Index
10 VerfassungsrechtNorm
MRK Art3Leitsatz
Art8 StGG; Art5 MRK; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; vertretbare Annahme der ungebührlichen störenden Lärmerregung nach ArtVIII, 2. Tatbestand, EGVG 1950; nicht individuell ausgesprochene, aber der Bf. erkennbar auch an sie gerichtete "Abmahnung"; Festnahme und anschließende Anhaltung in §§35 litc, 36 Abs1 VStG 1950 gedeckt; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit Art144 Abs1 B-VG; keine Zuständigkeit des VfGH, Entschädigungen für rechtswidrige Haftanhaltungen zuzuerkennen Art3 MRK; Verstoß gegen Art3 MRK durch Vornahme einer Leibesvisitation unter weitgehender Entkleidung der Bf. in Gegenwart mehrerer MithäftlingeSpruch
I. Die Bf. ist durch ihre am 24. Oktober 1984 in Wien von Organen der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in (Verwaltungs-)Haft weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird in diesem Umfang abgewiesen.
Der Antrag auf Zuerkennung einer Entschädigung für rechtswidrige Anhaltung in Haft wird zurückgewiesen.
II. Hingegen ist die Bf. am 24. Oktober 1984 in Wien dadurch, daß ein Organ der Bundespolizeidirektion Wien sie durch Befehl zur völligen Entblößung der Brust und des Unterkörpers im Beisein einiger Mithäftlinge (zur Ermöglichung einer Leibesvisitation) bestimmte, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK) verletzt worden.
III. Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. B E begehrte in ihrer mit Berufung auf Art144 Abs1 B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, am 24. Oktober 1984 in Wien dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien sie a) festnahmen und anhielten sowie b) zur Duldung einer Leibesvisitation veranlaßten, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, nämlich insbesondere (zu a)) auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK) und (zu b)) auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK), verletzt worden zu sein.
1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Antrag stellte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen und die Bf. zum Ersatz der Verfahrenskosten zu verpflichten.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1. Der VfGH stellte, gestützt auf die Ergebnisse des durchgeführten Beweisverfahrens, zunächst folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:
2.1.1. Am 24. Oktober 1984 vormittags veranstaltete der Verein "Geborene für Ungeborene" in 1010 Wien, Dr. Karl Renner-Ring, vor dem Parlament eine - der Bundespolizeidirektion Wien zeitgerecht angezeigte - Kundgebung zur Propagierung "Positiver Maßnahmen zur Senkung der Abtreibungszahlen", bei der ua. die Überreichung einer Petition an Abgeordnete aller im Nationalrat vertretenen Parteien vorgesehen war. Die Veranstaltung ging zunächst störungsfrei vor sich. Im weiteren Verlauf trafen zahlreiche - die Zielsetzungen der Veranstalter offenbar ablehnende - Personen, darunter auch die Bf., ein, die sich vorerst auf der gegenüberliegenden Ringseite aufhielten, dann aber nach Überquerung des Rings zu einem etwa 15 m vom Rednerpult entfernt aufgestellten Tisch begaben. Von dort her wurde in der Folge, allerdings nicht fortwährend, sondern in Intervallen (durch Sprechchöre, Pfeifen, Klatschen, Schreien, Heulen, Verwendung von Trillerpfeifen) dermaßen gelärmt, daß die Zuhörer den Ausführungen der (Veranstaltungs-)Redner zeitweise nur mehr mit Mühe folgen konnten. Die Gruppe wurde deshalb sowohl vom Behördenvertreter Rat Mag. Z als auch vom Kommandanten der eingesetzten Sicherheitskräfte Major H - wie auch von anderen Sicherheitsorganen - längere Zeit hindurch aus nächster Nähe beruhigend und belehrend zur Ordnung gewiesen, nachdrücklich abgemahnt und zur Einstellung des Lärmens aufgefordert, jedoch insgesamt ohne Erfolg; der abermals aufkommende Lärm nahm an Intensität eher noch zu. Zuletzt mahnten Mag. Z und H alle Störer - die von Angehörigen der Sicherheitswache kordonartig eingekreist wurden - abermals laut und deutlich ab, und zwar unter Androhung der Anzeige und Festnahme für den Fall der Zuwiderhandlung. Als die Abmahnung im allgemeinen wirkungslos blieb, erteilte Major H den ihm beigegebenen Wachebeamten den (generellen) Auftrag zur Festnahme der - nicht einzeln bezeichneten - Ruhestörer.
