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10 VerfassungsrechtNorm
StGG Art8Leitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; vertretbare Annahme des Verharrens in der strafbaren Handlung nach §14 iVm. §19 VersammlungsG; Festnehmung nach §35 litc VStG jedoch ohne erforderliche Abmahnung; Verletzung der persönlichen FreiheitSpruch
Der Bf. ist durch seine Festnahme durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien am 28. Juni 1983 in Wien I, Schottenring, und durch seine Verbringung zu einem Arrestantenwagen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht:
"Der Bf. der von Geburt an an einer Hüftluxation und einer Muskeldystrophie leidet und daher deutlich gehbehindert ist, begab sich am 28. 6. 1983 mit der Straßenbahnlinie D zur Straßenbahnstation Börse, stieg dort aus dem Straßenbahnzug und ging am Schottenring - von der Gehrichtung aus gesehen - auf der linken Seite auf dem Gehsteig in Richtung U-Bahn-Station Schottenring. Der Bf. merkte, daß einige Sicherheitswachebeamte damit beschäftigt waren, offensichtlich flüchtenden Personen nachzueilen und die solcherart ereilten Personen festzunehmen. Da der Bf. auch beobachten mußte, daß einige Sicherheitswachebeamte auf eine männliche Person, die auf dem Boden lag, mit Beinen hintraten und eine Frau an den Haaren zu Boden rissen, bekam er Angst, in diese 'Amtshandlungen' hineingezogen zu werden und setzte sich daher - etwa vor dem Hause Parkring (offenbar gemeint: Schottenring) 23 - auf eine Parkbank nieder.
Nach einigen Minuten kamen auf ihn fünf Sicherheitswachebeamte zu, worauf einer von diesen zum Bf. in breitem Wiener Dialekt sinngemäß sagte, daß er, der Bf., ohnedies schon darauf (worauf, blieb ungeklärt) warte. Ohne dem Bf. irgend eine Gelegenheit zur Erwiderung zu geben, riß dieser Sicherheitswachebeamte den Bf. in die Höhe und führte ihn unter Anwendung von Körpergewalt über die Fahrbahn des Parkringes (offenbar gemeint: Schottenring) zu dem gegenübergelegenen Gehsteig. Dort wurde der Bf. durch einen anderen Sicherheitswachebeamten zu Boden gestoßen und in der Folge - auf dem Boden liegend - einige Meter zu einem Arrestantenwagen geschleift. Einer der Sicherheitswachebeamten, dem die deutliche Gehbehinderung des Bf aufgefallen war, beendete diese 'Amtshandlung' sinngemäß mit dem Hinweis, daß der Bf. behindert sei und daher ohnedies bereits gestraft genug sei, wobei sich auch dieser Sicherheitswachebeamte breiten Dialektes bediente."
Zum Beweis für dieses Vorbringen beantragt der Bf. die Einvernahme von sechs - näher bezeichneten - Personen als Zeugen sowie seine Vernehmung als Partei.
Der Bf. bekämpft nicht nur die Beschränkung seiner persönlichen Freiheit, sondern auch die Art, in der sie erfolgt sei:
Sicherheitswachebeamte der Bundespolizeidirektion Wien hätten ohne jede Notwendigkeit oder sachliche Rechtfertigung Körpergewalt angewendet. Die Art des Abführens, das im Zuge der Eskortierung erfolgte Niederstoßen des Bf. und das daraufhin vorgenommene Auf-dem-Boden-Schleifen des Bf. stelle eine erniedrigende Behandlung dar.
Der Bf. beantragt, der VfGH wolle erkennen, daß der Bf. durch die bekämpfte Amtshandlung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit sowie im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, nicht einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt wurde.
2. Die Bundespolizeidirektion Wien hat als bel. Beh. - vertreten durch die Finanzprokuratur - eine Gegenschrift erstattet, in der ausgeführt wird, am 28. Juni 1983 sei der bel. Beh. bekannt geworden, daß am Nachmittag dieses Tages in Wien I, Schottenring, Sympathisanten des - am Vortag polizeilich geräumten - "Autonomen Kulturzentrum Gassergasse" eine allgemein zugängliche Versammlung (Demonstration) veranstalten wollten, zu der keine Anzeige gemäß §2 des Versammlungsgesetzes erstattet worden sei. Kurz nach 17.00 Uhr seien etwa 70 Personen am Versammlungsort anwesend gewesen. Nachdem ein Vertreter der bel. Beh. die Versammlung für aufgelöst erklärt und die Versammelten mehrmals vergeblich zum Auseinandergehen aufgefordert habe, hätten die anwesenden Kräfte der Sicherheitswache den Auftrag erhalten, den Versammlungsort zu räumen und die Manifestanten gemäß §35 litc VStG festzunehmen. In der Folge sei es zur Anhaltung von 56 Personen gekommen, von denen einige der Festnahme passiven Widerstand entgegengesetzt hätten. Die Festnahmen seien zum Teil unmittelbar am Versammlungsort und zum Teil in dessen Nahbereich erfolgt, da einige Teilnehmer zu flüchten versucht hätten.
