Kommentar zum § 23 KartG 2005

Norbert Gugerbauer3 am 04.12.2012

  • 0,0 bei 0 Bewertungen

Der relevante Markt ist nach sachlichen, örtlichen und zeitlichen Kriterien zu bestimmen (16 Ok 1/12; RIS-Justiz RS00663659).

 

Bedarfsmarktkonzept

1) Nach herrschender Lehre und Rechtsprechung ist der sachlich betroffene Markt nach dem Bedarfsmarktkonzept zu bestimmen, wie dies § 23 KartG ausdrücklich festsetzt (16 Ok 8/10; 16 Ok 14/08; 16 Ok 20/04; Urlesberger/Haid in Petsche/Urlesberger/Vartian, Kartellgesetz § 23 Rz 4 ff; RIS-Justiz RS0124421; vgl auch 16 Ok 15/08 – Gratiswochenzeitung; 16 Ok 1/09 – Radiusklausel III). Dies gilt in gleicher Weise für das Europäische Wettbewerbsrecht (vgl Leitlinien der Kommission zur Marktanalyse ABl 2022 C 165 S 6 Rz 44).

2) Nach dem Bedarfsmarktkonzept liegt derselbe Markt vor, wenn sich die in Frage stehenden Waren oder Dienstleistungen in ihren für die Deckung desselben Bedarfs wesentlichen Eigenschaften von anderen unterscheiden und aus Sicht der Bedarfsträger als Marktgegenseite untereinander beliebig austauschbar sind. Es ist also auf die Austauschbarkeitsrelationen aus der Sicht der Marktgegenseite abzustellen, deren Bedürfnisse jeweils durch bestimmte aus der Sicht der Abnehmer substituierbare Erzeugnisse/Dienstleistungen befriedigt werden können (16 Ok 1/12). Entscheidend ist damit die (funktionelle) Austauschbarkeit der Waren bzw Leistungen aus Sicht der Marktgegenseite (16 Ok 8/10; 16 Ok 14/08; RIS-Justiz RS0124671, RS0116056 [Ts, T3]; vgl auch RS0063539, RS0110206).

3) Ein sachlich relevanter Markt nach dem Bedarfskonzept liegt daher vor, wenn sich die zu untersuchenden Waren oder Dienstleistungen durch besondere Merkmale in ihrer für die Bedarfsdeckung wesentlichen Beschaffenheit von anderen spürbar unterscheiden. Wesentlich ist eine hinreichende Austausch- bzw Substituierbarkeit (16 Ok 14/08; Urlesberger/Haid in Petsche/Urlesberger/Vartian, Kartellgesetz, § 23 Rz 5 f).

4) Nach ständiger Rechtsprechung ist die Frage der Marktabgrenzung Tatfrage, soweit es dabei um die Feststellung objektiv überprüfbarer Abgrenzungskriterien geht; sie ist Rechtsfrage, soweit es um eine Bewertung der der Marktabgrenzung zugrunde gelegten Methode geht (16 Ok 8/10; RIS-Justiz RS0124421; 16 Ok 15/08 – Gratiswochenzeitung; 16 Ok 14/08 – Radiusklausel II; 16 Ok 1/09 – Radiusklausel III).

5) Nicht jede Form der Austauschbarkeit reicht aus, um einen einzigen Markt bzw getrennte Märkte anzunehmen. Vielmehr muss im Rahmen einer wertenden Betrachtung geprüft werden, ob die Austauschbarkeit hinreichend ist, um einen einzigen Markt bzw getrennte Märkte anzunehmen. Vielmehr muss im Rahmen einer wertenden Betrachtung geprüft werden, ob die Austauschbarkeit hinreichend ist, um einen einzigen Produktmarkt annehmen zu können (Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht Art 82 EG Rz 10; Urlesberger/Haid in Petsche/Urlesberger/Vartian Kartellgesetz, § 23 Rz 5 f). Dabei ist auf die spezifischen Eigenschaften eines Produkts oder einer Dienstleistung nach dem Gesichtspunkt der funktionalen Äquivalenz abzustellen. Ein Markt umfasst daher sämtliche Erzeugnisse, die sich aufgrund ihrer Merkmale zur Befriedigung eines gleichbleibenden Bedarfs besonders eignen und die mit anderen Erzeugnissen nur in geringem Maß austauschbar sind (16 Ok 14/08; Bechthold aaO Rz 7).

 

Hypothetischer Monopolistentest

6) Auch nach der Definition der Europäischen Kommission in ihrer Bekanntmachung zur Marktdefinition, ABl Nr C372 vom 9.12.1997, Rn 7, umfasst der sachlich relevante Produktmarkt sämtliche Erzeugnisse und/oder Dienstleistungen, die von den Verbrauchern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Preise und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als austauschbar angesehen werden. Dabei stellt die Europäische Kommission aus verfahrensmäßigen und praktischen Erwägungen bei der Markabgrenzung den Preis in den Mittelpunkt, genauer gesagt die Nachfragesubstitution aufgrund kleiner, dauerhafter Änderungen bei den relativen Preisen und fragt, ob die Kunden als Reaktion auf eine kleine bleibenden Erhöhung der relativen Preise im Bereich von 5 bis 10 % für die betreffenden Produkte und Gebiete auf leicht verfügbare Substitute ausweichen würden (Rn 15 und 17 – sogenannter SSNIP-Test oder hypothetischer Monopolistentest).

7) Die Bekanntmachung verweist in Rn 11 ausdrücklich auch auf den Bereich des Marktmachtmissbrauchs. Auch wenn daher dieser Test bei der Marktabgrenzung nach Art 82 EG mitunter als methodisch ungeeignet bezeichnet wird (Wessely im Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht Art 82 EG Rz 36; einschränkend auch Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht § 16 Rz 8), erscheint er unter Berücksichtigung der aufgezeigten Fehlerquellen als grundsätzliche Orientierungshilfe auch im Bereich der Marktmissbrauchsanalyse geeignet.

8) Dieser Test ist allerdings nicht mechanisch anzuwenden. Seine Aussagekraft bleibt zum Beispiel dann beschränkt, wenn der Preis nur ein Faktor unter mehreren ist oder der geltende Marktpreis bereits überhöht ist, sodass eine weitere auch geringfügige Erhöhung nicht deshalb unrentabel wird, weil die Nachfrager auf ein Subsitutionsgut ausweichen, sondern überhaupt auf den Konsum verzichten (sogenannte „cellophane fallacy“: vgl Möschel aaO Rz 45).

9) Der relevante Markt ist auch im Verfahren vor dem KartGer unter Anwendung des hypothetischen Monopolistentests (SSNIP-Test) zu bestimmen. Der Test wurde zwar ursprünglich für die Zusammenschlusskontrolle entwickelt (vgl Fink, Aufarbeitung einer historischen Dokumentation zum SSNIP-Test, OZK 2011, 141 [142]); er ist aber keineswegs darauf beschränkt. so hat der Oberste Gerichtshof den Test in der Entscheidung 16 Ok 14/08 (Radiusklausel II) – im Zusammenhang mit dem Kartellverbot und dem Marktmissbrauch - angewendet (16 Ok 8/10).

10) In der Entscheidung 16 Ok 14/08 – Radiusklausel II hat der Oberste Gerichtshof die Fragestellung des Sachverständigen, ob Unternehmen, die mehr als einen neuen Standort planen, in Einkaufszentren, innerstädtische Hauptlagen oder Fachmarktzentren expandieren wollen, als methodisch ungeeignet angesehen, weil dadurch nicht die Substituierbarkeit zwischen der Nachfrage nach Geschäftsräumlichkeiten in Einkaufszentren und innerstädtischen Zentrallagen geklärt werden kann. Vielmehr sei unter Anwendung des hypothetischen Monopolistentests zu klären, ob Bestandnehmer von Einkaufszentren bei einer geringen, aber dauerhaften Erhöhung der Preise im Bereich von 5 bis 10 % auf Beurteilungsbasis für das Substitutionsverhalten der Nachfrager zu erhalten, seien dabei allenfalls auch allgemein Kreuzpreiselastizitäten zu erheben, und es sei zu untersuchen, inwieweit Preise und Preisänderungen bei Bestandobjekten in Innenstadtlagen und Einkaufszentren in der Vergangenheit korrelierten (16 Ok 8/10).

11) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Feststellungen aufgrund eines Sachverständigengutachtens nur in engen Grenzen überprüfbar sind. Das bedeutet, dass der Oberste Gerichtshof (nur) die generelle Eignung einer bestimmten Methode zur Markabgrenzung – wie etwa die Eignung des hypothetischen Monopolistentests – überprüfen kann (16 Ok 8/10).

 

Marktabgrenzung beim Marktmachtmissbrauch

12) Die Marktabgrenzung beim Marktmachtmissbrauch wird nach überwiegender Meinung in einem Doppelschritt durchgeführt. Zuerst wird der relevante Markt in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht abgegrenzt und auf dem so ermittelten Markt der Beherrschungsgrad des Unternehmens festgestellt. Dabei greift die Praxis im Wesentlichen auf eine Kombination von Marktstruktur- und Marktverhaltenskriterien zurück (Möschel in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 4. Aufl., EG/Teil 1, Art 82 EG Rz 38). Die Frage der Austauschbarkeit wird anhand der Reaktion von Handelspartnern festgestellt, wobei das tatsächliche Marktgeschehen maßgeblich ist, soweit sich hiezu Tatsachenfeststellungen treffen lassen (16 Ok 14/08).

 

Marktabgrenzung bei Einkaufszentren

13) Bei der im Wege des hypothetischen Monopolistentest ermittelten Entscheidung des Abnehmers spielen zwar auch Faktoren wie Standort, Image, Parkplatzangebot und hohe Kundenfrequenz eine Rolle, sie treten aber nicht neben den Monopolistentest oder gar an dessen Stelle (16 Ok 14/08 – Radiusklausel II; Palmstorfer, Radiusklauseln auf dem Prüfstand des Kartellrechts, wbl 2010, 120 [124]).

14) Der relevante Markt beschränkt sich nicht auf Einkaufszentren, sondern umfasst auch andere größere Einkaufsagglomerationen (wie zB Einkaufsstraßen der Städte) im Einzugsgebiet von 90 Minuten Pkw-Fahrzeit  (16 Ok 1/09 – Radiusklausel III).

 


§ 23 KartG 2005 | 6. Version | 709 Aufrufe | 04.12.12
Informationen zum Autor/zur Autorin dieses Fachkommentars: Norbert Gugerbauer3
Zitiervorschlag: Norbert Gugerbauer3 in jusline.at, KartG 2005, § 23, 04.12.2012
Zum § 23 KartG 2005 Alle Kommentare Melden Vernetzungsmöglichkeiten