Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art139 Abs1 / PräjudizialitätLeitsatz
VersammlungsG; StGG; MRK; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; im Auftrag und unter der Leitung eines Beamten der Sicherheitsdirektion für NÖ durchgeführte Amtshandlungen von Gendarmeriebeamten (als Organen der Sicherheitsdirektion); Begriff der Versammlung iS des VersammlungsG; nicht von der Anzeigepflicht nach §2 VersammlungsG ausgenommene Versammlung in der Stopfenreuther Au; vertretbare Wertung eines Schreibens mit unbestimmten Angaben, nicht als mangelhafte, sondern überhaupt nicht als Versammlungsanzeige; Auflösung der Versammlung durch Anwendung von Zwangsmitteln gesetzlich gedeckt; keine Verletzung im Recht auf Versammlungsfreiheit; Zuständigkeit der Sicherheitsdirektion nach §17 VersammlungsG zur Auflösung der Versammlung; als Zwangsmittel gemäß §14 Abs2 VersammlungsG kann auch eine Festnahme in Betracht kommen; angesichts der Situation vertretbare Annahme einer Verwaltungsübertretung nach dem VersammlungsG; zeitlich zurückliegende und auf ein (zwar im Rahmen derselben Versammlung erfolgtes) anders gelagertes Verhalten der Bf. bezogene Abmahnung - Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und nachfolgende AnhaltungSpruch
Die Bf. ist am 10. Dezember 1984 durch ihre Festnahme in der Stopfenreuther Au sowie ihre darauf folgende Anhaltung durch Organe der Sicherheitsdirektion für NÖ im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, die Bf. hätte am 10. Dezember 1984 in der Stopfenreuther Au an der "Versammlung zahlreicher Menschen" teilgenommen, welche den Beginn der Vorarbeiten für das Donaukraftwerk Hainburg verhindern wollten. "Alle" im Augebiet stattfindenden Versammlungen seien von G S mit Schreiben vom 13. November 1984 "rechtzeitig und unter Beachtung der gesetzlichen Erfordernisse" angemeldet worden.
In der Beschwerde wird - soweit dies für die Beurteilung des vorliegenden Falles von Belang ist - ausgeführt, die Bf. sei in Begleitung von C O in der Stopfenreuther Au auf einem Weg gegangen. Hinter den beiden sei ein LKW mit Forstarbeitern gekommen. Die auf dem LKW befindlichen Arbeiter hätten zwar Bemerkungen über die Demonstranten gemacht, die Bf. und ihren Begleiter jedoch nicht aufgefordert, zur Seite zu gehen. Nun sei der Bf. ein VW-Bus der Gendarmerie entgegengekommen. Der Bus sei stehengeblieben, ein Beamter sei ausgestiegen und hätte etwa sinngemäß gerufen: "Schon wieder Sie, jetzt habe ich Sie schon mehrmals gesehen, jetzt kommen Sie aber mit." Der Beamte habe die Bf. beim Arm genommen und die Festnahme ausgesprochen, ohne dies zu begründen; die Personalien seien der Bf. nicht abverlangt worden.
Die Bf. hätte, um der Aufforderung der Gendarmerie zum Verlassen des Augebietes nachzukommen, gar keine andere Möglichkeit gehabt, als den Weg in der von ihr eingeschlagenen Richtung zu benutzen, da hinter ihr sich eine große Zahl von Menschen befunden hätten und der Platz noch dazu von der Gendarmerie abgeriegelt gewesen sei.
Die Bf. sei zum Gendarmeriepostenkommando Eckartsau gebracht worden, nachdem sie noch etwa eine Stunde im Arrestantenwagen verbracht habe. In Eckartsau sei sie vernommen und anschließend freigelassen worden. Die Anhaltung der Bf. habe insgesamt etwa dreieinhalb Stunden gedauert.
Die Versammlung, an welcher die Bf. teilgenommen habe, sei ordnungsgemäß und rechtzeitig angezeigt worden, im Zeitpunkt der Festnahme der Bf. nicht untersagt und daher rechtmäßig gewesen. Da die Bf. mit körperlicher Gewalt daran gehindert worden sei, ihr verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Teilnahme an einer ordnungsgemäß angezeigten Versammlung auszuüben, sei die Bf. im Versammlungsrecht verletzt worden.
Die Festnahme der Bf. sei rechtswidrig gewesen. Die Bf. sei nicht auf frischer Tat betreten worden, da sie gar keine strafbare Handlung gesetzt habe. Insbesondere habe sich die Bf. einer allfällig vorgenommenen Auflösung der Versammlung nicht widersetzt, sondern habe sich bereits auf dem einzig ihr zur Verfügung stehenden Weg aus der Au bewegt. Es liege aber auch kein Festnahmegrund vor. Die Bf. sei nicht aufgefordert worden, sich auszuweisen, es habe keine Fluchtgefahr bestanden, auch habe die Bf. nicht trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen gesucht, da sie zum einen gar nicht abgemahnt worden sei und zum anderen nur die Wahl gehabt hätte, auf jenem Platz zu bleiben, auf den die Gendarmerie die Demonstranten getrieben hatte, oder eben jenen Weg zu benützen, auf welchem sie festgenommen worden sei.
Die Bf. sei daher durch ihre Festnahme und darauffolgende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Die Bf. macht überdies Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der V der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 6. Dezember 1984, Z 11-A/84, geltend, mit welcher gemäß ArtII §4 Abs2 VÜG 1929 "das Betreten und der Aufenthalt auf der Baustelle des Donaukraftwerks Hainburg, einschließlich Bauhof und Wohnlager, soweit diese im Verwaltungsbezirk Gänserndorf gelegen sind, durch Unbefugte verboten" wurde; in der Vollziehung dieser Verordnung erblickt die Bf. - mit näherer Begründung - einen Verstoß gegen die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz.
2. Die Sicherheitsdirektion für NÖ hat die Abweisung der vorliegenden Beschwerde beantragt und zunächst darauf hingewiesen, daß der Einsatz von 269 Gendarmeriebeamten am 10. Dezember 1984 unter der Leitung der Sicherheitsdirektion für NÖ erfolgt sei. Der Sicherheitsdirektor, Hofrat Dr. S, habe um 11.00 Uhr dieses Tages die Vertreter der Bezirkshauptmannschaften Bruck a. d. Leitha und Gänserndorf angewiesen, um 13.00 Uhr die Versammlungen im Augebiet zu untersagen und aufzulösen. Der eventuell notwendige Einsatz der Gendarmerie sei danach durch den Vertreter der Sicherheitsdirektion, OR Mag. W, anzuordnen und zu leiten.
Daraufhin seien die Versammlungen an allen jenen Stellen untersagt worden, an denen sich jeweils die größten Gruppen von Demonstranten befunden hätten. Die Untersagung der "nicht angezeigten und derzeit bereits stattfindenden Versammlung im Bereiche der Zufahrtswege zum Baustellengebiet und im Baustellengebiet selbst des Kraftwerkes Hainburg" habe sich auf §13 und auf §2 des Versammlungsgesetzes 1953 gestützt, sei mittels Megaphon verkündet worden und habe die Hinweise enthalten, der Versammlungsort sei sofort zu verlassen, widrigenfalls die Versammelten sich strafbar machten, und im Falle des Ungehorsams sei mit Zwangsmitteln unter Einsatz der Gendarmerie zu rechnen.
Die Zustellung eines Untersagungsbescheides sei nicht möglich gewesen, da trotz intensiver Bemühungen ein Verantwortlicher für die Versammlungen nicht habe ermittelt werden können. Es sei zu diesem Zeitpunkt auch nicht ersichtlich gewesen, daß es sich um die von G S angezeigte Versammlung handeln könnte, weil G S ungeachtet aller Bemühungen unter den Demonstranten nicht habe ausfindig gemacht werden können und auch sonst kein Versammlungsteilnehmer bereit gewesen sei, die Verantwortung für die stattfindende Versammlung zu übernehmen.
Da die Versammelten den mehrfachen und wiederholten Aufforderungen auseinanderzugehen nicht nachgekommen seien, habe der Vertreter der Sicherheitsdirektion für NÖ, OR Mag. W, den Gendarmerieeinsatz angeordnet.