Der Bf. habe sich nicht unter den Festgenommenen befunden. Über ihn scheine auch in den Anhaltemeldungen nichts auf. Alle damals eingesetzten Sicherheitswachebeamten seien befragt worden, jedoch hätte sich keiner zur Festnahme eines Körperbehinderten bekannt.
Die Finanzprokuratur sehe sich aus Gründen anwaltlicher Vorsicht verhalten, den vom Bf. dargestellten Sachverhalt zu bestreiten. Es werde daher der Antrag gestellt, die Beschwerde zurück-, in eventu abzuweisen.
3. a) Aufgrund einer vom Bf. gegen unbekannte Täter wegen §§302 und 115 StGB erstatteten Strafanzeige wurden zur Geschäftszahl 22e Vr .../84 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien Erhebungen gepflogen, in deren Verlauf sich herausstellte, daß die Amtshandlung gegen den Bf. von Polizeirevierinspektor E S durchgeführt worden war.
Polizeirevierinspektor S gab bei seiner Einvernahme vor dem Sicherheitsbüro der Bundespolizeidirektion Wien an, er könne sich noch genau erinnern, daß sich der Demonstrationsort auf dem Ring von der Börsenseite auf die andere Ringseite verlagert habe, weil die Demonstranten zuerst "in diese Richtung" gelaufen seien und dort Front gegen die Polizeibeamten gebildet hätten. Bei dem Versuch der Habhaftwerdung der Demonstranten habe er den Bf. bemerkt, der auf einer Parkbank des zu räumenden Gebietes gesessen sei. Der Bf. habe durch eindeutige Gesten und Handbewegungen in Richtung der Polizei kundgetan, daß er zu den Demonstranten gehöre. Der Bf. habe die Polizeibeamten durch eindeutige Handbewegungen zu unzüchtigen Handlungen aufgefordert und habe mit dem Zeigefinger in Richtung zu seiner Stirn gezeigt, womit er vermutlich habe andeuten wollen, daß die Polizei blöd sei. Außerdem habe der Bf. applaudiert, wenn Demonstranten die Flucht vor den Polizeibeamten gelungen sei. Gemeinsam mit einem Kollegen habe er (S) den Bf. unter den Armen ergriffen und zum Arrestantenwagen "verschafft". Der Bf. habe sich, nachdem er von den Polizeibeamten ergriffen worden sei, vornüber auf den Boden werfen wollen. Das sei ihm aber nicht gelungen, weil er von den Beamten gehalten worden sei. Zu diesem Zeitpunkt habe der Bf. den Beamten gegenüber erklärt, daß er spastisch gelähmt und dadurch gehbehindert sei. Daraufhin sei die Überstellung zum Arrestantenwagen "mit besonderer Sorgfalt und Schonung der Person" durchgeführt worden. Beim Arrestantenwagen sei der Bf. "bei dem großen Tumult" wahrscheinlich von einem festgenommenen Demonstranten, der sich gegen die Verschaffung in den Arrestantenwagen gewehrt habe, angerempelt worden und dadurch zu Sturz gekommen. Er (S) habe dem Bf. sofort aufgeholfen. Ein beim Arrestantenwagen befindlicher Kriminalbeamter, der durch diesen Vorfall die körperliche Behinderung des Bf. eindeutig erkennen konnte, habe nun verfügt, daß der Bf. freigelassen werde, was auch sogleich geschehen sei.
