TE Vfgh Beschluss 1985/6/24 B93/85

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Veröffentlicht am 24.06.1985
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Index

22 Zivilprozeß, außerstreitiges Verfahren
22/02 Zivilprozeßordnung

Norm

VfGG §33
ZPO §146 Abs1

Leitsatz

ZPO; §146 Abs1 idF der Zivilverfahrens-Nov. 1983; kein höherer Grad des Verschuldens als leichte Fahrlässigkeit bei Versäumung der Frist zur Beschwerdeerhebung infolge eines Versehens anläßlich der Postaufgabe einer großen Anzahl von gleichzeitig einzubringenden Beschwerden unter besonderen Umständen; Bewilligung der Wiedereinsetzung

Spruch

Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Erhebung der Beschwerde wird stattgegeben.

Begründung

Begründung:

1. Mit der am 1. Feber 1985 beim VfGH überreichten Beschwerde bekämpft der Bf. Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, welche am 19. Dezember 1984 von Organen der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf gegen ihn gesetzt worden sein sollen. Gleichzeitig beantragt der Bf. die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Beschwerdeerhebung.

Zum (rechtzeitig eingebrachten) Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird vorgebracht, die vorliegende Beschwerde sei am 30. Jänner 1985 (dem letzten Tag der sechswöchigen Beschwerdefrist) zur Postaufgabe fertig vorbereitet gewesen. Der Beschwerdevertreter habe iZm. den Vorgängen in der Stopfenreuther Au am 19. Dezember 1984 insgesamt neun Beschwerden für verschiedene Bf. einzubringen gehabt. Noch am letzten Tag der Frist hätten in seiner Kanzlei zahlreiche Personen angerufen, die noch zweckdienliche Angaben zu den Vorfällen gemacht, Fotos gebracht, sich als Zeugen angeboten oder Namen anderer in Frage kommender Zeugen bekannt gegeben hätten. Die neun Beschwerden hätten daher erst am letzten Tag der Frist fertiggestellt werden können. Aufgrund dieser Umstände habe in der Kanzlei des Beschwerdevertreters in den Abendstunden des 30. Jänner 1985 "äußerste Betriebsamkeit und Hektik" geherrscht, da zu fürchten gewesen sei, daß die Beschwerden nicht mehr zur Post gegeben werden könnten. Auf dem Schreibtisch der Kanzleileiterin des Beschwerdevertreters, A M, hätten sich die Beschwerden samt Kopien und Begleitschreiben getürmt. Der Beschwerdevertreter habe sich vor dem Verlassen seiner Kanzlei gegen 21.00 Uhr davon überzeugt, daß sämtliche von ihm verfaßten neun Beschwerden geschrieben, korrigiert, gebunden, gestempelt, in der erforderlichen Anzahl kopiert und mit den entsprechenden Beilagen versehen waren. Sodann habe er alle Beschwerden unterschrieben und Frau A M beauftragt, die Beschwerden anschließend am Postamt Westbahnhof aufzugeben. Er habe seine Kanzleileiterin auch angewiesen, aus Gründen der Portoersparnis alle Beschwerden in einer Versandtasche zu versenden. AM habe anschließend die Beschwerden gezählt und anläßlich dieser Kontrolle eine mangelhafte Kopie eines Schriftsatzes gegen eine andere Kopie ausgetauscht. Hiebei dürfte die vorliegende Beschwerde zwischen zwei fremde Kopien gerutscht und nicht mehr zu sehen gewesen sein. Erst am folgenden Tag, dem 31. Jänner 1985, habe AM entdeckt, daß die vorliegende Beschwerde liegengeblieben sei. Es handle sich bei AM um eine umsichtige und äußerst verläßliche Kanzleikraft, welche seit dem Jahre 1978 in Rechtsanwaltskanzleien tätig sei.

Zur Bescheinigung seines Vorbringens legt der Beschwerdevertreter eine eidesstättige Erklärung der Frau AM vor, in welcher sie die Darstellung des Beschwerdevertreters über den Ablauf der Geschehnisse am 30. Jänner 1985 bestätigt.

2. Da das VerfGG 1953 in seinem §33 die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht selbst regelt, sind nach §35 dieses Gesetzes die entsprechenden Bestimmungen des §146 Abs1 ZPO idF der Zivilverfahrens-Nov. 1983, BGBl. 135/1983, sinngemäß anzuwenden: darnach ist einer Partei, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein "unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis" an der rechtzeitigen Vornahme einer befristeten Prozeßhandlung verhindert wurde und die dadurch verursachte Versäumung für sie den Rechtsnachteil des Ausschlusses von der vorzunehmenden Prozeßhandlung zur Folge hatte. Daß der Partei - fährt das Gesetz fort - ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.

Unter "minderem Grad des Versehens" - ein Begriff, der sich bereits in §2 Dienstnehmerhaftpflichtgesetz bzw. §3 Organhaftpflichtgesetz findet - ist nach der Rechtsprechung des VfGH leichte Fahrlässigkeit zu verstehen, die dann vorliegt, wenn ein Fehler unterläuft, den gelegentlich auch ein sorgfältiger Mensch begeht (vgl. VfSlg. 9817/1983).

3. Nach dem glaubhaften Vorbringen des Beschwerdevertreters kann aufgrund der keineswegs alltäglichen Zahl von - zur selben Zeit einzubringenden - VfGH-Beschwerden sowie des damit verbundenen ungewöhnlichen Arbeitsaufwandes in seiner Kanzlei nicht gesagt werden, daß der Fristversäumung mehr als leichte Fahrlässigkeit zugrunde liegt. Der VfGH sieht nach Lage des Falles keinen Grund, das - durch eine Erklärung an Eides statt bescheinigte - Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag in Zweifel zu ziehen, daß es am Abend des 30. Jänner 1985 angesichts der großen Anzahl zur Post zu gebender Schriftstücke durch eine Verkettung unglückseliger Umstände dazu gekommen ist, daß die vorliegende Beschwerde nicht eingebracht wurde. Wenngleich für rechtskundige Parteienvertreter ein strenger Maßstab anzulegen ist, kann bei der besonderen Konstellation des vorliegenden Falles nicht davon gesprochen werden, daß nicht auch einem sorgfältig arbeitenden Menschen eine derartige Fehlleistung gelegentlich unterlaufen kann.

4. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist daher - gemäß §33 VerfGG 1953 in nichtöffentlicher Sitzung - zu bewilligen.

Schlagworte

VfGH / Wiedereinsetzung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1985:B93.1985

Dokumentnummer

JFT_10149376_85B00093_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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