Preis- und Konditionenmissbrauch (§ 5 Abs 1 Z 1)
5) Die Formulierungen für den Preis- und Konditionenmissbrauch in § 5 Abs. 1 Z 1 wurden durch das KaWeRÄG 2012 dem Text von § 19 Abs. 4 Z 2 dGWB angepasst.
6) § 5 Abs 1 Z 1 KartG verbietet den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung, der insbesondere in der Forderung nach Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder nach sonstigen Geschäftsbedingungen bestehen kann, „die von denjenigen abweichen, die sich bei wirksamem Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben würde, wobei insbesondere die Verhaltensweisen von Unternehmern auf vergleichbaren Märkten mit wirksamem Wettbewerb zu berücksichtigen sind“. Der Wortlaut dieser Bestimmung ist dem Text des § 19 Abs 4 Z 2 dGWB angepasst (ErläutRV 1804 BlgNR 24. GP 7; 16 Ok 13/13).
7) § 5 Abs 1 Z 1 KartG untersagt bereits das „Fordern“ missbräuchlicher Preise oder Geschäftsbedingungen. Dieses „Fordern“ ist nicht auf Vertragsverhandlungen beschränkt, sonder umfasst auch das Festhalten am Vertrag, also die Verweigerung einer Preissenkung oder Vertragsanpassung (vgl BGH KVR 13/83, WuW/E BGH 2103).
8) Gemäß § 5 Abs 1 Z 1 Halbsatz 1 KartG ist ein von einem Anbieter geforderter Preis missbräuchlich hoch, wenn er auf der Grundlage der marktbeherrschenden Stellung zustande kommt und höher ist, als er sich „bei wirksamem Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben würde“. Als Verfahren zur Feststellung des hypothetischen Wettbewerbspreises (wettbewerbsanaloger Preis) nennt das Gesetz ausdrücklich das Vergleichsmarktkonzept, ohne andere Methoden (arg: „insbesondere“) auszuschließen (16 Ok 13/13).
9) Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichthofes (BGH) zu § 19 Abs 4 GWG – der Vorbildnorm für § 5 Abs 1 Z 1 Halbsatz 1 KartG – begründet die Überschreitung des wettbewerbsanalogen Preises für sich genommen noch nicht die Annahme eines missbräuchlichen Preises; ein solcher ist nur gegeben, wenn eine erhebliche Überschreitung vorliegt, enthält doch der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung ein Unwerturteil (vgl Nothdurft in Langen/Bunde, Kartellrecht I12 § 19 GWB Rz 77 mwN; Möschel in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht II4 § 19 GWB Rz 160 f mwN; 16 Ok 13/13).
10) Für die Frage des hypothetischen Wettbewerbspreises und der Erheblichkeit der Preisüberschreitung als anspruchbegründender Tatsache trägt die Antragstellerin die Behauptungs- und Beweislast (16 Ok 6/00 = SZ 73/153; 16 Ok 11/02).
11) Setzt sich ein Preis aus mehreren Bestandteilen zusammen, ist das Gesamtentgelt im Rahmen der Preishöhenmissbrauchsaufsicht maßgebend. Denn nicht die Art der Preisfindung, sonder nur deren Ergebnis kann letztlich ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung sein. Deshalb reicht die Missbräuchlichkeit einzelner Entgeltbestandteile nicht zum Nachweis eines Missbrauchs im Sinn des § 5 Abs 1 Z 1 KartG aus (16 Ok 13/13). Dessen ungeachtet sind auch Entgeltbestandteile relevant. Der Ansatz insbesondere einer Mehrheit von Preisbildungsfaktoren, von denen anzunehmen ist, dass auf ihrer Grundlage kalkulierte Preise bei wirksamem Wettbewerb auf dem Markt nicht durchgesetzt werden könnten, kann ein Indiz dafür sein, dass der so gewonnene Preis missbräuchlich überhöht ist (BGH KVR 36/04, WuW/E DE-R 1617).