Im Rahmen der Erhebungen wurde am 27. Feber 1984 auch der Bf. vernommen, der vor dem Sicherheitsbüro ua. angab, er habe "damals" im Kulturhaus in Wien IX, Währingerstraße, verkehrt und habe erfahren, daß am Schottenring eine Demonstration "wegen der Gassergasse" geplant sei. Die Sache habe ihn interessiert und er habe daraufhin beschlossen, sich das ganze anzusehen. Er sei dann tatsächlich zur Demonstrationszeit zum Schottenring gegangen, habe sich jedoch nicht direkt beteiligt, sondern nur zugesehen. Er habe sich auf der Seite des Rings gegenüber der Börse aufgehalten, während sich die Demonstration auf der Seite der Börse abgespielt habe. Zuerst habe er gedacht, daß er genügend weit vom Polizeieinsatz weg sei, dann habe sich die Demonstration in Richtung zu ihm (dem Bf.) verlagert, er habe dann aber Angst gehabt und die Parkbank nicht mehr verlassen. Er sei bei der Amtshandlung nicht verletzt und auch nicht mißhandelt worden. Er wehre sich lediglich gegen die ungerechtfertigte Festnahme, gegen die Äußerungen zu seiner Behinderung und dagegen, daß er aufgrund seiner Behinderung entlassen worden sei, obwohl er ja überhaupt keinen Tatbestand gesetzt habe.
b) Nachdem die Staatsanwaltschaft Wien die Anzeige des Bf. gemäß §90 Abs1 StPO zurückgelegt hatte, brachte der Bf. einen Subsidiarantrag ein, welcher mit Beschl. der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 29. Juni 1984 abgewiesen wurde.
Die Ratskammer stellte fest, der am Demonstrationsort auf einer Parkbank sitzende Bf. habe jeweils applaudiert, wenn es einem Demonstranten gelungen sei, vor der Polizei zu fliehen. Er habe auch durch Gesten gezeigt, daß die Polizei dumm sei. Der Sicherheitswachebeamte S habe daher mit einem anderen Kollegen den Bf. in der Meinung, es handle sich um einen Teilnehmer an der Demonstration, festgenommen und zum Arrestantenwagen gebracht. Dort sei der Bf. von einem anderen Demonstranten angerempelt worden und dadurch zu Sturz gekommen. Der Bf. habe aufgrund seiner Behinderung nicht allein aufstehen können und sei sofort danach freigelassen worden. Der Bf. sei weder mißhandelt noch verletzt worden. Der Sicherheitswachebeamte S habe aufgrund des Verhaltens des Bf. zu Recht annehmen können, daß es sich um einen Teilnehmer an der nicht angemeldeten und nicht genehmigten Demonstration handle, was wiederum die vorläufige Festnahme des Bf. zu Recht nach sich ziehen habe können. Wenn der Bf. in seinem Subsidiarantrag behaupte, von Polizeibeamten im Zuge seiner Festnahme zu Boden gestoßen worden zu sein, widerspreche diese Darstellung seinen eigenen Angaben vom 27. Feber 1984, wonach er von der Polizei weder mißhandelt noch verletzt worden sei.
II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Aufgrund des Parteienvorbringens und des Inhaltes des Aktes 22e Vr .../84 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien steht - soweit dies für die rechtliche Beurteilung der vorliegenden Beschwerde von Belang ist - folgendes fest:
Am Nachmittag des 28. Juni 1983 fand sich am Schottenring in Wien in der Nähe der Börse eine größere Anzahl von Personen zu einer Versammlung zusammen. Nachdem ein Vertreter der bel. Beh. die Versammlung für aufgelöst und die Versammelten zum Verlassen des Versammlungsortes aufgefordert hatte, diese jedoch der Aufforderung nicht Folge leisteten, forderte der Vertreter der bel. Beh. die Manifestanten neuerlich auf, sogleich auseinanderzugehen, widrigenfalls sie unter Anwendung von Zwangsmitteln festgenommen werden würden. Da auch diese Aufforderung fruchtlos blieb, nahmen Sicherheitswachebeamte eine größere Anzahl von Festnahmen vor. Im Zuge der Auflösung der Versammlung, welches Geschehen sich (auch) auf die gegenüberliegende Seite des Rings verlagert hatte, sah der Sicherheitswachebeamte S den dort in unmittelbarer Nähe von Versammlungsteilnehmern auf einer Parkbank sitzenden Bf., welcher jeweils applaudierte, wenn es einem Demonstranten gelang, vor der Polizei zu fliehen und welcher durch Gesten zeigte, daß die Polizei dumm sei. Der Sicherheitswachebeamte nahm daraufhin den Bf. fest, indem er ihn - gemeinsam mit einem Kollegen - zu einem Arrestantenwagen brachte. Vor Besteigen des Arrestantenwagens wurde der Bf. wieder freigelassen.
