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L8 Boden- und VerkehrsrechtNorm
B-VG Art131 ffBeachte
Kundmachung am 25. Juni 1985, LGBl. für Wien 30/1985; s. die Anlaßfälle VfSlg. 10401/1985; B183/80 vom 27. September 1985; B688/83, B56/84 und B79/84, alle vom 19. März 1986, sowie B246/83Leitsatz
Wr. Bauordnungsnov. 1984; die in ArtII, zweiter Satz, angeordnete Rückwirkung bewirkt eine Festlegung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes, an welchen Normen sie die angefochtenen Verwaltungsakte zu messen haben - verfassungswidriger Eingriff in die richterliche Tätigkeit der Gerichtshöfe des öffentlichen RechtesSpruch
In ArtII des Gesetzes vom 4. Mai 1984, mit dem die Bauordnung für Wien geändert wird, LGBl. 30 (Bauordnungsnov. 1984), wird der zweite Satz als verfassungswidrig aufgehoben.
Die aufgehobene Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.
Frühere Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Landeshauptmann von Wien ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im LGBl. verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit dem 20. August wurde im 23. Stück des LGBl. für Wien unter der Nr. 30 die Bauordnungsnov. 1984 kundgemacht. Sie erschöpft sich in der Neufassung des - die Organisation der Bauoberbehörde betreffenden - §138 der Bauordnung. Ua. enthält diese Bestimmung nun einen neuen Absatz mit folgendem Inhalt:
"(8) Dem Landesamtsdirektor oder dem von ihm bestellten Vertreter obliegt es, die Bescheide der Bauoberbehörde zu unterfertigen und im Verfahren vor dem VfGH oder VwGH ohne Einholung eines Beschlusses der Bauoberbehörde in deren Namen die Akten des Verwaltungsverfahrens vorzulegen, Gegenschriften zu erstatten, Stellungnahmen abzugeben und einen Vertreter zu bestellen. Mit der Unterfertigung von Bescheiden, Gegenschriften und Stellungnahmen kann der Landesamtsdirektor oder der von ihm bestellte Vertreter ein Mitglied der Bauoberbehörde beauftragen."
ArtII der Nov. lautet:
"Dieses Gesetz tritt am 1. Mai 1984 in Kraft.
Auf die bei den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes anhängigen Verfahren findet dieses Gesetz Anwendung."
2. Beim VfGH ist zu B44/84 die am 16. Jänner 1984 eingebrachte Beschwerde gegen einen Berufungsbescheid der Bauoberbehörde für Wien anhängig, mit dem der angefochtene Bescheid des Magistrates (Abteilung 37/2) über die Abtragung einer Baracke auf der Grünfläche Prater Hauptallee - Vivariumstraße - Sportklubstraße bestätigt wird. Der Berufungsbescheid ist "für den Magistratsdirektor", die Gegenschrift "für den Vorsitzenden der Bauoberbehörde" von Obersenatsrat Dr. M gefertigt.
Aus Anlaß dieser Beschwerde hat der VfGH das Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des zweiten Satzes in ArtII der Bauordnungsnov. 1984 eingeleitet (G1/85). Er hat das Bedenken geäußert, daß der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung ausschließlich festlege, an welchen Normen die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den bei ihnen anhängigen Verfahren den angefochtenen Verwaltungsakt zu messen hätten. Der Gerichtshof ging vorläufig davon aus, daß diese Frage einer Regelung durch den Gesetzgeber nicht zugänglich sei, sondern allein aufgrund der einschlägigen Bestimmungen der Bundesverfassung, nämlich den Art131 ff. und 144 B-VG beurteilt werden müsse. Es schien ihm, daß die in Rede stehende Vorschrift die Gerichtshöfe daran hindere - und im Hinblick auf den offenkundigen Zusammenhang dieser Rückwirkungsbestimmung mit der jüngsten Rechtsprechung des VwGH zur Zulässigkeit der Intimierung von Bescheiden kollegialer Verwaltungsbehörden der Stadt Wien (zB Erk. vom 11. März 1983, 82/17/0068) geradezu darauf abziele, die Gerichtshöfe daran zu hindern -, ihrer Aufgabe nach den Bestimmungen der Bundesverfassung nachzukommen. Sie schien damit einen verfassungswidrigen Eingriff in die Rechtsprechung zu bewirken.
