anspruchsberechtigten

(1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1. durch eine mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder

2. [...]

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Wird die österreichische Staatsbürgerschaft erst nach der Handlung im Sinne der Z1 erworben, gebührt die Hilfe nur, sofern diese Handlung im Inland oder auf einem österreichischen Schiff oder Luftfahrzeug (Abs6 Z1) begangen wurde.

(2) Hilfe ist auch dann zu leisten, wenn

1. - 2. [...]

3. der Täter nicht bekannt ist oder wegen seiner Abwesenheit nicht verfolgt werden kann.

(3) - (7) [...]

(8) Einer Körperverletzung und einer Gesundheitsschädigung im Sinne des Abs1 stehen die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, insbesondere einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich, wenn die zur Beschädigung führende Handlung nach Abs1 nach dem 30. Juni 2005 begangen wurde. Der Ersatz und die Reparatur richten sich nach §5 Abs2.

§2

Hilfeleistungen

Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:

1. - 2. [...]

3. orthopädische Versorgung

a) Ausstattung mit Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, deren Wiederherstellung, und Erneuerung,

[...]

§5

Orthopädische Versorgung

(1) Hilfe nach §2 Z3 ist nur für Körperverletzungen und Gesundheitsschädigungen im Sinne des §1 Abs1 zu leisten. Beschädigte, die infolge einer Handlung im Sinne des §1 Abs1 eine zumutbare Beschäftigung, die den krankenversicherungsrechtlichen Schutz gewährleistet, nicht mehr ausüben können, sowie Hinterbliebene (§1 Abs4) erhalten orthopädische Versorgung bei jedem Körperschaden.

(2) Hilfe nach §2 Z3 lita bis d ist nach Maßgabe des §32 Abs3 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957, BGBl. Nr. 152, zu gewähren.

(3) Beschafft sich ein Beschädigter oder ein Hinterbliebener ein Körperersatzstück, ein orthopädisches oder anderes Hilfsmittel selbst, so sind ihm die Kosten zu ersetzen, die dem Bund erwachsen wären, wenn die orthopädische Versorgung auf Grund dieses Bundesgesetzes durch diesen erfolgt wäre.

(4) [...]"

III. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

Die Beschwerde erweist sich als berechtigt. Die Beschwerdeführerin wurde durch den angefochtenen Bescheid in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt:

1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 14.717/1996, 15.326/1998, 16.488/2002, 17.076/2003, 17.163/2004) nur vorliegen, wenn der angefochtene Bescheid auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn die Behörde der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat.

2. Die belangte Behörde hat die Zuerkennung eines Kostenersatzes für den fraglichen Sehbehelf deshalb abgelehnt, weil ihrer Auffassung nach der Wortlaut des §1 Abs8 (iVm Abs1 Z1) VOG dagegen stehe: Es sei nur ein Ersatz für die Beschädigung eines in bestimmungsgemäßer Verwendung direkt am Körper getragenen Hilfsmittels zu leisten, nicht aber für eine in einer Handtasche (gesichert in einem Etui) verwahrten Lesebrille, die durch Raub dieser Handtasche entzogen wurde.

Damit hat die Behörde der angewendeten Norm aber einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt:

§1 Abs8 VOG sieht in Bezug auf den Ersatzanspruch (unter ausdrücklicher beispielhafter Anführung einer "Brille") vor, dass die Beschädigung "eines am Körper getragenen Hilfsmittels" einer Körperverletzung oder einer Gesundheitsschädigung im Sinne des Abs1 gleichsteht.

Wenn der Gesetzgeber zur hier strittigen Frage des spezifischen Einsatzes des Hilfsmittels keine explizite Aussage trifft, aber (demonstrativ) "insbesondere" die Beschädigung "einer Brille" nennt, ist die Norm verfassungskonform in einem weiten Sinn dahin zu interpretieren, dass nicht nur der Fall der Beschädigung einer vom Opfer während des kausalen Ereignisses unmittelbar als Sehbehelf verwendeten (optischen) Brille erfasst wird, sondern auch jener der (gegenüber einer Beschädigung in der Regel nachhaltigeren) dauernden Entziehung eines Sehbehelfs (auf den das Opfer angewiesen ist), wenn dieser zwar nicht unmittelbar benützt, aber in einer Handtasche (sei es auch zusätzlich in einem Etui verwahrt) einsatzbereit mitgeführt, also auf diese Weise im weiteren Sinn "am Körper getragen" wird.

Eine andere Auslegung würde Fälle, in denen der Betroffene ein im Gesetz ausdrücklich genanntes Hilfsmittel, das er im Zeitpunkt des Schadensereignisses zufällig nicht verwendet, wohl aber als Sehhilfe regelmäßig benötigt und aus diesem Grund zur jederzeitigen bestimmungsgemäßen Verwendung mit sich führt, aus dem Geltungsbereich des Gesetzes ausnehmen. Ein solches Verständnis hätte aber einen dem Gesetz nicht zusinnbaren unsachlichen Wertungswiderspruch zwischen unmittelbar getragenen (Fern)Brillen einerseits und zum erforderlichen temporären Gebrauch mitgeführten (Lese)Brillen andererseits zur Folge, womit eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte gegeben wäre. Auch die Bedachtnahme auf die Intention des Gesetzgebers, Opfern von Straftaten bestimmter Qualität Unterstützung durch den Ersatz oder die Reparatur spezifischer medizinischer Behelfe zuteil werden zu lassen, spricht für die dargelegte gleichheitsgemäße Auslegung.

Dieselben Überlegungen treffen auf die verfassungsrechtlich gebotene Gleichstellung der dauernden Entziehung eines Hilfsmittels mit dessen Beschädigung zu: Da die Wiederherstellung eines beschädigten medizinischen Behelfs - anders als eines verlustig gegangenen - häufig durch Reparatur möglich sein wird, ist davon auszugehen, dass der in der Regel gegenüber einer Beschädigung schwerer wiegende dauernde Entzug eines benötigten Hilfsmittels ebenfalls unter die Bestimmung des §1 Abs8 VOG fällt.

Eine verfassungskonforme Interpretation der in Rede stehenden Gesetzesstelle ergibt daher, dass die Entziehung einer vom Opfer eines Raubüberfalles (in der Handtasche) mitgeführten Lesebrille, auf die es (wenn auch nur zeitweise) angewiesen ist, die Tatbestandsmerkmale der "Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels" iSd §1 Abs8 VOG erfüllt.

Indem die belangte Behörde bei Auslegung der zitierten Gesetzesstelle von einem gleichheitswidrigen Verständnis ausgegangen ist, hat sie die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt.

Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben, ohne dass untersucht zu werden brauchte, ob die Beschwerdeführerin auch noch in sonstigen verfassungsgesetzlich garantierten Rechten (etwa in jenem auf Unversehrtheit des Eigentums) verletzt wurde.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 360,-- sowie die entrichtete Gebühr gemäß §17a VfGG enthalten.

IV. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Auslegung verfassungskonforme, Opferfürsorge, Verbrechensopfer

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2006:B527.2006

Dokumentnummer

JFT_09939075_06B00527_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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