2.1.2. Daraufhin nahm der Sicherheitswachebeamte Inspektor Karl Z (mit Dienstnummer ...) die Bf. wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretungen nach ArtVIII, 2. Tatbestand, und ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 gemäß §35 litc VStG 1950 fest (s. dazu: S 6, 10, 11 der Gegenschrift). Sie wurde in der Folge bis 16.40 Uhr dieses Tages (im Gebäude des Bezirkspolizeikommissariates Wien - Innere Stadt) in Haft gehalten.
2.1.3. Gruppeninspektor G M erteilte der Bf. bald nach der Einlieferung in das Arrestlokal im Beisein mehrerer anderer weiblicher Häftlinge den Befehl, sich zur Ermöglichung einer Leibesvisitation - teilweise - zu entkleiden. Die Bf. mußte dieser Anordnung Folge leisten und vor allen Anwesenden (durch Herunterziehen der Hose und Hochschieben des Pullovers) Brust und Unterkörper vollkommen entblößen; sie wurde anschließend von der Beamtin oberhalb der zurückgeschobenen Kleidung abgetastet (s. Parteiaussage vom 18. Juni 1985).
2.2.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung von Personen - s. Punkt 1.1. lita - zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9860/1983, 10547/1985).
Gleiches gilt für sicherheitsbehördliche Befehle, die durch Androhung unmittelbar folgenden physischen Zwangs sanktioniert sind (VfSlg. 7829/1976, 8145/1977, 8146/1977, 8231/1977, 8289/1978, 8359/1978, 8688/1979, 8689/1979, 9457/1982, 9494/1982, 9614/1983, 9770/1983, 9922/1984; VfGH 21. Juni 1982 B291, 292/79). Unverzichtbares Inhaltsmerkmal eines verfahrensfreien Verwaltungsaktes in der Erscheinungsform eines - alle Voraussetzungen des Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF BGBl. 302/1975 aufweisenden - "Befehls", dh. der "Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt", bildet dabei der Umstand, daß dem Befehlsadressaten eine bei Nichtbefolgung unverzüglich einsetzende physische Sanktion - hier die zwangsweise Entkleidung - bevorsteht (vgl. VfSlg. 9922/1984, 10420/1985, 10662/1985): Diese Bedingungen sind nach den einleitenden Sachverhaltsfeststellungen in Beziehung auf den Anfechtungsgegenstand zu Punkt 1.1. litb erfüllt.
2.2.2. Folglich ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug hier nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, in vollem Umfang zulässig.
2.3.1.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.
§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (zB VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten (Anwendungs-)Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung zuschulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).
Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.
2.3.1.2. Zu einer solchen, in §35 litc VStG 1950 vorausgesetzten "Abmahnung" kam es hier: Zwar wurde nicht jeder Störer individuell - für sich allein - abgemahnt. Die beiden Zeugen Mag. Z und H richteten ihre nach Lage des Falls unmißverständlichen Abmahnungen vielmehr an die gesamte (aus mindestens 24 Personen bestehende) Gruppe der an Ort und Stelle anwesenden (Gegen-)Demonstranten. Sie brachten dabei - zieht man namentlich ihre früheren langwierigen Bemühungen, die Menge durch Zureden und Ermahnungen zu beruhigen, sowie die vorangegangene Einkreisung dieser Leute durch Wachebeamte in Betracht - deutlich genug zum Ausdruck, daß alle diese Personen angesprochen wurden; es besteht unter den obwaltenden Verhältnissen auch kein vernünftiger Zweifel daran, daß (ua.) die Bf. diese Abmahnung verstand und (auch) auf sich bezog.
Ihre anschließende Festnehmung war, wie folgende Überlegungen zeigen, gesetzlich gedeckt: Zunächst schließt es §35 litc VStG 1950 nicht aus, daß die Abmahnung und die Festnahme (wegen ein und derselben Tat) von verschiedenen Organwaltern ausgesprochen werden, wenn diese behördlichen Maßnahmen - wie hier - zeitlich und örtlich engstens zusammenhängen (s. VfSlg. 10662/1985 ua.; anders der dem Erk. des VfGH VfSlg. 10376/1985 zugrundeliegende Sachverhalt). Daß die als Partei gehörte Bf. unter den besonderen Begleitumständen dieses Falls mit Grund zumindest der Verwaltungsübertretung der ungebührlichen störenden Lärmerregung nach ArtVIII 2. Tatbestand EGVG 1950 verdächtig gehalten werden durfte, ergibt sich zum einen aus ihren eigenen Einlassungen im Beschwerdeverfahren (über ihr damaliges Verhalten an Ort und Stelle), zum anderen - und vor allem - aber auch aus der glaubhaften Aussage des Inspektors K Z. Dieser Zeuge, der die bekämpfte Festnahme aussprach, erinnert sich nämlich, daß die Bf. nicht nur vor der Abmahnung (in Tumult verursachender Weise) umherschrie, sondern ihr (arg) lärmendes Betragen auch in der Folge ungemindert fortsetzte, sodaß die Festnahmebedingungen des §35 litc VStG 1950 erfüllt waren.