Unter Hinweis auf diese Bedenken hat der VfGH ferner aus Anlaß weiterer bei ihm am 1. Mai 1984 anhängig gewesener Beschwerden gegen Bescheide der Bauoberbehörde Gesetzesprüfungsverfahren eingeleitet (B183/80, B246/83, B688/83, 56/84 und B79/84 - G23 - 27/85).
II. Die Gesetzesprüfungsverfahren sind zulässig.
Die Verfahren haben nichts ergeben, was daran zweifeln ließe, daß die Anlaßbeschwerden zulässig sind und der VfGH bei ihrer Beurteilung den zweiten Satz des ArtII der Bauordnungsnov. 1984 anzuwenden hätte. Die Prozeßvoraussetzungen sind gegeben.
III. Die Bedenken des VfGH treffen zu. Der zweite Satz des ArtII der Bauordnungsnov. 1984 bewirkt einen verfassungswidrigen Eingriff in die Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (Art131 ff. und 144 B-VG).
Die Wr. Landesregierung bringt nichts vor, was die dargelegten Bedenken zerstreuen könnte. Sie weist darauf hin, daß Gesetze (mit Ausnahme der Strafgesetze) rückwirkend erlassen werden dürfen und daß auch der Überprüfung vor dem 1. Mai 1984 erlassener baubehördlicher Bescheide durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts die Rechtslage im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides zugrunde zu legen sei; nur sei eben die Nov. in den am 1. Mai 1984 anhängig gewesenen Fällen (rückblickend) schon im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides in Kraft gewesen. Ein einheitlicher Termin für das Inkrafttreten des Gesetzes hätte mit dem Zeitpunkt der Erlassung des ältesten bei den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts angefochtenen Bescheides zusammenfallen müssen, obwohl mangels Anfechtung oder wegen Abschlusses des Verfahrens praktische Folgen der Rückwirkung nicht hätten eintreten können. Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts befänden sich in keiner anderen Lage als bei der Prüfung von Bescheiden, die nach dem 1. Mai 1984 erlassen und schon vor der Kundmachung der Nov. angefochten wurden. Auch die rückwirkende Veränderung der Rechtslage mit dem Ziel der Sanierung mangelhafter Verwaltungsakte sei zulässig:
"Keine Verfassungsnorm verbietet dem einfachen Gesetzgeber, die Rückwirkung von Gesetzen auch dort anzuordnen, wo Auswirkungen auf Beschwerdeverfahren ... der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes zu erwarten sind, weil die angefochtenen Verwaltungsakte im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerden an anderen Normen zu messen wären als an jenen, die im Zeitpunkt der Setzung (Erlassung) der Verwaltungsakte in Geltung standen. Bereits in seinem Erkenntnis vom 29. September 1950, Slg. 2009, hat sich der VfGH mit der Frage der Sanierung fehlerhafter Verwaltungsakte durch ein nachfolgendes rückwirkendes Gesetz befaßt. Er hat damals zwar rechtspolitische Bedenken gegen eine solche Vorgangsweise des Gesetzgebers geäußert, das Vorliegen verfassungsrechtlicher Bedenken aber verneint. Der Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes legte er die neue, durch das rückwirkende Gesetz geschaffene Rechtslage zugrunde."
Diese Ausführungen übersehen, daß der VfGH im Einleitungsbeschluß nicht Zulässigkeit jeder rückwirkenden Erlassung von Gesetzen in Zweifel zieht und auch die Sanierung fehlerhafter Verwaltungsakte durch den Gesetzgeber nicht für bedenklich hält. Der Gerichtshof hat das Verfahren nur deshalb eingeleitet, weil die in Prüfung gezogene Bestimmung der Sache nach ausschließlich festlegt, an welchen Normen die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den bei ihnen anhängigen Verfahren den Verwaltungsakt zu messen haben. Diese gezielte Einflußnahme auf anhängige Verfahren schien dem VfGH - vorläufig - ein verfassungswidriger Eingriff in die Rechtsprechung der Gerichtshöfe zu sein.
Die Landesregierung stellt eine solche Einflußnahme gar nicht in Abrede. Sie sucht sie aber als rein praktische Beschränkung einer allgemein gedachten Rückwirkung auf jene Fälle darzustellen, in denen diese Rückwirkung überhaupt noch Folgen haben könne. Indessen zeigt schon die Gruppe der - durch die angeordnete Rückwirkung nicht erfaßten - Fälle, in denen am 1. Mai 1984 zwar ein Verfahren vor den Gerichtshöfen noch nicht anhängig, die Frist zur Erhebung einer Beschwerde aber noch offen war, daß es dem Gesetzgeber nur um die bereits laufenden Verfahren gegangen ist, in denen er (nach dem im Einleitungsbeschluß genannten Erk. des VwGH, das den Gesetzgebungsakt offenkundig ausgelöst hat) eine Aufhebung der angefochtenen Bescheide erwarten mußte.
Wenn eine Änderung der Rechtslage aber ausschließlich bewirken soll, daß die bei den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts anhängigen Verfahren anhand der geänderten Rechtslage beurteilt werden, läuft die Anordnung der Rückwirkung ohne Zweifel darauf hinaus festzulegen, an welchen Normen die Gerichtshöfe die angefochtenen Verwaltungsakte zu messen haben. Der VfGH verkennt dabei nicht, daß das rückwirkende Inkraftsetzen von Normen immer zugleich auch den Maßstab für die Prüfung bereits erlassener Verwaltungsakte ändert. Dieses Ergebnis muß als notwendige Folge der - regelmäßig zulässigen - Rückwirkung eben hingenommen werden. Denn der bloße Umstand, daß bereits ein gerichtliches Verfahren anhängig ist, kann den Bf. nicht von einer allgemein angeordneten Rückwirkung ausnehmen. Wird aber die Rückwirkung gezielt auf anhängige Verfahren beschränkt, liegt die Einflußnahme auf die Rechtsprechung der Gerichtshöfe offen zutage.
Eben deshalb ist auch das dem Erk. VfSlg. 2009/1950 für den Standpunkt der Landesregierung nichts zu gewinnen: es hatte sich dort um eine - unbedenkliche - allgemeine Rückwirkung (zur Sanierung mangelhafter Verwaltungsakte) gehandelt.
Es ist das alleinige Ziel der in Prüfung stehenden gesetzgeberischen Maßnahme, die Bf. in den anhängigen Verfahren um den möglichen Erfolg ihrer Beschwerde zu bringen. Jedenfalls eine solch unmittelbare Einflußnahme auf die Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts mit dem Ziel, sie zu hindern, ihrer Aufgabe nach den Bestimmungen der Bundesverfassung nachzukommen, stellt einen verfassungswidrigen Eingriff in die richterliche Tätigkeit dar.
Die in Prüfung gezogene Bestimmung ist daher aufzuheben.
Die übrigen Aussprüche stützen sich auf Art140 Abs5 bis 7 B-VG. Frühere Bestimmungen, die neuerlich wirksam werden könnten, kommen im Hinblick auf den Inhalt der aufzuhebenden Vorschrift nicht in Betracht.
Schlagworte
Baurecht, VfGH / Allg, Verwaltungsgerichtshof, VfGH / Prüfungsmaßstab, Rückwirkung, Geltungsbereich (zeitlicher) eines GesetzesEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1985:G1.1985Dokumentnummer
JFT_10149688_85G00001_00