TE Vfgh Erkenntnis 1986/10/3 B156/86

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Veröffentlicht am 03.10.1986
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

B-VG Art140 Abs7
MRK Art8
FremdenpolizeiG §3

Leitsatz

FremdenpolizeiG; MRK Art8; Verhängung eines befristeten Aufenthaltsverbotes gemäß §3 Abs1 und 2 litb iVm. 4 FrPG; verfassungsrechtliche Unangreifbarkeit des unter Fristsetzung vom VfGH aufgehobenen §3 bis zum Ablauf der Frist (Hinweis auf VfSlg. 10737/1985); bis zum Ablauf der Frist hat die Verwaltungsbehörde zusätzlich zu §3 FrPG den Art8 Abs2 MRK als innerstaatlich anwendbares Recht zu beachten und auszulegen; hier keinerlei auf Art8 bezughabende Interessenabwägung; Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art8 MRK

Spruch

Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Bgld. verhängte mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 9. Jänner 1986 über den Bf. - einen ungarischen Staatsangehörigen - gemäß §3 Abs1 und 2 litb iVm. 4 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. 75/1954, (FrPG) ein bis zum 31. Dezember 1995 befristetes Aufenthaltsverbot für das gesamte Bundesgebiet.

Dieser Bescheid wurde damit begründet, daß der Bf. vier gerichtliche Vorstrafen aufweise; er sei dreimal wegen Verletzung der Unterhaltspflicht (§198 Abs1 (und 2) StGB) verurteilt worden, zuletzt mit rechtskräftigen Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt vom 27. September 1984 zu einer viermonatigen Freiheitsstrafe. Nach Ansicht der Sicherheitsdirektion habe der Bf. durch sein Verhalten gezeigt, daß er nicht gewillt sei, sich der österreichischen Rechtsordnung unterzuordnen. Lägen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes vor, so habe die Behörde ein Aufenthaltsverbot zu erlassen, auch wenn dies eine Härte für den Fremden mit sich bringe. Die Behörde könne somit bei Vorliegen der Voraussetzung von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nicht Abstand nehmen. An dieser Auffassung vermöge auch der in der Berufung vorgebrachte Einwand nichts zu ändern, der Bf. komme seit einem Jahr seiner Unterhaltspflicht nach und würde dies im Falle einer Abschiebung nach Ungarn nicht mehr tun können.

2. Gegen diesen Berufungsbescheid vom 9. Jänner 1986 wendet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Gleichheit vor dem Gesetz behauptet wird. Der Bf. beantragt, den angefochtenen Bescheid kostenpflichtig aufzuheben.

In der Beschwerde wird auf das hg. Erk. VfSlg. 10737/1985, verwiesen, mit dem der VfGH §3 FrPG wegen Verstoßes gegen Art8 MRK als verfassungswidrig aufgehoben, jedoch für das Inkrafttreten der Aufhebung eine Frist bis zum 30. November 1986 gesetzt hat. Der Bf. meint, daß der als verfassungswidrig erkannte §3 FrPG "bis zum Inkrafttreten der Aufhebung in allen bis dahin anhängigen Verfahren weiterhin iS der früheren Judikatur des VfGH verfassungskonform, dh. unter Heranziehung des Art8 MRK zu interpretieren und anzuwenden" sei. Die Behörde wäre daher iS einer verfassungskonformen Auslegung des §3 FrPG verpflichtet gewesen, die von Art8 MRK geforderte Interessenabwägung vorzunehmen, also zu überlegen, ob der Eingriff in das Privat- und Familienleben zwingenden sozialen Bedürfnissen (wie sie in Art8 Abs2 MRK umschrieben werden) entspricht und ob der Eingriff in angemessenem Verhältnis zum verfolgten berechtigten Ziel steht. Beides sei hier zu verneinen.

3. Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Bgld. als bel. Beh., vertreten durch die Finanzprokuratur, erstattete eine Gegenschrift, in der begehrt wird, die Beschwerde kostenpflichtig als unbegründet abzuweisen.