2.3.1.3. Gemäß §36 Abs1 VStG 1950 hat die Behörde den (übernommenen) Festgenommenen sofort, spätestens aber binnen vierundzwanzig Stunden nach der Übernahme zu vernehmen.
Unter den obwaltenden Umständen bestehen keine zureichenden Anhaltspunkte dafür, daß die Entlassung der Bf. aus der anschließenden verwaltungsbehördlichen Haft gesetzwidrig hinausgezögert worden sei.
2.3.1.4. Demgemäß wurde die Bf. - durch ihre polizeiliche Festnahme und Anhaltung - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nach Art8 StGG iVm. Art5 MRK nicht verletzt.
Aus den dargelegten Erwägungen war die Beschwerde in diesem Umfang - da insoweit die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder behauptet wurde oder hervorkam noch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die dem bekämpften Verwaltungsakt zugrundeliegenden Rechtsvorschriften entstanden - als unbegründet abzuweisen (Punkt I des Spruches).
Der Antrag der Bf. auf Zuerkennung einer Entschädigung für rechtswidrige Haftanhaltung war schon deswegen zurückzuweisen, weil der VfGH zu einer solchen Maßnahme nicht zuständig ist.
2.3.2.1. Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. 210/1958, die gemäß dem Bundesverfassungsgesetz BGBl. 59/1964 im Verfassungsrang steht, bestimmt in ihrem Art3, daß niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
2.3.2.2. Ein Sicherheitsorgan, das einem neueingelieferten Gefangenen, wie am 24. Oktober 1984 die Zeugin G M der Bf., aus Gründen der Sicherheit des Arrestbetriebes - laut sinngemäßem Inhalt der Beschwerdeschrift: unzulässigerweise - befiehlt, sich teilweise zu entkleiden und einer Leibesvisitation zu unterwerfen, verletzt nicht zwingend die Verfassungsbestimmung des Art3 MRK (VfSlg. 8580/1979). Vielmehr verstößt ein derartiger Akt verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt gegen das in Art3 MRK verfassungsgesetzlich statuierte Verbot "erniedrigender Behandlung" nur dann, wenn qualifizierend hinzutritt, daß ihm eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zu eigen ist (vgl. VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8296/1978, 8580/1979, 8654/1979, 9983/1984, 10250/1984, 10546/1985).
2.3.2.3. Dies war hier der Fall.
Der VfGH kann der bel. Beh. nicht beitreten, wenn sie einwendet, die Durchführung der in Rede stehenden Amtshandlung in Gegenwart mehrerer Mithäftlinge sei nach Lage der Verhältnisse unvermeidbar gewesen. Denn es läßt sich wohl nicht ernstlich der Standpunkt vertreten, daß im gesamten Gebäude des Bezirkspolizeikommissariats Wien - Innere Stadt kein einziger Raum zur Verfügung stand, der kurzfristig - dh. nur während der, wie das Verfahren ergab, zügig vor sich gehenden Visitierung(en) - für die (gesonderte) Verwahrung der (wenigen) die Leibesvisitation beobachtenden Mithäftlinge hätte Verwendung finden können. Dies abgesehen davon, daß auch eine bloße Abschirmung der Durchsuchung vor Blicken unbefugter Betrachter möglich gewesen wäre. Um die geboten erachtete Leibesvisitation vorzunehmen (vgl. §36 Abs2 VStG 1950), war es also keineswegs notwendig, die nur in den Verdacht einer Verwaltungsübertretung geratene Bf. dazu zu verhalten, sich vor den Augen unbeteiligter Dritter weitgehend zu entkleiden. Dadurch wurde sie nämlich als (von Rechts wegen) ihrer Freiheit Beraubte in der Tat in einer derart unzumutbaren Weise bloßgestellt, gedemütigt und in ihrer Ehre getroffen, daß bereits von einer "erniedrigenden", die Menschenwürde verletzenden Behandlung iS des Art3 MRK gesprochen werden muß.
2.3.2.4. Daraus folgt, daß die Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK) verletzt wurde.
2.4. Die Kostenentscheidung (Punkt III des Spruches) fußt auf §88 VerfGG 1953. Angesichts des Gesamtergebnisses des Beschwerdeverfahrens (teils Abweisung, teils Stattgebung der Beschwerde) wurden die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufgehoben (vgl. dazu VfSlg. 10272/1984, 10662/1985).
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, Lärmerregung, MißhandlungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1985:B883.1984Dokumentnummer
JFT_10148878_84B00883_00