TE Vfgh Erkenntnis 1986/6/5 B893/84

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Veröffentlicht am 05.06.1986
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

MRK Art3, Art5
StGG Art8
VfGG §88

Leitsatz

Art8 StGG; Art5 MRK; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Festnahme gemäß §35 litc VStG 1950 und anschließende Anhaltung; Zulässigkeit einer nicht individuell ausgesprochenen, sondern an eine Gruppe gerichteten und von der Bf. verstandenen "Abmahnung"; Verharren in der strafbaren Handlung nach Abmahnung zweifelhaft; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit Art3 MRK; Befehl, sich teilweise zu entkleiden und einer Leibesvisitation zu unterwerfen; keine Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Art3

Spruch

I. Die Bf. ist durch ihre am 24. Oktober 1984 in Wien von Organen der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in (Verwaltungs-)Haft im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK) verletzt worden.

II. Hingegen ist die Bf. am 24. Oktober 1984 in Wien dadurch, daß ihr ein Organ der Bundespolizeidirektion Wien den Befehl zur Duldung einer Leibesvisitation erteilte, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt worden.

Die Beschwerde wird in diesem Umfang abgewiesen.

III. Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. E S begehrte in ihrer mit Berufung auf Art144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, am 24. Oktober 1984 in Wien dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien sie a) festnahmen und anhielten sowie b) unter entwürdigenden Umständen zur Duldung einer Leibesvisitation veranlaßten, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, nämlich insbesondere (zu a)) auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK) und (zu b)) auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK), verletzt worden zu sein.

1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Antrag stellte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen und die Bf. zum Ersatz der Verfahrenskosten zu verpflichten.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1. Der VfGH stellte, gestützt auf die Ergebnisse des durchgeführten Beweisverfahrens, zunächst folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:

2.1.1. Am 24. Oktober 1984 vormittags veranstaltete der Verein "Geborene für Ungeborene" in 1010 Wien, Dr. Karl Renner-Ring, vor dem Parlament eine - der Bundespolizeidirektion Wien zeitgerecht angezeigte - Kundgebung zur Propagierung "Positiver Maßnahmen zur Senkung der Abtreibungszahlen", bei der ua. die Überreichung einer Petition an Abgeordnete aller im Nationalrat vertretenen Parteien vorgesehen war. Die Veranstaltung ging zunächst störungsfrei vor sich. Im weiteren Verlauf trafen zahlreiche - die Zielsetzungen der Veranstalter offenbar ablehnende - Personen, darunter auch die Bf., ein, die sich vorerst auf der gegenüberliegenden Ringseite aufhielten, dann aber nach Überquerung des Rings zu einem etwa 15 m vom Rednerpult entfernt aufgestellten Tisch begaben. Von dorther wurde in der Folge, allerdings nicht fortwährend, sondern in Intervallen (durch Sprechchöre, Pfeifen, Klatschen, Schreien, Heulen, Verwendung von Trillerpfeifen), dermaßen gelärmt, daß die Zuhörer den Ausführungen der (Veranstaltungs-)Redner zeitweise nur mehr mit Mühe folgen konnten. Die Gruppe wurde deshalb sowohl vom Behördenvertreter Rat Mag. Z als auch vom Kommandanten der eingesetzten Sicherheitskräfte Major H - wie auch von anderen Sicherheitsorganen - längere Zeit hindurch aus nächster Nähe beruhigend und belehrend zur Ordnung gewiesen, nachdrücklich abgemahnt und zur Einstellung des Lärmens aufgefordert, jedoch insgesamt ohne Erfolg; der abermals aufkommende Lärm nahm an Intensität eher noch zu. Zuletzt mahnten Mag. Z und H alle Störer - die von Angehörigen der Sicherheitswache kordonartig eingekreist wurden - abermals laut und deutlich ab, und zwar unter Androhung der Anzeige und Festnahme für den Fall der Zuwiderhandlung. Als die Abmahnung im allgemeinen wirkungslos blieb, erteilte Major H den ihm beigegebenen Wachebeamten den (generellen) Auftrag zur Festnahme der - nicht einzeln bezeichneten - Ruhestörer.

