Kommentar zum § 29 KartG 2005

Norbert Gugerbauer3 am 18.12.2012

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Verschuldensprinzip

1) § 29 KartG stellt klar, dass Geldbußen nur bei Verschulden zu verhängen sind; der Unternehmer muss den Tatbestand vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt haben. Gleiches gilt im Unionsrecht (Art 23 VO 1/2003), welche Bestimmung (bzw. deren Vorgängerin, Art. 15 VO 17/62) der inländischen Norm auch als Vorbild gedient haben dürfte (vgl. Zeder, Die österreichischen Kartellbußen am Maßstab des Kriminalrechts, JBl 2007, S. 477, 486).

2) Der Grad des Verschuldens ist ein wichtiger Bemessungsfaktor für die Höhe der Geldbuße. Voraussetzungen für die Verhängung einer Geldbuße in nur symbolischer Höhe sind beispielsweise eine unklare Rechtslage infolge Neuartigkeit des Falles oder bloß fahrlässiges Verhalten (RIS-Justiz RS0126268 = 16 Ok 5/10). Bei geringem Verschulden und unbedeutenden Folgen kommt in Ausnahmefällen auch ein gänzliches Absehen von der Geldbuße in Betracht (vgl Brugger, Die Geldbußenbemessung nach § 30 KartG 2005 Teil II, ÖZK 2009, 207, 211; 16 Ok 2/11).

3) Das KartG definiert nicht näher, was unter Vorsatz und Fahrlässigkeit zu verstehen ist. Einschlägige Definitionen enthalten aber die strafrechtlichen Bestimmungen der §§ 5 f StGB und § 3 VbVG. Danach handelt fahrlässig, wer die Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt ist und die ihm zuzumuten ist, und deshalb nicht erkennt, das er einen Sachverhalt verwirklichen könne, der einem gesetzliche Tatbild entspricht (§ 6 Abs 1 StGB). Fahrlässig handelt auch, wer es für möglich hält, dass er einen solchen Sachverhalt verwirkliche, ihn aber nicht herbeiführen will (§ 6 abs 2 StGB; 16 Ok 2/11).

4) Neben diesem für das Individualstrafrecht entwickelten Fahrlässigkeitsbegriff, der auch die Komponente der subjektiven Sorgfaltswidrigkeit umfasst, besteht mit § 3 Abs 3 VbVG eine besondere Zurechnungsnorm im Zusammenhang mit der Verantwortlichkeit von Unternehmen für das Verhalten von Mitarbeitern. Nach dieser Bestimmung ist der Verband für fahrlässige Straftaten von Mitarbeitern nur verantwortlich, wenn diese die nach den Umständen gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen haben und die Begehung der Tat dadurch ermöglicht oder wesentlich erleichtert wurde, dass Entscheidungsträger die nach dem Umständen gebotene und zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen haben, insbesondere indem sie wesentliche technische, organisatorische oder personelle Maßnahmen zur Verhinderung solcher Taten unterlassen haben (16 Ok 2/11).

5) Für das kartellrechtliche Geldbußenverfahren gegen juristische Personen ist die im KartG bestehende Gesetzeslücke zur Frage, wenn Fahrlässigkeit vorliegt, wegen des gleichen Regelungszwecks durch analoge Anwendung von § 3 Abs 3 VbVG zu schließen und damit der Maßstab einer objektiven Sorgfaltswidrigkeit anzulegen. Fahrlässigkeit ist dann anzunehmen, wenn die für das Unternehmen zurechenbar handelnde Person die jeweilige Zuwiderhandlung bei Aufwendung einer nach den Umständen gebotenen und zumutbaren Sorgfalt hätte erkenn können (ähnlich auch im Unionsrecht; vgl Zeder, JBl 2007, 486 mwN in FN 70; 16 Ok 2/11).

6) Rechtsunkenntnis und Rechtsirrtum sind dann nicht vorwerfbar, wenn die (richtige) Gesetzeslage einem Betroffenen trotz zumutbarer Aufmerksamkeit nicht erkennbar war. Die Vorwerfbarkeit eines Rechtsirrtums kann insbesondere dann ausgeschlossen sein, wenn fachkundiger Rat einer verlässlichen, fachlich kompetenten Stelle eingeholt wird, die über den gesamten Sachverhalt informiert ist. Das Vertrauen auf den Rat eines im Kartellrecht erfahrenen Rechtsberaters, der eine geplante Maßnahme auf gesicherter Tatsachengrundlage aufgrund eines umfassenden Prüfauftrages als rechtmäßig beurteilt, kann einen nicht vorwerfbaren Rechtsirrtum begründen, den für die Verhängung einer Geldbuße erforderlichen Schuldvorwurf ausräumen und zur Bußgeldimmunität führen, sofern ein Fehler bei der Rechtsberatung nicht offensichtlich war und durch Vergleich mit den Rechtsquellen ohne weiteres hätte erkannt werden können. Zu beurteilen ist in diesem Zusammenhang, ob das Unternehmen sein geplantes Handeln unter Berücksichtigung der in Betracht kommenden Rechtsquellen sorgfältig genug dahin überprüft hat oder überprüfen lassen hat, ob es unter kartellrechtlichen Gesichtspunkten erlaubt sei. Weiteres Kriterium für den Umfang der Sorgfaltspflicht ist neben der Unternehmensgröße auch die Schwierigkeit des zu beurteilenden Sachverhalts. Im Einzelfall kann daher auch ein kleines Unternehmen gezwungen sein, einen kartellrechtlich erfahrenen Rechtsanwalt zu befragen, wenn erkennbar komplizierte und/oder neuartige Probleme zu überprüfen sind (16 Ok 4/11; 16 Ok 2/11).

7) Auch nach Unionsrecht sind Geldbußen wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht nur bei Verschulden zu verhängen. Der Unternehmer muss den Tatbestand vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt haben (Art. 23 Abs. 2 VO [EG] Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember zur Durchführung der in den Art. 101 und 102 AEUV (ex Art. 81 und 82 EG)niedergelegten Wettbewerbsrtegeln, ABl 2003 L 1/1).

8) Der Irrtum über das Verbotensein eines Verhaltens wird von den Gemeinschaftsorganen im Unionsrecht - im Zusammenhang mit Verletzungen des Kartell- und Missbrauchsverbots - regelmäßig als vermeidbar und damit unbeachtlich gesehen (vgl EuGH Rs 19/77, Miller Int. Schallplatten GmbH/Kommission, Rn 18, wonach die Berufung auf die Äußerung eines Rechtsberaters nicht entschuldigt). Es wird für ausreichend erachtet, dass sich das Unternehmen nicht in Unkenntnis darüber befinden konnte, dass das ihm zur Last gelegte Verhalten eine Einschränkung des Wettbewerbs bezweckte oder bewirkte (EuG T-62/98, Volkswagen/Kommission, Rn 334). Nur in Einzelfällen finden sich Ansätze in der Kommissionspraxis und Rechtsprechung, aus denen sich auf eine Erheblichkeit von unvermeidbaren Verbotsirrtümern schließen lässt (Dannecker/Biermann in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht II4 VO 1/2003 Rz 193 mwN; Nowak in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht Art 23 VerfO Rn 20 mwN; 16 Ok 2/11).

9) War nach der - alten - VO Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, ABl Nr. 13 vom 21.2.1962, S. 204, eine präventive kartellbehördliche Überprüfung kartellrechtlich sensiblen Verhaltens mit dem Ziel einer Einzelfreistellung vom Kartellverbot ("Negativattest") möglich, ist diese Option mit der Einführung des mit der VO Nr. 1/2003 verbundenen Legalsausnahmesystems weggefallen. Wenn ein Unternehmen aber in eigener Verantwortung die relevanten Tatsachen und rechtlichen Aspekte eines Falles umfassend geprüft und infolgedessen im guten Glauben an die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens gehandelt hat, kann es selbst dann nicht mit Bußgeld belegt werden, wenn es sich insoweit in einem Irrtum befunden hat. Denn in einem solchen Fall ist der für die Bußgeldverhängung erforderliche Schuldvorwurf ausgeräumt (16 Ok 4/11; vgl. auch Dreher / Thomas, Rechts- und Tasachenirrtümer unter der neuen VO 1/2003, WuW 2004, S. 8, 12; Brugger, Verbotsirrtum und Kartellrecht, ecolex 2010, S. 1166, 1168; Dannecker/Biermann in Immenga / Mestmäcker, Wettbewerbsrecht II, 4. Aufl., VO 1/2003 Rz. 187; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht, 2. Aufl., Art. 1 VO 1/2003 Rz. 39).

10) Die Bestätigung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme durch einen im Kartellrecht erfahrenen Rechtsberater auf gesicherter Tatsachengrundlage müsse grundsätzlich zur Bußgeldimmunität führen, sofern ein Fehler bei der Rechtsberatung nicht offensichtlich gewesen sei und durch Vergleich mit den Rechtsquellen ohne weiteres hätte erkannt werden können (Dreher/Thomas, Rechts- und Tatsachenirrtümer unter der neuen VO 1/2003, WuW 2004, 8, 13; zur Stellungnahme von Rechtsanwälten vgl auch Wiedemann in FS Bechtold, 627, 642; 16 Ok 2/11).

11) Diesen Grundsätzen entspricht auch die Entscheidungspraxis des BGH im Zusammenhang mit der Verhängung von Bußgeldern wegen Verstößen nach dem GWB. Danach liegt ein unvermeidbarer Verbotsirrtum vor, wenn sich ein juristisch nicht vorgebildeter Betroffener vor Anordnung einer Liefersperre juristischen Rat über die Rechtslage bei einem im Kartellrecht besonders erfahrenen (unternehmensexternen) Anwalt eingeholt und nach mehreren Gesprächen, in denen ihm die Rechtslage anhand dazu ergangener Gerichtentscheidung erläutert worden ist, den anwaltlichen Rat befolgt hat (BGH KRB 1/81 = WuW/E BGH 1891 - Ölbrenner II unter Hinweis auf BGH KRB 1/66 = WuW/E BGH 858 - Konkurrenzfiliale; zur deutschen Rsp vgl Bechtold, Kartellgesetz6 § 81 Rz 21; 16 Ok 2/11).

12) Für den österreichischen Rechtsbereich ist für das kartellrechtliche Verfahren zur Verhängung von Geldbußen davon auszugehen, dass Rechtsunkenntnis und Rechtsirrtum einem Betroffenen trotz zumutbarer Aufmerksamkeit nicht erkennbar war (vgl RIS-Justiz RS0118363). Die Vorwerfbarkeit eines Rechtsirrtums kann insbesondere dann ausgeschlossen sein, wenn fachkundiger Rat einer verlässlichen, sachlich kompetenten Stelle eingeholt wird, die über den gesamten Sachverhalt informiert ist (RIS-Justiz RS0089613). Das Vertrauen auf den Rat eines Rechtsanwalts kann einen nicht vorwerfbaren Rechtsirrtum begründen (RIS-Justiz RS0084545; 16 Ok 2/11).

13) Die Bestätigung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme durch einen im Kartellrecht erfahrenen Rechtsberater auf gesicherter Tatsachengrundlage aufgrund eines umfassenden Prüfungsauftrags kann grundsätzlich den für die Verhängung einer Geldbuße erforderlichen Schuldvorwurf ausräumen und zur Bußgeldimmunität führen, sofern ein Fehler bei der Rechtsberatung nicht offensichtlich war und durch Vergleich mit den Rechtsquellen ohne weiteres hätte erkannt werden könne. Zu beurteilen ist in diesem Zusammenhang, ob das Unternehmen sein geplantes Handelns unter Berücksichtigung der in Betracht kommenden Rechtsquellen sorgfältig genug dahin überprüft hat oder überprüfen hat lassen, ob es unter kartellrechtlichen Gesichtspunkten erlaubt sei (16 Ok 2/11).

14) Eine abstrakte Definition des anzuwendenden (objektiven) Sorgfaltsmaßstabs ist nicht möglich, sondern die Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabs muss der Beurteilung des konkreten Falls vorbehalten bleiben. Der Umfang der den Unternehmer treffenden Sorgfaltspflicht ist somit individuell zu bestimmen und hängt von den jeweiligen Umständen ab (16 Ok 2/11).

15) Größere Unternehmen, insbesondere wenn sie grenzüberschreitend tätig werden, sind wegen der großen wettbewerblichen Relevanz ihres Verhaltens strenger zu beurteilen. Der Grad des Verschuldens eines Unternehmens hängt deshalb auch davon ab, inwieweit es (etwa als Teil eines großen internationalen Konzerns) über juristischen und wirtschaftlichen Sachverstand und Ressourcen verfügt und sein Fehlverhalten leicht erkennen kann (RIS-Justiz RS0126269 = 16 Ok 5/10; ähnlich 4 Ob 209/03v = RIS-Justiz RS0078089 [T25] zu den strengeren Anforderungen an die lauterkeitsrechtliche Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung bei Großunternehmen; dieser Gedanke fand sich auch in den Leitlinien der Kommission für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen 1998; 16 Ok 2/11).

16) Ein weiteres Kriterium für den Umfang der Sorgfaltspflicht ist neben der Unternehmensgröße auch die Schwierigkeit des zu beurteilenden Sachverhalts. Im Einzelfall kann daher auch ein kleines Unternehmen gezwungen sein, einen kartellrechtlich erfahrenen Rechtsanwalt zu befragen, wenn erkennbar komplizierte und/oder neuartige Problemkonstellationen zu überprüfen sind (Dreher/Thomas, Rechts- und Tatsachenirrtümer unter der neuen VO 1/2003, WuW 2004, 8, 14; 16 Ok 2/11).

17) Durch das KaWeRÄG 2012 wurde in Z 1 lit d die Anpassung an den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorgenommen. § 29 Z 2 lit c KartG 2005 wurde im Hinblick auf die durch das KaWeRÄG 2012 vorgenommene Änderung von § 11a WettbG (Durchsetzung des Auskunftsbegehrens der Bundeswettbewerbsbehörde im Verwaltungsweg statt im Weg des Kartellgerichts) aufgehoben.


§ 29 KartG 2005 | 5. Version | 576 Aufrufe | 18.12.12
Informationen zum Autor/zur Autorin dieses Fachkommentars: Norbert Gugerbauer3
Zitiervorschlag: Norbert Gugerbauer3 in jusline.at, KartG 2005, § 29, 18.12.2012
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