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10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelbLeitsatz
Art144 Abs1 B-VG; Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, wenn Sicherheitsorgane jemanden im Zuge einer Amtshandlung abdrängen (zur Seite drängen) und damit physischem Zwang unterwerfen; Zulässigkeit der Beschwerde Art8 StGG; Art5 MRK; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch das einer "Verhaftung" keineswegs gleichzuhaltende bloße Abdrängen; kein Verstoß gegen Art3 MRK Art144 Abs1; Unzulässigkeit der Beschwerde mangels Nachweis für die behaupteten Exekutivakte - kein geeigneter BeschwerdegegenstandSpruch
I. Die Bf. ist am 14. November 1982 in Wien ..., dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien sie zur Seite gedrängt haben, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird in diesem Umfang abgewiesen.
II. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Dr. med. A G begehrte in ihrer mit Berufung auf Art144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, am 14. November 1982 in der Wohnung des Dr. med. F R in Wien ..., dadurch, daß die Sicherheitswachebeamten F D und K Z sie mit dem Zuruf, den Weg freizugeben, unter Gewaltanwendung zur Seite drängten und einige Zeit später am Büstenhalter erfaßten und zur Seite schleuderten, wobei sich ihre Brust entblößte, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, nämlich auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK) und auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK), verletzt worden zu sein.
1.1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Antrag stellte, die Beschwerde teils zurück-, teils abzuweisen und die Bf. zum Ersatz der Verfahrenskosten zu verpflichten.
1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß die Funkstreifendienst versehenden Sicherheitswachebeamten F D und K Z am 14. November 1982 frühmorgens die Eingangstür zur Wohnung Wien ..., wegen einer im Wohnungsinneren mutmaßlich stattfindenden, tätlichen Auseinandersetzung mit Hilfe von Feuerwehrleuten öffneten und anschließend in die Räumlichkeiten eindrangen. Im weiteren Verlauf der Amtshandlung nahm Inspektor Z den dort - mit Dr. A G angetroffenen - Wohnungsinhaber Dr. F R wegen des Verdachtes des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §269 Abs1 StGB aus dem Haftgrund des §175 Abs1 Z1 StPO fest und führte ihn ins nahegelegene (Kommissariats-)Wachzimmer ab. Diese exekutiven Maßnahmen gegen Dr. F R bilden Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens Z B643/82.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1. Zur behaupteten Abdrängung der Bf.:
2.1.1. Aufgrund der Ergebnisse des in dieser Beschwerdesache durchgeführten Beweisverfahrens wurde folgender - entscheidungsrelevante - Sachverhalt als erwiesen festgestellt:
Wie der Zeuge F D aussagte, mußte die Bf. abgedrängt ("zur Seite gedrängt") werden, weil sie den Weg verstellte, als man den festgenommenen Dr. F R aus der Wohnung eskortierte. Diese - im wesentlichen auch vom Zeugen K Z bestätigte - Angabe ist den Umständen nach durchaus unbedenklich, die abweichende, auf die Behauptung einer unmotivierten Abdrängung hinauslaufende Parteiaussage der Bf., die damals, zur Zeit der Amtshandlung, offenbar hochgradig verwirrt war - sie rief beim Erscheinen der Beamten in Verkennung der Situation "Hilfe, Einbrecher" (Zeuge F D) und hatte nach eigener Einlassung am Abend zuvor Schlafmittel und Analgetika eingenommen -, in objektiver Beziehung nicht verläßlich und überzeugend. Nichts daran zu ändern vermag die Aussage des gerichtlich vernommenen, gleichfalls (und zwar zu B643/82) bf. Dr. F R, derzufolge Dr. A G durch einen Stoß, den ihr der eine der beiden Polizisten versetzt habe, in die Knie gegangen sei, eine Schilderung, die sogar der Darstellung der Bf. selbst offensichtlich (teilweise) widerspricht.
2.1.2.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren. Dies trifft (auch) zu, wenn Sicherheitsorgane jemanden im Zuge einer Amtshandlung - wie hier - abdrängen (zur Seite drängen) und damit physischem Zwang unterwerfen (zB VfSlg. 8296/1978, 9983/1984, 10052/1984).
2.1.2.2. Demgemäß bleibt festzuhalten, daß sich die Beschwerde - insoweit - gegen einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art144 Abs1 B-VG wendet.