Der VfGH schließt sich hiebei (betreffend das Verhalten des Bf. auf der Parkbank in Form von Applaus und Gesten, welches vom Bf. in Abrede gestellt wird) den diesbezüglichen, von der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien getroffenen Feststellungen an.
2. a) Nach §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen. Hiezu zählt auch §35 VStG (VfSlg. 7427/1974, 6752/1972), der in allen ihm zu unterstellenden Fällen voraussetzt, daß die Person "auf frischer Tat betreten" wird, dh. daß sie eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begeht und bei Begehung der Tat betreten wird. Nach der litc des §35 ist die Festnehmung zulässig, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.
Nach §14 Abs1 Versammlungsgesetz besteht, sobald eine Versammlung für aufgelöst erklärt ist, für alle Anwesenden die - im Falle ihrer Nichtbeachtung nach §19 mit Strafe bedrohte - Verpflichtung, den Versammlungsort sogleich zu verlassen und auseinanderzugehen.
b) Auch der Bf. räumt ein, in jenem Bereich auf der Parkbank gesessen zu sein, in welchem die Auflösung der Versammlung durch die Sicherheitswachebeamten stattfand. Hiebei ist es ohne Bedeutung, ob der Bf. - wie er es in der Beschwerde (s. oben unter Punkt I.1.) darzustellen versucht - rein zufällig dort hingelangt war oder ob er - wie er am 27. Feber 1984 vor dem Sicherheitsbüro angab - in Kenntnis der Versammlung sich aus "Interesse" hinbegeben hatte.
Bei dem oben festgestellten Sachverhalt konnte der die Festnahme vornehmende Sicherheitswachebeamte S davon ausgehen, daß der Bf. - seine durch Gesten zum Ausdruck kommende Beteiligung am Geschehen ließ ihn ebenso wie die örtliche Nähe zu anderen Manifestanten als Versammlungsteilnehmer erscheinen - ebenfalls zu den Manifestanten gehörte und der Aufforderung, den Versammlungsort sogleich zu verlassen, nicht nachkam, sich vielmehr auf die Parkbank niedergesetzt hatte und daher auf frischer Tat betreten wurde. Die Annahme des Sicherheitswachebeamten S, der Bf. verharre in Fortsetzung der Übertretung nach §19 Versammlungsgesetz, war unter diesen Umständen durchaus vertretbar (vgl. VfSlg. 7464/1974 und 7987/1977).
Es mangelte jedoch im vorliegenden Fall an der für die Rechtmäßigkeit einer Festnehmung nach §35 litc VStG erforderlichen Abmahnung:
Es kann hier dahingestellt bleiben, ob und unter welchen Umständen eine allgemein an die Versammelten gerichtete Aufforderung des Vertreters der bel. Beh. zum Auseinandergehen an sich als Abmahnung nach §35 litc VStG qualifiziert werden kann. Unter den spezifischen Gegebenheiten des hier vorliegenden Falles und der Form des Geschehens, wie es sich zwischen dem Bf. und dem Sicherheitswachebeamten S abgespielt hat, kann die frühere (generelle) Aufforderung des Vertreters der bel. Beh. dem Bf. gegenüber nicht als Abmahnung iS des §35 litc VStG angesehen werden. Der Sicherheitswachebeamte war nämlich nach den Umständen des Falles (der Bf. saß auf einer Parkbank, lief nicht davon und es sind auch sonst keine Umstände erkennbar, welche die Aufnahme eines Gespräches zwischen dem Sicherheitswachebeamten und dem Bf. nicht möglich erscheinen ließen) in keiner Weise gehindert, dem Bf. gegenüber unmittelbar und individuell eine Abmahnung auszusprechen. Erst dann, wenn der Bf. dieser Abmahnung nicht Folge geleistet hätte, wäre seine Festnahme nach §35 litc VStG gerechtfertigt gewesen.
Es ist daher auszusprechen, daß der Bf. durch die bekämpfte Festnahme im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden ist.
c) Im Hinblick auf die getroffene Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Festnahme des Bf. erübrigt sich ein Eingehen auf das Vorbringen bezüglich der Modalitäten dieser Festnahme (vgl. VfGH 22. 11. 1984 B526/80).
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, Versammlungsrecht, WiederholungsgefahrEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1985:B488.1983Dokumentnummer
JFT_10149696_83B00488_00