12) Die Feststellung, dass der Preis für ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung der wettbewerbsanaloge Preis ist, setzt den Nachweis voraus, dass die verfahrensgegenständlichen Produkte oder Dienstleistungen sehr ähnlich sind, sodass mit Korrekturaufschlägen der hypothetische Wettbewerbspreis ermittelt werden kann (vgl Nothdurft in Langen/Bunte, Kartellrecht I12 § 19 GWB Rz 111, 113 mwN).
13) Im Vertikalverhältnis kann es aber auch dadurch zu einem Konditionen-Missbrauch kommen, dass der beherrschende Lieferant vom gebundenen Abnehmer die Einhaltung von Standards/Kriterien verlangt, die objektiv nicht gerechtfertigt sind. Die Europäische Kommission hat mit ihren „Leitlinien für vertikale Beschränkungen“, ABl Nr C 130 vom 19.5.2010, unter Verweis auf die ständige Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union präzisiert, dass die Kriterien / Standards nicht über das hinausgehen dürfen, was erforderlich ist (Rz 175; vgl. die Urteile des Gerichtshofes vom 11. Dezember 1980 in der Rs. L’Oreal/PVBA, S. 3775, Rz. 15 f.; vom 25. Oktober 1977 in der Rs. 26/76, Metro/Kommission [Metro I], S. 1875, Rz. 20 f.; vom 25. Oktober 1983 in der Rs. 107/82, AEG/Kommission, S. 3151, Rz 35; und vom 27. Februar 1992 in der Rs. T-19/91, Vichy/Kommission, II-415, Rz. 65). In ihren „Ergänzenden Leitlinien für vertikale Beschränkungen in Vereinbarungen über den Verkauf und die Instandsetzung von Kraftfahrzeugen und den Vertrieb von Kraftfahrzeugenersatzteilen“, ABl Nr C 138 vom 28.5.2010, hat die Kommission diese Rechtsauffassung wiederholt (Rz 43). Gehen Standards über das hinaus, was objektiv geboten ist, kann die - sonst gegebene - Freistellung einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung vom Kartellverbot verlorengehen.
14) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in den Verfahren Metro II und Galec (Metro SB-Großmärkte GmbH & Co KG v Kommission, Rs. 75/84; Groupement d’achat Edouard Leclerc v Kommission, Rs. T-19/92) Tests entwickelt, um feststellen zu können, ob von einem Hersteller seinen Händlern vorgeschriebene Standards objektiv geboten sind.
Missbrauch am Strom- und Gasmarkt
15) Der österreichische Strom- und Gasmarkt ist durch eine hohe Konzentration gekennzeichnet. Eine Branchenuntersuchung der Bundeswettbewerbsbehörde hat ergeben, dass insbesondere die Märkte zur Belieferung von Kleinkunden (Haushalte und Gewerbe) räumlich auf das Netzgebiet des lokalen Versorgers eingeschränkt sind. Die Endverbraucherpreise sind in den einzelnen Versorgungsgebieten sehr unterschiedlich, ohne dass dies nachvollziehbar wäre.
16) Der Nachweis eines Marktmachtmissbrauchs durch einzelne Versorger ist im Strom- aber auch im Gasbereich besonders schwierig, da die Beschaffungszeiträume für Versorger am Großhandelsmarkt sehr lang und die Preisvolatilitäten sehr hoch sind. Es ist daher schwer zwischen legitimen Strategien des Risikomanagements und verfehlten Einkaufsstrategien wie auch zwischen dem Risiko angemessenen Renditen und unangemessenen Renditen zu unterscheiden. Im leitungsgebundenen Energiebereich, welcher zu den regulierten Sektoren gehört, wäre aufgrund der beschriebenen besonderen Situation eine Sonderbestimmung sachlich gerechtfertigt.
