TE Vfgh Erkenntnis 1986/9/26 B859/85

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Veröffentlicht am 26.09.1986
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
B-VG Art144 Abs3
FremdenpolizeiG §5 Abs1
FremdenpolizeiG §11 Abs2
FremdenpolizeiG §13
PersFrSchG §4
VfGG §88
ZustellG §9 Abs1

Leitsatz

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; die Anordnung der Verhängung der Schubhaft schließt auch die Festnahme ein; Festnahme des Bf. und darauffolgende Anhaltung konnte bis zur wirksamen Zustellung des Schubhaftbescheides an den Rechtsvertreter des Bf. nicht auf das FrPG gestützt werden; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit Art144 Abs1 B-VG; aufgrund eines vollstreckbaren Schubhaftbescheides erfolgte Festnahme, Anhaltung und Abschiebung sind Maßnahmen, die der Vollstreckung der vorangegangenen Bescheide (Verhängung des Aufenthaltsverbotes und der Schubbaft) dienen - keine Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt; Zurückweisung der Beschwerde gegen die Anhaltung nach wirksamer Zustellung des Schubhaftbescheides und gegen die Abschiebung

Spruch

1. Der Bf. ist durch die am 11. Oktober 1985 um 20.50 Uhr von Beamten des Gendarmeriepostenkommandos St. Martin im Mühlkreis/OÖ in Plöcking vorgenommene Festnahme und die folgende Anhaltung im Gefangenenhaus der Bundespolizeidirektion Linz, soweit sie bis 14. Oktober 1985, 09.15 Uhr währte, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

2. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antrag, die Beschwerde dem VwGH abzutreten, wird abgewiesen.

3. Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Bf. ist türkischer Staatsangehöriger. Er hatte seinen Wohnsitz in Linz.

Die Bundespolizeidirektion Linz erließ mit Bescheid vom 12. September 1985 gemäß §3 Abs1 und 2 litb iVm. §4 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. 75/1954, (FrPG) gegen ihn ein unbefristetes Aufenthaltsverbot für das ganze Bundesgebiet. Die dagegen erhobene Berufung wies die Sicherheitsdirektion für das Bundesland OÖ mit Bescheid vom 17. September 1985 ab und setzte gemäß §6 Abs2 FrPG die Frist zur Ausreise auf 24 Stunden nach Rechtskraft des Aufenthaltsverbotes fest. Der Berufungsbescheid wurde dem Bf. am 17. September 1985 zugestellt.

Der Bf. kam dem Ausreiseauftrag nicht nach. Die Bundespolizeidirektion Linz ordnete daraufhin mit Bescheid vom 3. Oktober 1985 gemäß §5 Abs1 FrPG in Anwendung des §57 Abs1 AVG 1950 zur Sicherung der Abschiebung die vorläufige Verwahrung (Schubhaft) an. Der Behörde war bekannt, daß der Bf. in dieser Rechtssache durch einen Rechtsanwalt vertreten wurde. Sie stellte daher den Bescheid dem Rechtsvertreter als Empfänger zu, und zwar im Wege der Post. Laut Rückschein übernahm der Rechtsvertreter den Schubhaftbescheid am 14. Oktober 1985 um 09.15 Uhr.

Inzwischen fahndete die Bundespolizeidirektion Linz nach dem Bf., der seinen Wohnsitz in Linz verlassen hatte. Es gelang, ihn in Plöcking, Gemeinde St. Martin im Mühlkreis, auszuforschen. Über telefonisches Ersuchen der Bundespolizeidirektion Linz wurde er am 11. Oktober 1985 um 20.50 Uhr von Beamten des Gendarmeriepostenkommandos St. Martin i. Mühlkreis/Bezirk Rohrbach/OÖ festgenommen und um 21.45 Uhr dem Polizeigefangenenhaus der Bundespolizeidirektion Linz eingeliefert. Dort wurde ihm kurze Zeit später eine Ausfertigung des Schubhaftbescheides vom 3. Oktober 1985 ausgefolgt.

Am 18. Oktober 1985 wurde er der Bundespolizeidirektion Schwechat überstellt und um 11.50 Uhr mit einem Flugzeug in die Türkei abgeschoben.

2. Die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde wendet sich gegen die am 11. Oktober 1985 erfolgte Festnahme des Bf. sowie gegen die darauf folgende, bis 18. Oktober 1985 währende Anhaltung und die anschließende Abschiebung in die Türkei am 18. Oktober 1985.

Der Bf. behauptet, durch diese Maßnahmen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden zu sein. Er beantragt, diese Rechtsverletzung kostenpflichtig festzustellen; hilfsweise wird begehrt, die Beschwerde dem VwGH abzutreten.

3. a) Die Bezirkshauptmannschaft Rohrbach erstattete eine Gegenschrift, in der sie mitteilt, sie habe von der durch Gendarmeriebeamte in Plöcking vorgenommene Festnahme keine Kenntnis gehabt.

b) Die Bundespolizeidirektion Linz, vertreten durch die Finanzprokuratur, erstattete gleichfalls eine Gegenschrift, in der beantragt wird, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

II. Der VfGH hat erwogen:

1. a) Gemäß §5 Abs1 FrPG kann ein Fremder ua. zur Sicherung der Abschiebung vorläufig in Verwahrung genommen werden (Schubhaft), wenn dies im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung oder Sicherheit oder aus dem Grunde notwendig erscheint, um ein unmittelbar zu befürchtendes strafbares Verhalten des Fremden zu verhindern. Die Schubhaft ist, wie sich aus §11 Abs2 FrPG ergibt, mit Bescheid anzuordnen. Die Verhängung der Schubhaft schließt auch die Festnahme ein (vgl. zB VfSlg. 9323/1982 und die dort zitierte Vorjudikatur).

Eine Festnahme, die dazu dient, einen Fremden in Schubhaft zu nehmen, darf also nur erfolgen, wenn sie durch einen Bescheid verfügt worden ist. Ein schriftlicher Bescheid gilt erst dann als erlassen, wenn er wirksam zugestellt wurde.

b) Diese Voraussetzung wurde hier zunächst nicht erfüllt: Der Bf. wurde am 11. Oktober 1985 um 20.50 Uhr von einem Gendarmeriebeamten festgenommen, ohne daß zuvor ein Schubhaftbescheid erlassen worden wäre. Der Schubhaftbescheid war zwar bereits am 3. Oktober 1985 ausgefertigt worden. Er wurde dem Bf. persönlich am 11. Oktober 1985 nach seiner Überstellung ins Gefangenenhaus der Bundespolizeidirektion Linz ausgefolgt. Da er - wie der Behörde bekannt war - rechtsfreundlich vertreten war, bewirkte diese Übergabe einer Ausfertigung des Schubhaftbescheides keine wirksame Zustellung (s. §9 Abs1 Zustellgesetz; vgl. Walter - Mayer, Das österreichische Zustellrecht, Wien 1983, Anm. 15 zu §9; vgl. auch die Judikatur zur Vorgängerbestimmung, nämlich zu §26 AVG, zB 3949 A/1956, 6634 A/1965, 6735 A/1965). Vielmehr gilt der Schubhaftbescheid erst am 14. Oktober 1985, 09.15 Uhr, als erlassen, dies dadurch, daß er dem Rechtsvertreter des Bf. im Wege der Post zugestellt wurde.

c) Nach §4 des im Verfassungsrang stehenden Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt (nur) in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen. Ein solcher Fall lag hier nicht vor: Wie in der vorstehenden litb dargetan wurde, konnte die Festnahme des Bf. mangels eines vorangegangenen förmlichen Schubhaftbescheides nicht auf das FrPG gestützt werden (vgl. zB VfSlg. 9323/1982); gleiches gilt für die Anhaltung bis zur wirksamen Zustellung des Schubhaftbescheides an den Rechtsvertreter des Bf. am 14. Oktober 1985. Eine andere gesetzliche Grundlage (etwa §35 VStG) war nicht gegeben; dies wird auch von den bel. Beh. gar nicht behauptet.

d) Es war sohin festzustellen, daß der Bf. durch die am 11. Oktober 1985 vorgenommene Festnahme und durch die darauf folgende Anhaltung bis 14. Oktober 1985, 09.15 Uhr (durch Maßnahmen, die als in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt erfolgte individuelle Verwaltungsakte iS des Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG zu qualifizieren sind) im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden ist.

2. a) Im übrigen ist die Beschwerde jedoch unzulässig:

Die Schubhaft ist - wie bereits dargetan - mit Bescheid anzuordnen. Die Verhängung der Schubhaft schließt auch die Festnahme ein. Ein vollstreckbarer Schubhaftbescheid ist also Voraussetzung dafür, daß ein Fremder in Schubhaft genommen, in Schubhaft gehalten (vgl. zB die ständige Rechtsprechung des VfGH, zB VfSlg. 9465/1982, 9999/1984) und in weiterer Folge iS des §13 FrPG abgeschoben werden darf (vgl. zB VfSlg. 9999/1984). Weder die aufgrund eines vollstreckbaren Schubhaftbescheides erfolgte Festnahme und Anhaltung noch die Abschiebung stellen (etwa bescheidmäßig zu treffende) Vollstreckungsverfügungen dar; sie sind Maßnahmen, die der Vollstreckung der vorangegangenen Bescheide (mit denen das Aufenthaltsverbot und die Schubhaft verhängt wurden) dienen. Derartige Verwaltungsakte, die bloß als Maßnahmen zur Vollstreckung vorangegangener Bescheide anzusehen sind, können nicht als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, als sog. "faktische Amtshandlungen" qualifiziert werden, die nach Art144 Abs1 B-VG beim VfGH bekämpfbar sind (vgl. zB VfSlg. 7458/1974, 8752/1980, 8991/1980, 9999/1984).

Die Beschwerde war daher, soweit sie sich gegen die Anhaltung nach Erlassung (wirksame Zustellung) des Schubhaftbescheides - also gegen die Haft nach dem 14. Oktober 1985, 9.15 Uhr - und gegen die Abschiebung wendet, mangels Zuständigkeit des VfGH zurückzuweisen.

b) Der Antrag, die Beschwerde nach Art144 Abs3 B-VG dem VwGH abzutreten, war schon deshalb abzuweisen, weil eine solche Abtretung nur für den Fall vorgesehen ist, daß der VfGH in der Sache selbst negativ entscheidet, nicht aber für den Fall, daß die Zurückweisung der Beschwerde aus formalrechtlichen Gründen erfolgt.

3. Da die Prozeßparteien teils obsiegt haben, teils unterlegen sind, ist es angebracht, die Verfahrenskosten gegeneinander aufzuheben (vgl. zB VfSlg. 9537/1982).

Schlagworte

Fremdenpolizei, Schubhaft, Festnehmung, Zustellung, Verwaltungsverfahren Vollstreckung, Ausübung unmittelbarer Befehls- ung Zwangsgewalt, VfGH / Zuständigkeit, VfGH / Abtretung, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:B859.1985

Dokumentnummer

JFT_10139074_85B00859_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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