In rechtlicher Hinsicht weist die Sicherheitsdirektion für NÖ darauf hin, daß für die am 10. Dezember 1984 in der Stopfenreuther Au durchgeführten Versammlungen ordnungsgemäße Anzeigen nicht vorgelegen seien. Es habe für die Behörde an diesem Tag ursprünglich keine konkreten Hinweise dafür gegeben, daß es sich bei den stattfindenden Versammlungen um jene handle, die von G S angezeigt worden seien. Erst im Laufe des Gendarmerieeinsatzes hätten sich einzelne Demonstranten darauf berufen, daß die Versammlung von G S angezeigt worden sei. Die Auflösung der gesetzwidrigen Versammlungen und die nachfolgende Räumung der Versammlungsorte sei aufgrund der Bestimmungen des Versammlungsgesetzes erfolgt und nicht in Anwendung der in der Beschwerde kritisierten Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 6. Dezember 1984.
Auf das Vorbringen der Bf. G P erwidert die Sicherheitsdirektion für NÖ, die Bf. habe sich auf den Boden gesetzt und sich mit den Armen bei anderen Versammlungsteilnehmern eingehakt, um die verfügte Auflösung der Versammlung zu vereiteln. Sie sei von Gendarmeriebeamten losgelöst und weggetragen worden, sei jedoch immer wieder "an den Einsatzort der Gendarmen" zurückgekehrt. Die Bf. sei daraufhin von Revierinspektor R W einige Male ermahnt worden, den Widerstand gegen die Auflösung der Versammlung aufzugeben und den Ort zu verlassen, widrigenfalls sie mit ihrer Festnahme rechnen müsse. Da die Bf. jedoch auch weiterhin in zumindest passivem Widerstand verharrte, sei in der Folge ihre Festnahme ausgesprochen worden (§35 litc VStG), sie sei von Revierinspektor W beim Arm genommen und vom Weg weggeführt worden.
Die Behauptung der Bf., es wäre ihr ein anderer Weg zum Verlassen des Versammlungsgebietes nicht zur Verfügung gestanden, sei schon deshalb unzutreffend, weil die Richtung, welche die Bf. vor ihrer Festnahme auf dem Weg eingeschlagen habe, nicht aus der Au hinausgeführt, sondern tiefer in die Au hineingeführt hätte.
II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Die bekämpften Amtshandlungen wurden - worauf auch die Sicherheitsdirektion für NÖ und die Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf im verfassungsgerichtlichen Verfahren übereinstimmend hingewiesen haben - im Auftrag und unter der Leitung eines Beamten der Sicherheitsdirektion für NÖ durchgeführt. Sie sind somit dieser Behörde zuzurechnen (s. hiezu VfSlg. 8545/1979, S 313). Die einschreitenden Beamten vollzogen die hier bekämpften Maßnahmen für die Sicherheitsdirektion, als deren Hilfsorgan sie tätig wurden und deren Vollzugsgewalt sie im konkreten Fall gehandhabt haben (vgl. VfSlg. 8146/1977, S 157 sowie insbesondere VfSlg. 10916/1986); dies gilt auch für den vorliegenden Fall.
Belangte Behörde ist hier daher die Sicherheitsdirektion für NÖ.
2. Zunächst sei bemerkt, daß nach dem - mit dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten in Einklang stehenden - Vorbringen der bel. Beh. die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf vom 6. Dezember 1984 bei der Durchführung der hier bekämpften Maßnahmen am 10. Dezember 1984 nicht angewendet worden ist. Das behördliche Vorgehen stützte sich vielmehr auf die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 1953.
Auch der VfGH wird diese Verordnung bei Prüfung der vorliegenden Beschwerde nicht anzuwenden haben. Die Verordnung ist daher nicht präjudiziell iS des Art139 Abs1 B-VG, weshalb auf die gegen sie vorgebrachten Bedenken nicht eingegangen werden kann, ebensowenig auf den im Zusammenhang damit erhobenen Vorwurf der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz.
3. Zum behaupteten Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit:
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH (s. VfSlg. 10443/1985 und die dort angeführte umfangreiche Vorjudikatur) ist eine Zusammenkunft mehrerer Personen dann als Versammlung iS des Versammlungsgesetzes zu verstehen, wenn sie in der Absicht veranstaltet wird, die Anwesenden zu einem gemeinsamen Wirken (Debatte, Manifestation usw.) zu bringen, sodaß eine gewisse Assoziation der Zusammengekommenen entsteht. Es steht außer Zweifel, daß dies im vorliegenden Fall schon im Hinblick auf das den Manifestanten gemeinsame Ziel einer Verhinderung der Vorarbeiten für das Donaukraftwerk Hainburg der Fall war.
Jede Verletzung des Versammlungsgesetzes 1953, die unmittelbar die Ausübung des Versammlungsrechtes betrifft und damit in die Versammlungsfreiheit eingreift, ist nach der ständigen Judikatur des VfGH (s. VfSlg. 9783/1983, S 82 und die dort angeführte Vorjudikatur) als Verletzung des durch Art12 StGG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Grundrechts zu werten.
b) Da die Versammlung in der Stopfenreuther Au nicht bloß auf geladene Gäste beschränkt war, war sie auch nicht von der Anzeigepflicht nach §2 Versammlungsgesetz 1953 ausgenommen. G S hat am 13. November 1984 ein Schreiben an die Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf gerichtet, in welchem es heißt:
"Ich zeige die Veranstaltung einer allgemein zugänglichen Versammlung ohne Beschränkung auf geladene Gäste an, welche bei Arbeitsbeginn an einem Kraftwerksbau bei Hainburg augenblicklich durchgeführt wird. Der Zweck dieser Veranstaltung ist die Rettung der Donau-March-Thayaauen im Sinne der sie schützenden Gesetze. Die Versammlung wird im Naturschutzgebiet Donau-March-Thayaauen abgehalten, wie es im Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich 225 als Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung beschrieben wird.
Der zeitliche Beginn dieser Veranstaltung ist abhängig vom Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme an einem Kraftwerksbau bei Hainburg.
Es ist beabsichtigt, diese Veranstaltung Tag und Nacht und, wenn es nötig werden sollte, auch mit mehrjähriger Dauer ohne Unterbrechung abzuhalten."
Bei einem derartigen Wortlaut und so unbestimmten Angaben kann das Schreiben insgesamt nicht als eine mangelhafte, sondern überhaupt nicht als Versammlungsanzeige qualifiziert werden. Schon deshalb kann der Rechtsauffassung der Behörde nicht entgegengetreten werden, daß die am 10. Dezember 1984 im Augebiet entstandene(n) Versammlung(en) nicht iS des §2 Versammlungsgesetz 1953 angezeigt worden ist (sind). Daraus ergibt sich, daß die - im Hinblick auf §17 Versammlungsgesetz 1953 zuständige - Sicherheitsdirektion für NÖ gemäß §14 Abs2 Versammlungsgesetz 1953 ermächtigt war, die nach §13 Abs1 leg. cit. verfügte Auflösung der Versammlung durch Anwendung von Zwangsmitteln zu vollziehen (s. hiezu auch unten Punkt 4. b).
Beizufügen bleibt, daß auch die Umstände, die zur Verletzung der Anzeigepflicht hinzuzutreten haben, um eine Versammlungsauflösung zu rechtfertigen (s. auch hiezu die ständige Rechtsprechung des VfGH, insbesondere VfSlg. 10443/1985), im vorliegenden Fall gegeben waren. Es wird in der Beschwerde nicht der geringste Zweifel daran gelassen und lag auch für die Behörde auf der Hand, daß die am 10. Dezember 1984 in der Stopfenreuther Au versammelten Personen in der Absicht an der Versammlung teilnahmen, die Durchführung von Bauarbeiten zu verhindern. Ohne die Auflösung der Versammlung wären also zwei der in Art11 Abs2 MRK aufgezählten Schutzgüter (die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Schutz der Rechte anderer) gefährdet gewesen.
Aus all diesen Erwägungen folgt, daß die Auflösung der als Versammlung zu wertenden Veranstaltung und damit der Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung der Auflösung der Versammlung gesetzmäßig waren. Die Bf. wurde somit im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Versammlungsfreiheit nicht verletzt.