Dies wird im wesentlichen damit begründet, aufgrund des in der Beschwerde zitierten hg. Erk. VfSlg. 10737/1985 sei für die bis zum 30. November 1986 verwirklichten Tatbestände davon auszugehen, daß §3 FrPG verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Art8 MRK sehe eine Interessenabwägung (expressis verbis) nicht vor und schließe die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nicht aus. Auch §3 FrPG in der bisherigen Fassung enthalte keine Bestimmung über eine Interessenabwägung. Vielmehr sei §3 Abs2 litb FrPG (auf diese Bestimmung sei der angefochtene Bescheid vor allem gestützt) sehr konkret gefaßt und tue ganz offenkundig das - überwiegende - öffentliche Interesse an der Ausweisung im Hinblick auf die evidente Gefährdung der öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit dar. §3 FrPG sei nach wie vor verfassungskonform auszulegen. Es sei daher bei Vorliegen der Voraussetzungen des §3 Abs2 litb FrPG (mehr als dreimonatige Freiheitsstrafe) die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes jedenfalls gerechtfertigt.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. a) Der VfGH hat mit Erk. VfSlg. 10737/1985, §3 FrPG als verfassungswidrig aufgehoben, jedoch verfügt, daß diese Aufhebung erst mit Ablauf des 30. November 1986 in Kraft tritt.

Bis dahin ist §3 FrPG verfassungsrechtlich einwandfreier Bestandteil der Rechtsordnung geworden; er ist verfassungsrechtlich unangreifbar (vgl. zB VfSlg. 4718/1964, 5310/1966, 8483/1979). §3 FrPG kann daher innerstaatlich nicht in Widerspruch zu dem auf Verfassungsstufe stehenden Art8 MRK stehen.

Wie der VfGH im soeben zitierten Erkenntis dargetan hat, kann schon die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß §3 FrPG - und nicht erst die Ablehnung eines Vollstreckungsaufschubes nach §6 Abs2 FrPG - einen Eingriff in das durch Art8 MRK gewährleistete Recht auf Privat- und Familienleben bewirken.

In diesem Erkenntnis hat der VfGH ausgeführt, das Gesetz selbst müsse die für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes geltenden (materiellen) Eingriffsschranken, wie sie Art8 Abs2 MRK vorschreibt, deutlich erkennen lassen. Werde diese Konventionsbestimmung als unmittelbar anzuwendende Vorschrift im Zusammenhalt mit §3 FrPG gelesen, so ergebe sich kein Normenkomplex, der die Eingriffstatbestände auf eine diesen Anforderungen genügende Weise umschreibt.

Im Hinblick auf die oben geschilderte Wirkung der Setzung einer Frist ist aber bis zu deren Ablauf der Mangel der fehlenden gesetzlichen Konkretisierung des Art8 Abs2 MRK verfassungsgesetzlich saniert. Das bedeutet, daß die an sich vom Gesetzgeber wahrzunehmende Aufgabe, den Art8 Abs2 MRK näher auszuführen, von der Verwaltungsbehörde wahrzunehmen ist. Die Verwaltungsbehörde ist also verpflichtet, zusätzlich zu §3 FrPG den Art8 Abs2 MRK als innerstaatlich anwendbares Recht zu beachten und auszulegen. Die Verwaltungsbehörde hat mithin anhand des Art8 Abs2 MRK in jedem konkreten Fall zu beurteilen, ob die hier - weitmaschig - umschriebenen Voraussetzungen vorliegen, die es erlauben, ungeachtet des Eingriffes in das Privat- und Familienleben ein Aufenthaltsverbot zu erlassen; der Eingriff muß ein Ziel haben, das nach Art8 Abs2 MRK gerechtfertigt ist und muß zur Erreichung dieses Zieles in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein.

Wenn die Behörde diese Aufgabe vernachlässigt, verletzt sie das durch Art8 MRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht.

b) Im Beschwerdefall hat die bel. Beh. diese Frage überhaupt nicht behandelt, obgleich der Bf. in der Berufungsschrift ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß er in Österreich verheiratet sei und auch für ein eheliches Kind zu sorgen habe.

Die bel. Beh. hat - ausgehend von der verfassungswidrigen Rechtsauffassung, sie habe nach der derzeitigen Rechtslage eine Interessenabwägung nicht vorzunehmen - keinerlei in diese Richtung zielende Überlegungen angestellt.

Aus dem folgt, daß der Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art8 MRK verletzt wurde.

Der Bescheid war mithin aufzuheben.

Schlagworte

VfGH / Sachentscheidung Wirkung, VfGH / Aufhebung Wirkung, Fremdenpolizei, Aufenthaltsverbot

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:B156.1986

Dokumentnummer

JFT_10138997_86B00156_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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