18) Nach der RV zu KaWeRÄG 2012 sah ein neuer § 5a daher ein Verbot für marktbeherrschende Energieversorgungsunternehmer vor, Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen zu fordern, die ungünstiger seien als diejenigen anderer Versorgungsunternehmer oder von Unternehmern auf vergleichbaren Märkten. Der Unternehmer hätte aber die Möglichkeit gehabt, zu beweisen, dass die Abweichung sachlich gerechtfertigt ist. Weiters war ein Verbot der Forderung von Entgelten, die die Kosten in unangemessener Weise überschreiten, vorgesehen. Damit sollte das generelle Missbrauchsverbot des § 5 konkretisiert werden.
20) Im Hinblick auf mögliche Änderungen der Wettbewerbssituation auf den Energiemärkten war eine Befristung von § 5a bis 31.12.2016 vorgesehen. Im Rahmen der Ausschussberatungen des Nationalrates wurde die in der RV vorgesehene Regelung jedoch mehrheitlich abgelehnt, sie ist nicht in Kraft getreten. Potenzieller Missbrauch am Strom- und Gasmarkt ist daher weiterhin nach § 5 Abs 1 Z 1 und 2 zu beurteilen.
Behinderungsmissbrauch nach § 5 Abs 1 Z 3
21) Verstößt ein Marktbeherrscher gegen das Diskriminierungsverbot des § 5 Abs 1 Z 3 KartG, so greift er nicht nur in den Wettbewerb auf dem vor- oder nachgelagerten Markt ein, sondern verändert auch die vom Gesetz für den Sonderfall eines „beherrschten" Marktes als angemessen angesehene Ausgangslage für den Wettbewerb auf seiner eigenen Wirtschaftsstufe. Damit beeinträchtigt er den Wettbewerb anderer Unternehmen im Sinne von § 1 Abs 1 Z 1 UWG (4 Ob 60/09s).
Behinderung potentieller Geschäftspartner
22) Weder nach dem KartG noch nach europäischem Wettbewerbsrecht besteht grundsätzlich ein Kontrahierungszwang (16 Ok 1/12; 16 Ok 23/04 - RIS-Justiz RS0109204). Dabei ist allerdings zwischen Marktbeherrschern nach § 4 Abs. 1 und 2 einerseits und solchen nach § 4 Abs. 3 andererseits zu unterscheiden: Marktbeherrscher nach § 4 Abs. 3 KartG können gezwungen sein, die Geschäftsbeziehungen zu Abnehmern oder Lieferanten, die zur Vermeidung schwerwiegender betriebswirtschaftlicher Nachteile auf die "Aufrechterhaltung" bereits bestehender Geschäftsbeziehungen (nicht auf die "Begründung" noch nicht existenter Geschäftsbeziehungen) angewiesen sind, aufrechtzuerhalten. Marktbeherrschenden Unternehmen auch nach § 4 Abs. 1 und 2 wird aber missbräuchliches Verhalten, insbesondere in Form einer Lieferverweigerung, dann zugerechnet, wenn ihr Verhalten durch keine objektiven Gründe gerechtfertigt wird (16 Ok 1/12; 16 Ok 23/04 mwN).
23) Vom persönlichen Schutz des § 5 Abs 1 Z 3 werden Vertragspartner erfasst, von jenem des vergleichbaren Art 102 lit c AEUV Handelspartner des marktbeherrschenden Unternehmens. Nach der Rechtsprechung des EuGH (26.11.1998, Rs C-7/97 - Bronner / Mediaprint, Slg 1998 I-07791 Rn 30) und nach überwiegender Ansicht im Schrifttum (Bunte in Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht II, 11. Aufl, Art 82 EG Rz 214; Brand in Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Art 102 AEUV Rz 483; Möschel in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht I, 4. Aufl, Art 82 EGV Rz 257 je mwN; aA Eilmansberger in Münchener Kommentar zur Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht [Kartellrecht] I Art 82 EG Rz 273) fallen potentielle Kunden des marktbeherrschenden Unternehmens nicht in den Anwendungsbereich des Art 102 lit c AEUV (16 Ok 1/12).
24) Besteht zum Zeitpunkt der Weigerung, eine Geschäftsbeziehung aufzunehmen, für den Gegenstand des Geschäfts ein Markt, hat also das marktbeherrschende Unternehmen bereits mit anderen kontrahiert, kommt nach europäischem Wettbewerbsrecht bei der Verweigerung einer Geschäftsbeziehung mit geeigneten Dritten im Einzelfall ein Verstoss gegen die Generalklausel des Art 102 Satz 1 AEUV in Betracht; auch bei nicht monopolistischen marktbeherrschenden Unternehmen besteht demnach tendenziell eine Pflicht zur Geschäftsaufnahme, wenn diese keine sachlichen Gründe für ihre Weigerung anführen können (16 Ok 1/12; Brand in Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Art 102 AEUV Rz 377; Möschel in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht I, 4. Aufl, Art 82 EGV Rz 231 je mwN; vgl auch Brinker in Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl, Art 102 Rz 34). Wird ein potentieller Kunde also dadurch diskriminiert, dass der Marktbeherrscher selektiv beliefert und sich weigert, eine Geschäftsbeziehung einzugehen, so kann dieses Verhalten als Lieferverweigerung nach der Generalklausel wettbewerbswidrig sein und einen Kontrahierungszwang begründen (16 ok 1/12).
25) Nach den besonderen Umständen des Einzefalls ist zu beurteilen, ob der marktbeherrschende Unternehmer, der bereits mit anderen Nachfragern kontrahiert hat, dies auch mit neuen Nachfragern tun muss, die als geeignete Vertragspartner erscheinen(16 Ok 23/04; vgl Brand in Frankurter Kommentar zum Kartellrecht, Art 102 AEUV Rz 377). Eine Grenze der Kontrahierungspflicht ergibt sich aus der Eignung des Geschäftsanbahnenden zur Durchführung des Geschäfts und aus den vorhandenen Kapazitäten des Marktbeherrschers (vgl 16 Ok 23/04; Brand in Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, art 102 AEUV Rz 377).
26) Dieser Auffassung ist auch im Anwendungsbereich des Kartellgesetzes zu folgen, sind doch nach der Rechtsprechung für die Beurteilung der Missbrauchstatbestände nach dem KartG auch Art 102 AEUV und die dazu ergangenen Entscheidungen heranzuziehen (16 Ok 1/12; RIS-Justiz RS0110382).
Die essential-facilities-Doktrin
27) Die Anwendung der essential-facilities-Doktrin (vgl EuGH 26.11.1998, Rs C-7/97 - Bronner / Mediaprint, Slg 1998 I-07791) setzt voraus, dass das marktbeherrschende Unternehmen hinsichtlich der begehrten Leistung noch keinen Wettbewerb eröffnet hat (16 Ok 1/12; vgl auch Brand in Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Art 102 AEUV Rz 378; Möschl in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht I, 4. Aufl, Art 82 EGV Rz 219; Wiedemann in Wiedemann, Kartellrecht, 2. Aufl, § 23 Rz 66).
Kontrahierungszwang von Monopolisten und Unternehmen der öffentlichen Hand
28) Nach der Rechtsprechung unterliegen Monopolisten und Unternehmen der öffentlichen Hand zur Daseinsvorsorge einem "allgemeinen" oder "mittelbaren" Kontrahierungszwang; nicht monopolistische Unternehmen der öffentlichen Hand sind hingegen soweit zum Vertragsabschluss verhalten, als dessen Verweigerung ihrer Pflicht zur Gleichbehandlung widerspräche (16 Ok 1/12; 6 Ob 48/01d mwN; RIS-Justiz RS0016745).