2.1.2. Daraufhin nahm ein Sicherheitswachebeamter die Bf. wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretungen nach ArtVIII, 2. Tatbestand, und ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 gemäß §35 litc VStG 1950 fest (s. dazu: S 6, 10, 11 der Gegenschrift). Sie wurde in der Folge bis 17.10 Uhr dieses Tages (im Gebäude des Bezirkspolizeikommissariates Wien-Innere Stadt) in Haft gehalten.

2.1.3. Gruppeninspektor G M erteilte der Bf. bald nach der Einlieferung in das Arrestlokal den Befehl, sich zur Ermöglichung einer Leibesvisitation - teilweise - zu entkleiden. Dieser Anordnung mußte Folge geleistet werden.

2.2.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung von Personen - s. Punkt 1.1. lita - zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9860/1983, 10547/1985).

Gleiches gilt für sicherheitsbehördliche Befehle, die durch Androhung unmittelbar folgenden physischen Zwangs sanktioniert sind (VfSlg. 7829/1976, 8145/1977, 8146/1977, 8231/1977, 8289/1978, 8359/1978, 8688/1979, 8689/1979, 9457/1982, 9494/1982, 9614/1983, 9770/1983, 9922/1984; VfGH 21. Juni 1982 B291, 292/79). Unverzichtbares Inhaltsmerkmal eines verfahrensfreien Verwaltungsaktes in der Erscheinungsform eines - alle Voraussetzungen des Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF BGBl. 302/1975 aufweisenden - "Befehls", dh. der "Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt", bildet dabei der Umstand, daß dem Befehlsadressaten eine bei Nichtbefolgung unverzüglich einsetzende physische Sanktion - hier die zwangsweise Entkleidung - bevorsteht (vgl. VfSlg. 9922/1984, 10420/1985, 10661/1985, 10662/1985, 10663/1985, 10746/1986; VfGH 27. Feber 1986 B877/84, B878/84, B887/84 und B888/84): Diese Bedingungen sind nach den einleitenden Sachverhaltsfeststellungen in Beziehung auf den Anfechtungsgegenstand zu Punkt 1.1. litb erfüllt.

2.2.2. Folglich ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug hier nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, in vollem Umfang zulässig.

2.3.1.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. zB VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (zB VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten (Anwendungs-)Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung zuschulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).

Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

2.3.1.2. Zu einer solchen, in §35 litc VStG 1950 vorausgesetzten "Abmahnung" kam es hier: Zwar wurde nicht jeder Störer individuell - für sich allein - abgemahnt. Die beiden Zeugen Mag. Z und H richteten ihre nach Lage des Falls unmißverständlichen Abmahnungen vielmehr an die gesamte (aus mindestens vierundzwanzig Personen bestehende) Gruppe der an Ort und Stelle anwesenden (Gegen-)Demonstranten. Sie brachten dabei - zieht man namentlich ihre früheren langwierigen Bemühungen, die Menge durch Zureden und Ermahnungen zu beruhigen, sowie die vorangegangene Einkreisung dieser Leute durch Wachebeamte in Betracht - deutlich genug zum Ausdruck, daß alle diese Personen angesprochen wurden; es besteht unter den obwaltenden Verhältnissen auch kein vernünftiger Zweifel daran, daß (ua.) die Bf. diese Abmahnung verstand und (auch) auf sich bezog.

Dennoch war ihre anschließende Festnehmung, wie folgende Überlegungen zeigen, gesetzlich nicht gedeckt:

Wohl schließt es §35 litc VStG 1950 nicht aus, daß die Abmahnung und die Festnahme (wegen ein und derselben Tat) von verschiedenen Organwaltern ausgesprochen werden, wenn diese behördlichen Maßnahmen - wie hier - zeitlich und örtlich engstens zusammenhängen (s. VfSlg. 10661/1985, 10662/1985, 10663/1985, 10683/1985 ua.; anders der dem Erk. des VfGH VfSlg. 10376/1985 zugrunde liegende Sachverhalt).

Der im Verfahren vor dem VfGH als Zeuge einvernommene Sicherheitswachebeamte M S, der - laut Anzeige und Gegenschrift - die Festnahme verfügt haben soll, verwies jedoch ausdrücklich auf seine Angaben im hg. Verfahren AZ B887/84: Danach habe er damals zwar zwei Frauen festgenommen, vermochte die beiden aber namentlich nicht zu nennen oder sonst eindeutig zu identifizieren; der Zeuge konnte auch nichts hinlänglich Konkretes über das Verhalten (gerade) der Bf. in der Zeit zwischen Abmahnung und Festnahme angeben. Unter diesen spezifischen Umständen war die Annahme unvertretbar, daß die Bf., mag sie auch zunächst in den dringenden Verdacht der Verübung der Verwaltungsübertretungen nach ArtVIII, 2. Tatbestand, und ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 geraten sein, auch noch nach ihrer Abmahnung (weiter)lärmte, also in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrte oder sie zu wiederholen suchte. Das nämlich wäre unabdingbare Voraussetzung einer rechtmäßigen Festnahme nach §35 litc VStG 1950, auf welche Vorschrift sich die bel. Beh. zur Rechtfertigung ihrer bekämpften Maßnahme gestützt und berufen hatte.

2.3.1.3. Demgemäß wurde die Bf. - durch ihre polizeiliche Festnahme und Anhaltung - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nach Art8 StGG iVm. Art5 MRK verletzt.

2.3.1.4. Der bel. Beh. wäre es - wie abschließend bemerkt sei - auf dem Boden ihrer in der Gegenschrift vertretenen Auffassung, die Gruppe der Bf. habe gesetzwidrig eine "Gegendemonstration" veranstaltet, freilich freigestanden, die (Gegen-)Versammlung gemäß §13 Abs1 VersG 1953 "nach Umständen" für aufgelöst zu erklären (s. VfGH 10. Juni 1985 B567/84, 22. November 1985 B885/84 ua.) und die Auflösung im "Fall des Ungehorsams ... durch Anwendung von Zwangsmitteln in Vollzug" zu setzen (§14 Abs2 VersG 1953). Derartige Maßnahmen nach dem VersG 1953 unterblieben hier allerdings.

2.3.2.1. Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. 210/1958, die gemäß dem Bundesverfassungsgesetz BGBl. 59/1964 im Verfassungsrang steht, bestimmt in ihrem Art3, daß niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.

2.3.2.2. Ein Sicherheitsorgan, das einem neueingelieferten Gefangenen, wie am 24. Oktober 1984 die Zeugin G M der Bf., aus Gründen der Sicherheit des Arrestbetriebes - laut sinngemäßem Inhalt der Beschwerdeschrift: unzulässigerweise - befiehlt, sich teilweise zu entkleiden und einer Leibesvisitation zu unterwerfen, verletzt nicht zwingend die Verfassungsbestimmung des Art3 MRK (VfSlg. 8580/1979). Vielmehr verstößt ein derartiger Akt verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt gegen das in Art3 MRK verfassungsgesetzlich statuierte Verbot "erniedrigender Behandlung" nur dann, wenn qualifizierend hinzutritt, daß ihm eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zu eigen ist (vgl. zB VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8296/1978, 8580/1979, 8654/1979, 9983/1984, 10250/1984, 10546/1985). Das wäre etwa der Fall, wenn die Amtshandlung in Gegenwart unbeteiligter Dritter stattgefunden hätte.

Derartiges wurde aber in der Beschwerdeschrift gar nicht behauptet. Auch die Ergebnisse des in der vorliegenden Beschwerdesache durchgeführten Beweisverfahrens weisen nicht in diese Richtung, wie es auch an jeglichen Anhaltspunkten dafür fehlt, daß die Bf. auf andere Art und Weise "erniedrigend" behandelt worden sei.

2.3.2.3. Daraus folgt, daß die Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK) nicht verletzt wurde.

Die Beschwerde war also in diesem Umfang - da insoweit die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder geltend gemacht wurde oder hervorkam noch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die dem bekämpften Verwaltungsakt zugrunde liegenden Rechtsvorschriften entstanden - als unbegründet abzuweisen (Punkt II des Spruches).

2.4. Die Kostenentscheidung (Punkt III des Spruches) fußt auf §88 VerfGG 1953. Angesichts des Gesamtergebnisses des Beschwerdeverfahrens (teils Abweisung, teils Stattgebung der Beschwerde) wurden die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufgehoben (vgl. dazu VfSlg. 10272/1984, 10661/1985, 10662/1985, 10663/1985; VfGH 27. Feber 1986 B878/84).

Schlagworte

Verwaltungsstrafrecht, Festnehmung, Leibesvisitation, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:B893.1984

Dokumentnummer

JFT_10139395_84B00893_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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