TE Vfgh Erkenntnis 2006/9/26 B507/06

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Veröffentlicht am 26.09.2006
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Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

EMRK österr Vorbehalt zu Art5
EMRK österr Vorbehalt zu Art6
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
StVO 1960 §99a
VfGG §88
VStG §51e Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Bescheiderlassung seitens des Unabhängigen Verwaltungssenates betreffend Inbetriebnahme eines Kraftfahrzeugs in alkoholisiertem Zustand wegen Unterlassung der Durchführung einer Berufungsverhandlung; keine Bedenken gegen die dem UVS einen Ermessensspielraum einräumende verwaltungsstrafrechtliche Bestimmung über das Absehen von einer Berufungsverhandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Niederösterreich ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.340,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft St. Pölten vom 11. August 2005 wurde über den Beschwerdeführer gemäß §52 lita Z10a iVm. §99 Abs3 lita StVO 1960 eine Verwaltungsstrafe iHv. € 109,-

(Ersatzfreiheitsstrafe 72 Stunden) verhängt, weil er im Gemeindegebiet Markersdorf-Haindorf auf der A 1, nächst Straßenkilometer 69,5, mit einem Kraftfahrzeug die durch Verbotszeichen kundgemachte erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h überschritten habe. Nach Abzug der Messtoleranz habe seine Geschwindigkeit 112 km/h betragen.

2. In seiner gegen dieses Straferkenntnis erhobenen Berufung brachte der Beschwerdeführer vor, dass er das Fahrzeug zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht gelenkt habe und außerdem Verfolgungsverjährung eingetreten sei.

3. Der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (im Folgenden: UVS) gab der Berufung mit Bescheid vom 18. Oktober 2005 keine Folge. Seine Beweiswürdigung traf der UVS - ohne eine mündliche Verhandlung durchzuführen - aufgrund des Akteninhaltes.

4. In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gemäß Art144 B-VG behauptet der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art6 Abs1 und Abs3 litd EMRK und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides.

5. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, erstattete jedoch keine Gegenschrift.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Der Beschwerdeführer behauptet die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art6 Abs1 und Abs3 litd EMRK. Während des Verwaltungsstrafverfahrens sei er nicht rechtsfreundlich vertreten gewesen und über die Möglichkeit eines Antrages auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht belehrt worden. Er habe auf sein Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung auch nicht konkludent verzichtet, zumal er von diesem Recht nichts gewusst habe. Durch die Vorgehensweise der belangten Behörde sei ihm die Möglichkeit genommen worden, an den Belastungszeugen Fragen zu stellen oder die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen zu erwirken, welche bestätigen hätten können, dass sich der Beschwerdeführer zum Tatzeitpunkt im Ausland aufgehalten habe.

1.2. Art6 Abs1 EMRK normiert das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem "Tribunal", das "über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen [den Beschuldigten] erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat".

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 16.624/2002 in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) ausgesprochen hat, wird den Verfahrensgarantien des Art6 Abs1 EMRK durch ein Tribunal nur entsprochen, wenn dieses über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof - wie der EGMR im Fall Gradinger (EGMR 23.10.1995, ÖJZ 1995, 954) festgestellt hat - im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt, muss die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung vom UVS erfüllt werden (vgl. dazu auch EGMR 20.12.2001, Baischer gg. Österreich, ÖJZ 2002, 394).

In einem Strafverfahren, das vor einem Tribunal in einziger Instanz durchgeführt wird, folgt nach der Rechtsprechung des EGMR aus dem durch Art6 EMRK garantierten Recht, gehört zu werden, das Erfordernis einer mündlichen Verhandlung, von der nur in Ausnahmefällen abgesehen werden kann (so etwa EGMR 19.2.1998, Allan Jacobsson gg. Schweden [Nr. 2], ÖJZ 1998, 935).

2.1. Gemäß §51e Abs3 VStG kann der UVS

"(...) von einer Berufungsverhandlung absehen, wenn

1. in der Berufung nur eine unrichtige rechtliche Beurteilung behauptet wird oder

2. sich die Berufung nur gegen die Höhe der Strafe richtet oder

3. im angefochtenen Bescheid eine 500 € nicht übersteigende Geldstrafe verhängt wurde oder

4. sich die Berufung gegen einen verfahrensrechtlichen Bescheid richtet

und keine Partei die Durchführung einer Verhandlung beantragt hat. Der Berufungswerber hat die Durchführung einer Verhandlung in der Berufung zu beantragen. (...)"

2.2. In VfSlg. 16.894/2003 hat der Verfassungsgerichtshof zur Anwendung des §51e Abs3 VStG ausgesprochen, dass es verfassungswidrig wäre, allein aufgrund der Höhe der angefochtenen Geldstrafe (weniger als € 500,-) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Die Bestimmung räumt jedoch Ermessen ein und lässt damit eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall zu. Soweit es Art6 EMRK gebietet, muss der UVS eine mündliche Verhandlung jedenfalls durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben (vgl. auch VfSlg. 16.624/2002).

2.3. Die Berufung des Beschwerdeführers richtet sich gegen einen Bescheid, mit dem eine Geldstrafe unter € 500,- verhängt wurde. Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwar nicht ausdrücklich beantragt, er hat jedoch auch nicht ausdrücklich darauf verzichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob der UVS aufgrund dieses Schweigens einen konkludenten Verzicht des Beschwerdeführers annehmen durfte.

Unter den Umständen des vorliegenden Falles kann das Verhalten des Beschwerdeführers nicht als schlüssiger Verzicht auf sein Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art6 Abs1 EMRK gedeutet werden:

Der Beschwerdeführer war nicht rechtsfreundlich vertreten. Die selbstverfasste Berufung lässt keineswegs zweifelsfrei darauf schließen, dass der Beschwerdeführer dadurch auf sein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet hätte. Ein schlüssiger Verzicht auf ein Recht setzt dessen Kenntnis voraus (VfSlg. 16.894/2003, 17.375/2004). Der Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrages auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt. Es deuten auch sonst keine Umstände darauf hin, dass der Beschwerdeführer von der Möglichkeit der Antragstellung wissen hätte müssen (zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR 3.10.2002, Cetinkaya gg. Österreich, Appl. Nr. 61595/00).

2.4. Die Unterlassung der Durchführung führt nicht nur zur Gesetzwidrigkeit des Bescheides, sondern hat - da im Beschwerdefall keine besonderen Gründe erkennbar sind, die im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu Art6 EMRK allenfalls den Entfall einer mündlichen Verhandlung rechtfertigen könnten - auch die Verletzung des Art6 Abs1 EMRK zur Folge (vgl. VfSlg. 16.790/2003; VfGH 22.9.2003, B1482/02).

3. Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

4. Der Kostenspruch beruht auf §88 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 360,- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Ermessen, Straßenpolizei, Alkoholisierung, Unabhängiger Verwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung, Verhandlung mündliche, Öffentlichkeitsprinzip, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2006:B507.2006

Dokumentnummer

JFT_09939074_06B00507_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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