Alleinbezugsvereinbarungen mit einem Marktbeherrscher
29) Nach der Rechtsprechung der Europäischen Gerichte (EuGH und EuG) ist die von einem marktbeherrschenden Lieferanten seinen Abnehmern auferlegte Verpflichtung, ihren gesamten Bedarf oder einen beträchtlichen Teil davon ausschließlich von ihm zu beziehen generell nach Art 102 untersagt (zB EuGH, C-85/76, Hofmann-La Roche, Slg. 1979, 461 Rz 89; EuG, T-65/89, BPB Industries und British Gypsum, Slg 1993, II-389 Rz 68; 16 Ok 46/03). Der Europäische Gerichtshof geht nämlich davon aus, dass Alleinbezugsvereinbarungen darauf abzielen, dem Abnehmer die Wahl zwischen mehreren bezugsquellen unmöglich zu machen oder zu erschweren und anderen Herstellern den Zugang zum Markt zu verwehren (Hofmann-La Roche, Slg 1979, 461 Rz 90; 16 Ok 7/12).
30) Die Ausschlusswirkung von Exklusivbindungen hängt neben der Größe des gebundenen Anteils an der Gesamtnachfrage (vgl EuG, T-5/98, Van den Bergh Foods, Slg 2003, II-4653 Rz 160; Prioritätenmitteilung der Kommission bei der Anwendung von Art 82 EG, ABl 2009 C 45/7 Rz 34) auch von deren Laufzeit ab (vgl. Prioritätenmitteilung, aaO, Rz 36; 16 Ok 7/12). Im Rahmen der Prüfung der Anwendung von Art 101 AEUV war das Gericht der Europäischen Unionim Urteil Van den Bergh Foods der Ansicht, das Argument, die gebundenen Abnehmer hätten die Möglichkeit, die Ausschließlichkeitsvereinbarung sehr kurzfristig (zwei Monate Kündigungsfrist)zu kündigen, wäre nur dann überzeugend, wenn diese Möglichkeit in der Praxis belegt wäre und die gebundenen Abnehmer sich somit immer wieder Neulingen auf dem relevanten Markt öffneten.Die Kommission habe aber nachgewiesen, dass dies nicht der Fall sei. Die Kündigungsmöglichkeit habe den Abschottungsgrad des relevanten Marktes tatsächlich nicht verringert (EuG, Van den Bergh Foods, aaO, Rz 105). Das Gericht der Europäischen Union sprach im Urteil BPB Industries und British Gypsum (aaO, Rz 73) ferner aus, das Recht zur Kündigung eines Vertrages stehe seiner effektiven Durchführung nicht entgegen, solange von der Kündigungsmöglichkeit kein Gebrauch gemacht worden sei. Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass ein Unternehmen in beherrschender Stellung in der Lage sei, seinen Kunden nicht nur den Abschluss solcher Verträge, sondern auch deren Weiterführung aufzuzwingen, sodass die rechtliche Möglichkeit der Kündigung in Wirklichkeit illusorisch sei (16 Ok 7/12).
31) Der Europäische Gerichtshof bezog im Urteil Hofmann-La Roche allerdings die Dauer einer Bezugsverpflichtung in die Prüfung ihrer Wettbewerbswidrigkeit ein und sah eine Bindungsdauer von zwei Jahren als in der Regel gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung verstoßend an (aaO, Rz 115 und 121; vgl. auch Prioritätenmitteilung der Kommission bei der Anwendung von Art 82 EG, ABl 2009 C 45/7, Rz 36; 16 Ok 7/12). Auch marktbeherrschenden Unternehmen ist daher einzuräumen, dass selbst unbefristete Verträge nur eine geringe Bindungs- und Abschottungswirkung entfalten, wenn sie ohne Einschränkung unter Einhaltung kurzer Kündigungsfristen aufgelöst werden können. Es hängt von den konkreten Umständen des Falls ab, ob auch kürzere Kündigungsfristen als Kündigungssperren fungieren können, bzw ob die rechtliche Möglichkeit der Kündigung in Wirklichkeit illusorisch ist(16 Ok 7/12).
Keine Nichtigkeitssanktion
32) Im kartellgerichtlichen Verfahren ist über das zivilrechtliche Schicksal der nach § 5 KartG oder Art 102 AEUV verbotenen Rechtsgeschäfte nicht zu befinden. Das Kartellgesetz sieht als kartellrechtliche Sanktion lediglich die Abstellung der Zuwiderhandlung (§ 26 KartG 2005) und gegebenenfalls Geldbußen (§ 29 KartG 2005) vor (16 Ok 46/05 – Styria Media AG). Daher kann das Kartellgericht nicht über die zivilrechtlichen Folgen eines Verstoßes gegen Art 102 AEUV oder § 5 Abs 1 KartG absprechen. Aus diesem Grund besteht auch für eine Nichtigerklärung kartellrechtswirdrig abgeschlossener Verträge im Kartellverfahren keine Grundlage (16 Ok 13/08; 16 Ok 14/04).
33) Art 102 AEUV enthält im Gegensatz zu Art 101 Abs 2 AEUV keine Nichtigkeitssanktion. Die zivilrechtlichen Folgen von Zuwiderhandlungen gegen Art 102 AEUV sind dem nationalen Recht zu entnehmen (16 Ok 13/08; 16 Ok 46/05 – Styria Media AG).
38) Hingegen wurde im Fall Irish Sugar das Unternehmen dazu verpflichtet, innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach der Bekanntgabe der Entscheidung allen Kunden, die gegenwärtig Rabatte erhalten oder denen Rabatte angeboten wurden, mitzuteilen, dass diese Preisnachlässe nicht mehr gelten (Entscheidung der Kommission vom 14. Mai 1997, Alb L 258 vom 22.9.1997; vgl auch Eilmansberger in MünchKomm Wettbewerbsrecht Art 82 EG Rz 605 ae.; 16 Ok 13/08).
§ 5 Kartg vs § 2 Abs. 1 NVG
39) Im Gegensatz zum kartellrechtlichen Tatbestand des Missbrauchsverbots (§ 5 Abs 1 KartG 2005) setze § 2 Abs 1 NVG keine besondere Marktmacht oder marktbeherrschende Stellung des Anbieters oder Nachfragers voraus (16 Ok 2, 3/09).
40) In der Literatur wird davon ausgegangen, dass „gleiche Voraussetzungen“ etwa hinsichtlich Abnahmemengen, Transportleistungen, Sortimentierungen, Abrufmengen oder Zahlungsangeboten vorliegen können. Diese Kriterien sind allerdings dann nicht mehr als „Voraussetzungen“ im Sinn des § 2 NVG anzusehen, wenn diesbezügliche Unterschiede nicht die Vorbedingung, sondern erst das Ergebnis von zwischen dem Lieferanten und den Nachfragern geführten Vertragsverhandlungen darstellen. Diesfalls müssen sie als „unterschiedlich gewährte Bedingungen“ auf ihre Rechtfertigung hin überprüft werden (16 Ok 2, 3/09).
41) Die Frage, was unter sachlicher Rechtfertigung im Sinn der §§ 1, 2 NVG zu verstehen ist, ist komplex und wird teilweise kontrovers beantwortet. Den dazu in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 4 Ob 34/01f wiedergegebenen Stellungnahmen kann durchwegs entnommen werden, dass Begünstigungen dann gerechtfertigt seien, wenn ihnen (wirtschaftlich gleichwertige) Gegenleistungen gegenüberstehen oder wenn sie, wie etwa bei Mengenrabatten, Kostenvorteile widerspiegeln. Kostengedeckte Differenzierungen und Konditionsunterschiede sind danach stets sachlich gerechtfertigt, während kostenunabhängige Differenzierungen, wie sie sich zB aus dynamischen Absatzüberlegungen ergeben können, ihre Grenze finden (16 Ok 2, 3/09).
42) In der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ist die Frage der sachlichen Rechtfertigung aber nicht auf jene der Kostendeckung reduziert. Vielmehr kann erst nach Abwägung der beiderseitigen Rechtfertigungs- und Interessensgesichtspunkte unter Berücksichtigung der einen leistungsgerechten Wettbewerb anstrebenden Zielsetzung des Nahversorgungsgesetzes die sachliche Rechtfertigung beurteilt werden (4 Ob 34/01f; 4 Ob 210/02i). Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist das Interesse der die beanstandete Verhaltensweise auf dem Markt verwirklichenden Unternehmen an betriebswirtschaftlicher Optimierung dem Interesse der Betroffenen, nicht durch das (machtbedingte) Verhalten anderer Marktteilnehmer in ihren wettbewerblichen Betätigungsmöglichkeiten beeinträchtigt zu werden oder bei offenstehendem Marktzugang nicht durch Beeinträchtigung der Chancengleichheit in der wettbewerblichen Betätigung benachteiligt zu werden, gegenüberzustellen. Zwar kann jeder Marktteilnehmer seine geschäftliche Tätigkeit und sein Absatzsystem grundsätzlich nach eigenem Ermessen so gestalten, wie er dies für wirtschaftlich sinnvoll und richtig hält, doch wird diese Gestaltungsfreiheit u.a. durch die normativen Maßstäbe des Nahversorgungsgesetzes eingeschränkt. Jeder Marktteilnehmer muss daher bei Durchsetzung betriebswirtschaftlich und kaufmännisch vernünftiger Ziele verhältnismäßig in dem Sinne vorgehen, dass er sich grundsätzlich auf das mildeste, dh die wettbewerblichen Betätigungsmöglichkeiten Dritter am wenigsten beeinträchtigende Mittel beschränkt, das zum Erreichen des erstrebten Ziels noch geeignet ist. Sein Vorgehen muss sich unter Rücksichtnahme auf die wettbewerbliche Betätigungsfreiheit Dritter als objektiv sachgemäß und angemessen erweisen. Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit und die gebotene Interessenabwägung insgesamt ist die konkrete Marktstärke des beanstandeten Unternehmens und das mit ihr verbundene Ausmaß der Wettbewerbsbeeinträchtigung für die Betroffenen von wesentlicher Bedeutung: Je stärker die tatsächliche Marktmacht im Einzelfall ist und je weniger wettbewerbliche Betätigungs- und Ausweichmöglichkeiten dessen Mitbewerber, Lieferanten oder Abnehmer haben, umso eher wird das belangte Unternehmen zur Rücksichtnahme auf andere Marktteilnehmer verpflichtet sein, um den Ansprüchen des Bewertungsmaßstabs des § 1 NVG zu genügen (16 Ok 2, 3/09).
43) Dass ein Unternehmen nach ihrem betriebswirtschaftlichen Konzept eines „Key-Account-Systems“ Interesse daran hat, einige wenige Großkunden zu haben, ist unmittelbar nachvollziehbares kaufmännisches Verhalten, da gerade dadurch eine Umsatz- und Abnahmegarantie und damit auf Dauer eine Risikominimierung erzielt werden kann. Für den Lieferanten geht damit idR auch eine Vereinfachung in der Organisation und ein geringerer betrieblicher Aufwand in der Kundenbetreuung einher. Dass Lieferanten mit Großkunden daher längerfristige Lieferbeziehungen begründen, ihnen größere Liefermengen und/oder bestimmte Warenqualitäten zusagen und eine erhöhte Bereitschaft zeigen, bei steigender Nachfrage vorrangig deren Bedarf zu decken, gehört zum Wesen einer solchen Groß- oder „Schlüssel“-Kundenbeziehung, die so lange nicht zu beanstanden ist, als für andere Marktteilnehmer hinlänglich Bezugalternativen existieren und keine Vorsorgungsengpässe besteht (16 Ok 2, 3/09).
44) Eine mehrjährige Vertragsdauer hindert Vertragspartner nicht, mit Rücksicht auf die Interessen anderer Marktteilnehmer eine den Marktverhältnissen angemessene Preisanpassung vorzunehmen. Dem Interesse der Vertragspartner, nicht jährlich neu in Preisverhandlungen treten zu müssen, kann dabei unschwer durch eine (marktübliche) Preisanpassungsklausel begegnet werden (16 Ok 2, 3/09).
45) Bei der Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der Gewährung unterschiedlicher Bedingungen nach § 2 Abs 1 NVG sind nach ständiger Rechtsprechung (vgl 4 Ob 34/01f) die beiderseitigen Rechtfertigungs- und Interessensgesichtspunkte zu gewichten und gegenseitig abzuwägen. Zu prüfen ist dabei etwa, wie stark sich ein einem bestimmten Einzelfall die Frage der Belieferung oder Nichtbelieferung eines bestimmten Abnehmers auf das betriebswirtschaftliche Optimierungsinteresse des Lieferanten einerseits und auf das wettbewerbliche Betätigungsinteresse von Mitbewerbern andererseits auswirkt. Zwar kann jeder Marktteilnehmer seine geschäftliche Tätigkeit und sein Absatzsystem grundsätzlich nach eigenem Ermessen so gestalten, wie er diese für wirtschaftlich sinnvoll und richtig hält, doch wird diese Gestaltungsfreiheit nicht nur durch das Unlautere Wettbewerbsgesetz und das Kartellgesetz, sondern auch durch das Nahversorgungsgesetz und dessen normative Maßstäbe eingeschränkt. Jeder Marktteilnehmer muss daher bei Durchsetzung betriebswirtschaftlich und kaufmännisch vernünftiger Ziele verhältnismäßig in dem Sinne vorgehen, dass er sich grundsätzlich auf das mildeste, das heißt die wettbewerblichen Betätigungsmöglichkeiten Dritter am wenigsten beeinträchtigende Mittel beschränkt, das zum Erreichen des erstrebten Ziels noch geeignet ist. Sein Vorgehen muss sich unter Rücksichtnahme auf die wettbewerbliche Betätigungsfreiheit Dritter als objektiv sachgemäß und angemessen erweisen (16 Ok 2, 3/09).
46) Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit und die gebotene Interessenabwägung insgesamt ist auch die konkrete Marktstärke des beanstandeten Unternehmens und das mit ihr verbundene Ausmaß der Wettbewerbsbeeinträchtigung für die Betroffenen von wesentlicher Bedeutung: Je stärker die tatsächliche Marktmacht im Einzelfall ist und je weniger wettbewerbliche Betätigungs- und Ausweichmöglichkeiten infolge dessen Wettbewerber, Lieferanten und Abnehmer haben, um so eher wird das belangte Unternehmen zur Rücksichtnahme auf andere Marktteilnehmer verpflichtet sein, um den Ansprüchen des Bewertungsmaßstabs des § 1 NVG zu genügen (16 Ok 2, 3/09).
47) Ein vergleichbares Verbot der Diskriminierung ist auch Bestandteil des § 5 KartG und des Art 102 AEUV. § 2 NVG geht über diese Regelungen nur insoweit hinaus, als das Diskriminierungsverbot des Nahversorgungsgesetzes unter bestimmten Umständen auch auf Unternehmen unterhalb der Marktbeherrschungsschwelle erstreckt wird. § 2 NVG steht damit ebenso wenig wie § 5 KartG im Widerspruch zu Art 3 Abs 2 Satz 1 VO 1/2003. Es handelt sich vielmehr um eine „strengere innerstaatliche Vorschrift zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen“, deren Erlassung und Anwendung den Mitgliedstaaten gemäß Art 3 Abs 2 Satz 2 VO 1/2003 freisteht (16 Ok 2, 3/09).