4. Zum behaupteten Verstoß gegen die persönliche Freiheit:
a) Der VfGH hat hiezu Beweis erhoben durch die Einvernahme der Zeugen
C O, R W und der Bf. als Partei. Der VfGH nimmt iZm. dem hier zu beurteilenden Grundrechtsverstoß folgenden Sachverhalt als erwiesen an:
Die Bf. befand sich am 10. Dezember 1984 in der Stopfenreuther Au, um - gemeinsam mit anderen Personen - die Vorarbeiten für das Donaukraftwerk Hainburg zu verhindern. Sie beteiligte sich an "Sitzblockaden", um das Zufahren von Baufahrzeugen zu behindern. Die Versammlungsteilnehmer wurden von Angehörigen der Exekutive immer wieder - vergeblich - aufgefordert, dies zu unterlassen. Die Bf. wurde in der Folge von Gendarmeriebeamten mehrfach vom Weg weggezerrt. Nach einiger Zeit ging die Bf. gemeinsam mit dem Zeugen O auf einem Weg, als auf diesem Weg ein LKW nachkam, gingen die Bf. und ihr Begleiter "in dem Bestreben, die Arbeiter aufzuhalten" (wie die Bf. angibt) nicht vom Weg weg. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Gendarmeriebeamte R W mit einem Gendarmeriefahrzeug in der Nähe. Durch Huptöne aufmerksam gemacht, sah der Beamte die Bf. ganz langsam vor dem LKW gehen und erinnerte sich, daß ihm die Bf. an diesem Tag durch besonders beharrlichen (passiven) Widerstand schon aufgefallen war. Inspektor W erinnerte sich auch, die Bf. etwa 10 bis 15 Minuten vorher, als er sie bei der gewaltsamen Räumung eines Weges zweimal wegzerren mußte, jeweils abgemahnt und darauf hingewiesen zu haben, daß er sie festnehmen würde, falls er sie "neuerlich bei so einer Kette" antreffen würde. Der Gendarmeriebeamte fuhr daraufhin bis auf eine Entfernung von zirka 30 m in Richtung der Bf., dann rief er aus dem Fahrzeug, daß die Personen zur Seite gehen sollten. Die Bf. und ihr Begleiter leisteten dieser Aufforderung aber nicht Folge. Der Gendarmeriebeamte fuhr sodann mit seinem Fahrzeug bis zur Bf. hin, stieg aus und nahm sie ohne (weitere) Abmahnung fest.
Die darauf folgende Anhaltung der Bf. dauerte nach ihren unwidersprochenen Angaben etwa dreieinhalb Stunden.
Diese Feststellungen des VfGH stützen sich auf die diesbezüglich weitgehend übereinstimmenden Angaben der Zeugen und der Bf., wobei deren Angaben nur dahin divergieren, daß die Bf. sich an die Abmahnungen durch den Gendarmeriebeamten W nicht erinnern kann und die aus etwa 30 m ausgesprochene Aufforderung des Beamten, zur Seite zu gehen, nicht gehört haben will. Der VfGH nimmt die (früheren) Abmahnungen durch Inspektor W als erwiesen an, zumal ansonsten die sowohl von der Bf. als auch vom Zeugen O wiedergegebene Äußerung des Beamten "Sie schon wieder" (oder so ähnlich) keinen Sinn ergäbe. Nicht als erwiesen angenommen werden kann, daß die Bf. die aus einer Entfernung von etwa 30 m ausgesprochene Aufforderung des Gendarmeriebeamten gehört hat (s. hiezu unten unter Punkt b).
b) Der angeführte Sachverhalt führt zu folgender rechtlicher Beurteilung:
Nach §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen. Hiezu zählt auch die Bestimmung des §35 VStG 1950, auf die sich die bel. Beh. beruft. Die Bf. wäre sohin durch die Festnahme im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nur verletzt worden, wenn die Festnahme nicht in dieser Gesetzesvorschrift begründet wäre (zB VfSlg. 9368/1982).
Im Erk. VfSlg. 8545/1979 ist der VfGH davon ausgegangen, daß die Sicherheitsdirektion zu einer auf §35 VStG 1950 gestützten Festnahme nicht zuständig sei, weil die Sicherheitsdirektion (nach den in diesem Fall maßgeblichen Bestimmungen des Fremdenpolizeigesetzes) nicht kompetent gewesen wäre, als Verwaltungsstrafbehörde I. Instanz aufzutreten. Im vorliegenden Fall wurde die Sicherheitsdirektion für NÖ jedoch aufgrund des Versammlungsgesetzes 1953 tätig; sie war nach §17 dieses Gesetzes - eine dringende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit iS dieser Bestimmung war bei einer Versammlung in der Größe und mit einer Zielsetzung wie der hier stattgefundenen zweifellos gegeben - zur Auflösung der Versammlung zuständig; als Zwangsmittel bei gewaltsamer Auflösung einer Versammlung gemäß §14 Abs2 Versammlungsgesetz 1953 kann selbstredend - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - auch eine Festnahme in Betracht kommen. Das bedeutet, daß - anders als im Falle des Erk. VfSlg. 8545/1979 - bei auf dem Versammlungsgesetz 1953 fußenden Amtshandlungen der Sicherheitsdirektion (auch) eine Befugnis zu Festnahmen gemäß §35 VStG 1950 zukommt.
