TE Vfgh Erkenntnis 1986/9/25 B676/85

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.09.1986
beobachten
merken

Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
EGVG ArtIX Abs1 Z2
VfGG §88
VStG §35, §36 Abs1
MRK Art5

Leitsatz

StGG Art8; MRK Art5; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Begriff des "ungestümen Benehmens" iS des ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950; Verhalten des Bf. (ua. theatralische Gesten, herrische Gebärden, ungehörige Äußerungen, kein sachliches Vertreten seines Standpunktes) war weder durch besondere Lautstärke noch durch eine Gestik, welche als aggressives Verhalten iS des ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 gedeutet werden könnte, gekennzeichnet; unvertretbare Annahme "ungestümen Benehmens" - Verhaftung und nachfolgende Anhaltung gesetzlich nicht gedeckt; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit; kein Kostenzuspruch für einen nicht abverlangten, zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht erforderlichen Schriftsatz

Spruch

Der Bf. ist durch seine Festnahme am 13. August 1985 um 14.55 Uhr vor dem Haus W-Gasse ..., Wien, durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien sowie durch seine darauf folgende Anhaltung bis 22.45 Uhr des genannten Tages im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf. zu Handen seines Vertreters die mit 11000 S bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, der Bf. betreibe im Haus W-Gasse ..., Wien, ein Restaurant, für welches in den Morgenstunden des 13. August 1985 Schnittholz geliefert und auf dem Gehsteig vor diesem Haus gelagert worden sei. Ein vom Bf. zum Transport dieses Holzes in den Keller beauftragter Hilfsarbeiter sei an diesem Tag nicht erschienen. Als der Bf. um zirka 14.30 Uhr mit seinem PKW in die W-Gasse gekommen sei, sei bei dem Holzhaufen bereits ein Funkstreifenwagen mit 3 Sicherheitswachebeamten anwesend gewesen. Über Aufforderung der Beamten habe sich der Bf. bereit erklärt, unverzüglich mit der Wegschaffung des Holzes zu beginnen. Sodann hätten die Beamten den Zustand der Reifen am PKW des Bf. sowie seine KFZ-Steuerkarte bemängelt und sich hiebei einer äußerst scharfen und gehässigen Ausdrucksweise bedient. Der Bf. sei bemüht gewesen, ein korrektes Verhalten an den Tag zu legen und hätte sich dabei eines korrekten Hochdeutsch bedient. Auf den Vorhalt eines Sicherheitswachebeamten, es sei eine Frechheit und Sauerei, daß der Holzhaufen hier liege und der Bf. werde schon sehen, was die Beamten ihm "andrahen" würden, hätte der Bf. in hochdeutscher Sprache geantwortet: "Bitte verwenden Sie juristisch fundierte Ausdrücke", und hätte schließlich alle drei Sicherheitswachebeamten um ihre Visitenkarten ersucht, welche ihm auch ausgehändigt worden seien. Der Bf. hätte sich die Ausdrücke notiert, welche die Sicherheitswachebeamten ihm gegenüber gebraucht hätten. Als schließlich einer der Beamten zu ihm leise "Trottel" gesagt habe, habe der Bf. der die Szene von ihrem Wohnungsfenster aus beobachtenden Frau S laut zugerufen, er sei soeben als Trottel bezeichnet worden. Hierauf habe einer der Sicherheitswachebeamten zum Bf. gesagt: "B, Sie san verhaftet, steigen's ein".

Der Bf. sei daraufhin zum Wachzimmer Hohe Warte gebracht und bis etwa

22.45 Uhr festgehalten worden.

Der Bf. beantragt, der VfGH wolle aussprechen, daß er durch die geschilderte Festnahme und Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden sei.

2. Die Bundespolizeidirektion Wien hat als bel. Beh., vertreten durch die Finanzprokuratur, in einer Gegenschrift - auf welche in der Folge noch einzugehen sein wird - die Abweisung der Beschwerde beantragt.

Aus den zugleich vorgelegten Verwaltungsakten ergibt sich, daß gegen den Bf. Strafverfahren wegen des Verdachtes des Verstoßes gegen die Bestimmungen des §99 Abs4 litg StVO, des ArtIX Abs1 Z2 EGVG und des §7 Abs1 KFG eingeleitet wurden, welche noch nicht abgeschlossen sind.

II. Der VfGH hat erwogen:

1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sog. faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (zB VfSlg. 7552/1974, 7829/1976, 8145/1977 und 9860/1983).

Folglich ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug hier nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, in vollem Umfang zulässig.

2. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG ist ein solches Gesetz (zB VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten (Anwendungs-)Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung zuschulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974; VfGH 20. September 1984 B427/82).

Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß der Bf. die Übertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG idF der Nov. BGBl. 232/1977 verübt habe.

Nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG begeht eine Verwaltungsübertretung, wer "sich ungeachtet vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht oder gegenüber einer Militärwache, während sich diese Personen in rechtmäßiger Ausübung des Amtes oder Dienstes befinden, ungestüm benimmt."

Der VfGH vertritt in ständiger Rechtsprechung (zB VfSlg. 9229/1981, 9730/1983 und 9921/1984) - in Übereinstimmung mit der Judikatur des VwGH (zB VwSlg. 2263 A/1951; VwGH 14. Mai 1968 Z 1759/67 und 1. März 1979 Z 873/78) - die Auffassung, daß unter "ungestümem Benehmen" ein sowohl in der Sprache als auch in der Gestik der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten anzusehen ist (s. auch VfSlg. 7464/1974). Auch ungehörige oder allenfalls beleidigende Äußerungen tragen keineswegs in jedem Falle das Merkmal des ungestümen Benehmens in sich (vgl. VwGH 13. Dezember 1954 Z 3024/53, 2. Dezember 1953 Z 3036/52, 14. April 1958 Z 979, 980/57 und VwSlg. 6987 A/1966).

