Index
10 VerfassungsrechtNorm
StGG Art8Leitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Art8 StGG; keine vertretbare Annahme des "Betretens auf frischer Tat" (Ausübung der Prostitution); Festnahmevoraussetzung des §35 VStG 1950 nicht gegeben; Verletzung im Recht auf persönliche FreiheitSpruch
Die Bf. ist durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch Festnahme und anschließende Verwahrung am 1. Jänner 1983 durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1. Aus der Beschwerde und den von der bel. Beh. vorgelegten Verwaltungsakten ergibt sich - auf den wesentlichen Gehalt reduziert - folgendes Verwaltungsgeschehen:
Am 31. Dezember 1982 erbat der Ehemann der Bf. in den späten Abendstunden über Polizeinotruf das Einschreiten von Polizeiorganen gegen seine Ehefrau, die nach einem ehelichen Streit tobte und das Mobiliar ihrer Wohnung zu zerstören begann. Als die Streifenbeamten der Bundespolizeidirektion Wien am Einsatzort eintrafen, hatte sie sich aber bereits beruhigt. Auf Befragung der einschreitenden Beamten erklärte sie, mit ihrem Ehemann deshalb gestritten zu haben, weil ihr dieser ihre gesamten aus Prostitution erzielten Einkünfte ständig abnähme. Die Bf. besaß keinen Ausweis gemäß §2 der V des BM für Gesundheit und Umweltschutz vom 9. Mai 1974, BGBl. 314, über die gesundheitliche Überwachung von Personen, die mit ihrem Körper gewerbsmäßig Unzucht treiben. Dennoch erklärte sie, weiter der Prostitution nachzugehen, allerdings die Einkünfte daraus für sich selbst behalten zu wollen. Wegen Verdachts der Übertretung des GeschlechtskrankheitenG, StGBl. 152/1945, und der erwähnten V des BM für Gesundheit und Umweltschutz, BGBl. 314/1974, wurde sie gemäß §35 litc VStG 1950 am 1. Jänner 1983 gegen 00.25 Uhr festgenommen und bis gegen 17 Uhr dieses Tages angehalten.
Diese Sachverhaltsannahme beruht auf den glaubwürdigen Angaben der bel. Beh.
2. Der VfGH hat erwogen:
2.1. Die Verhaftung oder Festnahme durch Verwaltungsorgane im Rahmen der Verwaltungsstrafrechtspflege stellt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt dar (VfSlg. 7829/1976, 7983/1977, 8044/1977, 8115/1977, 8364/1978, 8507/1979, 8580/1979 und viele mehr). Dies gilt auch für die Anhaltung (VfSlg. 8507/1979). Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen erfüllt sind, ist die Beschwerde zulässig.
2.2. Das Grundrecht auf Schutz der persönlichen Freiheit (Art8 StGG iVm. Gesetz vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutz der persönlichen Freiheit) wird nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes durch eine Festnahme bzw. Anhaltung dann verletzt, wenn diese in gesetzwidriger Weise erfolgt (VfSlg. 7162/1973, 7427/1974, 7499/1975 und andere mehr). Nach §4 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutz der persönlichen Freiheit dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt nämlich nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen. Zu diesen Fällen zählt auch die Bestimmung des §35 VStG 1950, die jedenfalls voraussetzt, daß die Person "auf frischer Tat betreten" wird, dh. daß sie eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begeht und bei Begehung der Tat betreten wird. Daß die hiebei vorzunehmende rechtliche Beurteilung der Tat richtig sein muß, ist nicht erforderlich; nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH genügt es vielmehr, daß sie vertretbar ist (vgl. VfSlg. 7987/1977 und die dort zitierte Vorjudikatur).
Auf dem Boden des festgestellten Sachverhaltes kann der VfGH nicht finden, daß die Bf. "auf frischer Tat betreten" wurde. Diese Voraussetzung für die Festnahme wäre nur dann gegeben gewesen, wenn die Bf. bei einer Handlung oder Unterlassung (§1 VStG 1950) betreten worden wäre, die zum Tatbild der zur Last gelegten Verwaltungsübertretung, hier: Ausübung der Prostitution, ohne im Besitze des erforderlichen gesundheitsbehördlichen Ausweises zu sein, gehört (vgl. VfSlg. 7252/1974). Dies war aber nach der Aktenlage eindeutig nicht der Fall. Die Beamten haben die Bf. lediglich im Anschluß an einen ehelichen Streit in ihrer Wohnung zusammen mit ihrem Ehemann angetroffen. Dieses Fehlen der notwendigen Voraussetzung des §35 VStG 1950 räumt im übrigen auch die bel. Beh. selbst ein. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, ProstitutionEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1985:B72.1983Dokumentnummer
JFT_10149393_83B00072_00