Bei der gegebenen Situation konnte der Gendarmeriebeamte W mit gutem Grund annehmen, die Bf. habe eine Verwaltungsübertretung nach §19 Versammlungsgesetz 1953 begangen und verharre in Fortsetzung dieser Straftat, wobei auch die von §35 VStG vorausgesetzte Betretung auf frischer Tat gegeben war (vgl. VfSlg. 7464/1974 und 7987/1977). Denn der Beamte hatte wahrgenommen, wie die ihm als Versammlungsteilnehmerin bekannte Bf. - entsprechend der mit der aufgelösten Versammlung verbundenen Absicht der Verhinderung von Arbeiten für das Donaukraftwerk Hainburg - einen LKW mit Arbeitern an der Weiterfahrt behinderte. Ob die Bf. dieses Verhalten zu einem Zeitpunkt setzte, zu dem sie sich vom Versammlungsort eigentlich entfernen wollte, ist bei dieser Sachlage ohne Bedeutung.
Es mangelte jedoch an der für die Rechtmäßigkeit einer Festnehmung nach §35 litc VStG erforderlichen Abmahnung:
Der VfGH legt an das Formerfordernis der Abmahnung in seiner Rechtsprechung einen strengen Maßstab an (vgl. das Erk. vom 4. März 1985, B488/83, zum Erfordernis der unmittelbaren und individuellen Abmahnung, falls die Umstände dies ermöglichen, sowie das Erk. vom 22. November 1985, B883/84, zum Erfordernis des engsten zeitlichen und örtlichen Zusammenhanges zwischen Abmahnung und Festnahme).
Im Sinne dieser Rechtsprechung können unter den spezifischen Gegebenheiten des hier vorliegenden Falles die früheren, mindestens 10 bis 15 Minuten zurückliegenden und zudem auf ein anders gelagertes Verhalten der Bf. ("Sitzblockade") bezogenen Abmahnungen des Gendarmeriebeamten W nicht als die später vorgenommene Festnahme der Bf. rechtfertigende Abmahnungen angesehen werden. Diese Abmahnungen waren zwar im Rahmen derselben Versammlung erfolgt, haben sich aber in der konkreten Situation auf eine unterschiedliche Handlungsweise der Bf. bezogen und waren an einem anderen Ort ausgesprochen worden; hiezu kommt ein gewisses zeitliches Auseinanderklaffen zwischen Abmahnung und Festnahme. Unter diesem Umständen können die früheren Abmahnungen eine unmittelbar vor der Festnahme ausgesprochene, auf das nunmehrige Verhalten der Bf. bezogene Abmahnung nicht ersetzen.
Der festnehmende Beamte W behauptet indes, ohnehin eine (weitere) "Abmahnung" vom Fahrzeug aus einer Entfernung von etwa 30 m ausgesprochen zu haben. Unter diesen Umständen kann (zumal durch Hup- und Motorgeräusche sowie durch Zurufe der Arbeiter ein gewisser Lärm geherrscht haben dürfte) nicht als erwiesen angenommen werden, daß die Bf. diese "Abmahnung" gehört hat. Jedenfalls hätte den Beamten nichts daran gehindert, zur Bf. hinzufahren (was er in der Folge ohnehin getan hat) und die Abmahnung an Ort und Stelle auszusprechen. Bei diesem Ergebnis braucht nicht erörtert zu werden, ob die vom Zeugen W wiedergegebene Wortwahl seiner "Abmahnung", die Bf. möge "zur Seite gehen", überhaupt als Abmahnung iS des §35 litc VStG qualifiziert werden könnte.
Die Bf. ist daher durch ihre Festnahme und die darauf folgende Anhaltung in der Dauer von etwa dreieinhalb Stunden im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Schlagworte
Versammlungsrecht, Festnehmung, Behördenzuständigkeit, Ausübung unmittelbarer Befehls- und ZwangsgewaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1986:B44.1985Dokumentnummer
JFT_10139075_85B00044_00