3. Die bel. Beh. stützt die Rechtmäßigkeit der bekämpften Amtshandlung (ausschließlich) darauf, die Beamten hätten vertretbarerweise annehmen können, der Bf. habe eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG begangen.

Der maßgebliche Sachverhalt wird von der bel. Beh. wie folgt dargestellt:

"Kurz danach kam ein Mann am Steuer eines weiß lackierten PKW der Marke Renault, Type R 4, mit dem Kennzeichen W ... zum Vorfallsort, stellte das Fahrzeug in nächster Nähe ab und trat auf die Beamten zu. Er sei der Inhaber des Lokales A und habe das Holz in den Morgenstunden geliefert erhalten. Der für dessen Beseitigung vorgesehene Arbeiter sei krank geworden. Er selbst sei nicht gewillt, solche 'Hilfsarbeitertätigkeit' zu verrichten; dies sei seiner unwürdig. Wenn die Polizisten das Holz beseitigt wissen wollten, so mögen sie es doch selbst wegräumen; dies sei ihrem Berufsstande angemessen. Während nun einer seiner Kollegen den Einsatzgrund für die Magistratsabteilung 48 als weggefallen durchgab, hat BezInsp. D den Mann wegen seines unsachlichen Tones zur Rede gestellt und ihn aufgefordert, dieses Verhalten einzustellen. Er müsse ihn sonst wegen ungestümen Benehmens zur Anzeige bringen. Diese Zurechtweisung brachte den Beanstandeten zunächst dazu, den Beamten in 3. Person anzureden, wobei er ihm auftrug, sich zu entfernen, wenn er nicht für ihn arbeiten wolle. Dies begleitete er mit weit ausholenden, herrscherischen Gebärden. BezInsp. D forderte ihn daher auf, sich nicht wie ein Schauspieler zu gebärden und hiebei 'Burgtheaterhochdeutsch' zu verwenden. Sollte er sein Verhalten nicht ändern und mit den Beamten nicht in allgemein üblichen Umgangsformen verkehren, so müsse er festgenommen werden. Nun änderte der Mann sein Benehmen, griff nach Schreibzeug und Papier und rief Passanten zu:

'Haben Sie gehört, die Polizisten sagen zu mir Trottel und Idiot; ich brauche Zeugen, bleiben Sie stehen'. Da dies erfolglos blieb, wandte er sich einer aus einem Fenster seines Wohnhauses blickenden Dame zu und fragte diese, ob sie gehört habe, daß ihn die Beamten einen 'Trottel' genannt hätten. BezInsp. D versuchte ein weiteres Mal, ihn zu einem anderen Verhalten zu veranlassen indem er ihm mit den Worten 'wenn Sie sich nicht sofort anständig benehmen, nehme ich Sie fest' die drohende Konsequenz seines derzeitigen Benehmens vor Augen führte. Der Mann äußerte sich hiezu jedoch nur mit der übertrieben freundlich gehaltenen Feststellung: 'Gebt mir Eure Visitenkärtchen, damit ich euren Pöpschen unterheizen kann'. Daraufhin hat BezInsp. D um 14.55 Uhr die Festnahme ausgesprochen."

4. Auch wenn man von diesem - mit den Angaben der Sicherheitswachebeamten in der Meldung und dem Inhalt ihrer Aussagen in den gegen den Bf. eingeleiteten Verwaltungsstrafverfahren übereinstimmenden - Vorbringen ausgeht, wäre das Verhalten des Bf. weder durch eine besondere Lautstärke noch durch eine Gestik, welche als aggressives Verhalten iS des ArtIX Abs1 Z2 EGVG gedeutet werden könnte, gekennzeichnet. Der Bf. mag theatralische Gesten oder herrische Gebärden gemacht haben, er mag seinen Standpunkt keineswegs sachlich vertreten und durchaus ungehörige Äußerungen von sich gegeben haben. Es ist auch durchaus verständlich, daß die Beamten über das von ihnen möglicherweise als geradezu anmaßend empfundene Benehmen des Bf. empört waren. Alle diese Umstände könnten aber nach der oben zitierten ständigen Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts nicht die Annahme rechtfertigen, der Bf. benehme sich ungestüm iS des ArtIX Abs1 Z2 EGVG (vgl. hiezu insbesondere auch VfSlg. 9229/1981, S 139 f., und 9730/1983,

S 501 f.). An dieser Beurteilung vermag auch nichts zu ändern, daß der Bf. dritte Personen durch Zurufe auf das Verhalten der Sicherheitswachebeamten aufmerksam machen wollte; dieser Umstand allein reicht keineswegs hin, ein derartiges Verhalten des Bf. als aggressiv (iS von ungestüm) zu werten.

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die einschreitenden Sicherheitswachebeamten nicht vertretbarerweise annehmen konnten, daß der Bf. sich der Verwaltungsübertretung des ungestümen Benehmens nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG schuldig gemacht habe. Es war daher keine gesetzliche Grundlage für die Festnehmung und die weitere Anhaltung des Bf. gegeben.

5. Der Bf. ist daher durch die bekämpfte Amtshandlung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VerfGG 1953. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1000 S enthalten. Kosten für den nicht abverlangten Schriftsatz vom 11. April 1986 waren nicht zuzusprechen, zumal der Schriftsatz zu einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung auch nicht erforderlich war.

Schlagworte

Verwaltungsstrafrecht, Benehmen ungestümes, Festnehmung, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:B676.1985

Dokumentnummer

JFT_10139075_85B00676_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten