Index
10 VerfassungsrechtNorm
StGG Art8Leitsatz
Art8 StGG; Art5 MRK; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; vertretbare Annahme einer Ordnungsstörung iSd ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idF BGBl. 232/1977; rechtmäßige Festnahme und anschließende Anhaltung (§35 litc und §36 VStG 1950)Spruch
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. R S begehrt in seiner unter Berufung auf Art144 Abs1 B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er durch (der Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. zuzurechnende) Amtshandlungen, nämlich seine Festnahme am 25. März 1984 in Wien und seine darauffolgende Verwahrung, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG sowie Art5 MRK) verletzt worden sei.
1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und beantragte darin die Abweisung der Beschwerde.
1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß der Bf. am 25. März 1984, 0.10 Uhr, im Stiegenabgang zur Diskothek "M" in Wien, A-Gasse, von einem im Dienst befindlichen Kriminalbeamten (Bezirksinspektor K G) wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idF des ArtI Z8 des BGBl. 232/1977 gemäß §35 litc VStG 1950 festgenommen wurde. Weiters ergeben die Akten, daß die Bundespolizeidirektion Wien über den Bf. mit dem - bisher nicht in Rechtskraft erwachsenen - mündlich verkündeten Straferk. vom 25. März 1984, Pst-6485/S/84, wegen der eingangs genannten Verwaltungsübertretung eine Geldstrafe von 500 S, im Nichteinbringungsfall eine Ersatzfreiheitsstrafe von 50 Stunden verhängte und den Betroffenen daraufhin, und zwar um 10.40 Uhr desselben Tages, sogleich aus der Haft entließ.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977).
2.1.2. Demgemäß ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, in vollem Umfang zulässig.
2.2.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.
§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung des Delikts betreten werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann vorliegt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).
Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.
2.2.2.1. Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Behördenorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen konnte, daß der Bf. sich die Übertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 zu Schulden kommen ließ (s. Punkt 1.2.).
2.2.2.2. Nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 igF begeht eine Verwaltungsübertretung, wer durch ein Verhalten, das Ärgernis zu erregen geeignet ist, die Ordnung an öffentlichen Orten stört.
Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8580/1979, 9860/1983) und des VwGH (VwSlg. 2263 A/1951, 6581 A/1965, 7815 A/1970) durch zwei Elemente gekennzeichnet: Der Täter muß einmal ein Verhalten zeigen, das geeignet ist, bei einem normal empfindenden Menschen Ärgernis zu erregen; zum zweiten muß dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort stören, also einen Zustand herstellen, welcher der Ordnung widerspricht, wie sie an einem öffentlichen Ort gefordert werden muß.
2.2.3.1. Dazu stellt der VfGH aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:
Der Bf. befand sich nachts zum 25. März 1984 in der Diskothek "M" in Wien, A-Gasse, und belästigte dort, nach eigenen Angaben bereits ("ziemlich") unter Alkoholeinfluß stehend, einige Gäste. Der Geschäftsführer M S suchte ihn daraufhin zu beruhigen, hatte damit aber keinen Erfolg. Als er den Ruhestörer ins Freie zu führen trachtete und dabei einen leichten Schlag ins Gesicht erhielt, verständigte er die Polizei. Die in der Nähe Inspektionsdienst versehenden Kriminalbeamten K G und K P trafen den Bf. im schmalen Stiegenabgang zum Lokal mit gestreckten Beinen sitzend an, wo er eine Reihe von Gästen beim Zu- und Abgang behinderte und dadurch belästigte. K G - der sich als Kriminalbeamter auswies - forderte ihn offensichtlich in Handhabung des §25 Abs2 Wr. Veranstaltungsgesetz, LGBl. 12/1971, zum Fortgehen auf, der Alkoholisierte reagierte aber nur mit der Andeutung eines Kusses in Richtung Dienstkokarde. Von den beiden Beamten zur Ausgangstür geleitet, drängte der Bf., der durch sein störendes Verhalten - (mit-)bedingt durch die Enge des Raums - bereits einen Tumult verursacht hatte, wieder zurück; er wurde nun vom Zeugen G - erfolglos - abgemahnt und schließlich festgenommen.
2.2.3.2. Diese Sachverhaltsfeststellungen insbesondere zum Tathergang stützen sich in erster Linie auf die nach Lage des Falles durchaus unbedenklichen und glaubhaften Aussagen der einvernommenen Zeugen M S, K G und K P sowie auf den Inhalt der Administrativakten: Damit wurde die abweichende Aussage des als Partei gehörten Bf. widerlegt, der jede Ordnungsstörung bestritt, aber im Zeitpunkt der Amtshandlung in seiner Wahrnehmungsfähigkeit durch Alkoholgenuß deutlich beeinträchtigt war.
2.2.4. Angesichts dieser Sach- und Beweislage - nämlich im Hinblick auf die beharrliche, einen Tumult auslösende Behinderung der Besucher eines (ersichtlich nicht bloß von einem von vornherein beschränkten Personenkreis betretbaren (VwSlg. 6581 A/1965)) Unterhaltungslokals - durfte der Zeuge K G - unbeschadet der Frage der tatsächlichen Tatbestandsverwirklichung - immerhin mit Grund annehmen, daß der Bf. eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 begangen habe. War aber die Beurteilung des Verhaltens des Bf. als Verwaltungsübertretung vertretbar und lag - wie hier - infolge Betretung auf frischer Tat und versuchter Tatfortsetzung trotz Abmahnung der Festnehmungsgrund des §35 litc VStG 1950 vor, entsprach die bekämpfte Festnehmung dem Gesetz.
2.2.5. Unter den obwaltenden Umständen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Grund für die anschließende verwaltungsbehördliche Verwahrung des Bf. schon vor dem Zeitpunkt der Entlassung aus der Haft entfallen wäre.
Gemäß §36 Abs1 VStG 1950 hat die Behörde den (übernommenen) Festgenommenen sofort, spätestens aber binnen vierundzwanzig Stunden nach der Übernahme zu vernehmen. In Fällen wie dem vorliegenden (Festnahme etwa um Mitternacht) ist zu fordern, daß die Vernehmung und die (Straf-)Verhandlung nicht später als in den Morgen- oder zumindest in den frühen Vormittagsstunden stattfindet (vgl. VfSlg. 9368/1982). Dies traf hier zu, sodaß von einer ungerechtfertigten Verfahrensverzögerung nicht die Rede sein kann, zumal auch die damalige (anfängliche) Alkoholisierung des Bf. zu beachten war (vgl. VfSlg. 9860/1983).
2.2.6. Demgemäß wurde der Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
2.3. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde - da die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder behauptet wurde noch im Verfahren hervorkam und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die den bekämpften Verwaltungsakten zugrundeliegenden Rechtsvorschriften nicht entstanden - als unbegründet abzuweisen.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, OrdnungsstörungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1985:B356.1984Dokumentnummer
JFT_10149393_84B00356_00