2.1.2.3. Da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde im angegebenen Umfang zulässig.
2.1.3.1. Nach der Bestimmung des Art8 StGG, auf die sich die Bf. in erster Linie beruft, ist die Freiheit der Person gewährleistet. Diese Verfassungsnorm und das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, schützen jedoch nicht vor jeglicher Beschränkung der Bewegungsfreiheit schlechthin, sondern nur vor willkürlicher Verhaftung, rechtswidriger Inverwahrnahme sowie rechtswidriger Internierung und Konfinierung (VfSlg. 8815/1980). Eine - nach der konkreten Fallkonstellation allein in Betracht zu ziehende - "Verhaftung" liegt aber nur dann vor, wenn Amtsorgane im Zuge einer Amtshandlung unter Anwendung physischen Zwanges persönliche Ortsveränderungen entweder überhaupt unterbinden oder auf bestimmte, nach allen Seiten hin begrenzte Örtlichkeiten oder Gebiete, die nicht verlassen werden dürfen, einschränken (VfSlg. 3447/1958, 7149/1973, 7361/1974, 9983/1984).
2.1.3.2. Davon kann hier nicht die Rede sein, weil die in Beschwerde gezogene Maßnahme der Sicherheitswachebeamten - nach den einleitenden Sachverhaltsfeststellungen (Punkt 2.1.1.) - nur darauf abzielte, die - sich den Wachleuten in den Weg stellende - Bf. zur Seite zu drängen, um die Fortsetzung der Amtshandlung gegen Dr. F R zu ermöglichen. Über das einer "Verhaftung" keineswegs gleichzuhaltende bloße Abdrängen - in bestimmte Richtung - hinaus wurde die Bf. in ihrer Bewegungsfreiheit aber nicht beeinträchtigt.
2.1.3.3. Zusammenfassend ergibt sich, daß die Bf. - entgegen ihrer in der Beschwerdeschrift verfochtenen Rechtsauffassung - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK) nicht verletzt wurde.
2.1.4.1. Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK), BGBl. 210/1958, die gemäß dem Bundesverfassungsgesetz BGBl. 59/1964 im Verfassungsrang steht, bestimmt in ihrem Art3, daß niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
2.1.4.2. Ein Sicherheitsorgan, das jemanden im Verlauf einer Amtshandlung - wie von der Bf. dem Sinn nach behauptet:
unzulässigem - körperlichem Zwang unterwirft, verletzt nicht zwingend die Verfassungsbestimmung des Art3 MRK; vielmehr verstoßen derartige physische Zwangsakte gegen das im Art3 MRK statuierte Verbot "erniedrigender Behandlung" nur dann, wenn qualifizierend hinzutritt, daß ihnen eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zu eigen ist (VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8296/1978, 8580/1979, 8654/1979, 9983/1984, 10250/1984).
2.1.4.3. Legt man die zu Punkt 2.1.1. getroffenen Sachverhaltsfeststellungen zugrunde, war die Abdrängung der Bf. - angesichts der konkreten Verhältnisse - grundsätzlich geboten und notwendig. Ob dabei in jeder Beziehung rechtmäßig vorgegangen wurde, hatte der VfGH hier nicht zu prüfen: Da die strittige Maßnahme keineswegs unter Umständen stattfand, die eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung der Betroffenen als Person erkennen ließen, kommt eine vom VfGH allein wahrzunehmende Grundrechtsverletzung nicht in Betracht.
2.1.5. Aus den dargelegten Erwägungen war die Beschwerde im bisher erörterten Umfang - da die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte im Verfahren weder behauptet wurde oder hervorkam noch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die dem bekämpften Verwaltungsakt zugrunde liegenden Rechtsvorschriften entstanden - als unbegründet abzuweisen (Punkt I des Spruches).
2.2. Zu den übrigen Beschwerdepunkten:
2.2.1. Was das weitere Beschwerdevorbringen zum Grundrecht nach Art3 MRK (behauptetes - absichtliches - Reißen am Büstenhalter und Zurseiteschleudern - s. Punkt 1.1.1.) anlangt, so sieht sich der VfGH in Prüfung und Würdigung aller Ergebnisse des durchgeführten Beweisverfahrens außerstande, den entsprechenden Behauptungen der Bf. und des Dr. F R - uneingeschränkt - zu folgen und die in der Beschwerdeschrift angeführten Vorgänge als erwiesen anzunehmen. Es stehen Aussagen gegen Aussagen, und die beiden Betroffenen befanden sich - im Hinblick auf das unerwartete gewaltsame Eindringen behördlicher Organe in die Wohnung - in begreiflicher Angst und Erregung, was in Beurteilung der Beweisfrage nicht außer acht gelassen werden durfte.
2.2.2. Da demgemäß ein Nachweis für die behaupteten Exekutivakte nicht erbracht wurde, liegt der Anfechtung im dargestellten Punkt kein geeigneter Beschwerdegegenstand zugrunde. Die Beschwerde war daher im geschilderten Umfang schon allein aus dieser Überlegung als unzulässig zurückzuweisen (Punkt II des Spruches).
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, MißhandlungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1985:B642.1982Dokumentnummer
JFT_10149073_82B00642_00