6) Die Hausdurchsuchung nach § 12 WettbG umfasst – im Gegensatz zur Hausdurchsuchung im Strafverfahren (Tipold/Zerbes, WK-StPO § 119 Rz 4) – nicht auch die Beschlagnahme (Müller in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG § 12 WettbG Rz 40; Barfuß/Müller, Gemeinschaftsrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen bei der Durchführung von Nachprüfungen nach Gemeinschaftsrecht bzw von Hausdurchsuchungen nach nationalem Recht, in Fuchs/Mickel/Schätz/Udolf-Strobl, Querschnitte – Wirtschaftspolitische Gedankensplitter. Ausgewählte Aspekte zur EU-Präsidentschaft Österreich 2006, 157 [200]; aA Solé, Verfahren vor dem Kartellgericht Rz 550). Nach dem Willen des historischen Gesetzgebers sollen keine Beschlagnahmen stattfinden, sondern Kopien bzw Ausdrucke der relevanten Unterlagen angefertigt werden, um den Eingriff in die Sphäre der Unternehmen möglichst gering zu halten (1005 BlgNR 21. GP 24; 16 Ok 7-13/11). In § 111 Abs StPO (n.F.) hat jedermann, wenn auf Datenträgern gespeicherte Informationen sichergestellt werden sollen, Zugang zu diesen Informationen zu gewähren und auf Verlangen einen elektronischen Datenträger in einem allgemein gebräuchlichen Dateiformat auszufolgen oder herstellen zu lassen. Überdies hat er die Herstellung einer Sicherungskopie der auf den Datenträgern gespeicherten Informationen zu dulden (16 Ok 7-13/11).
7) Da auch nach Informationsquellen gesucht werden darf, die noch nicht bekannt sind, besteht aber keine Verpflichtung, bestimmte Unterlagen, auf die sich die Nachprüfung beziehen soll, in der Entscheidung zu benennen (16 Ok 2/10; Dalheimer/Feddersen/Miersch aaO Art 20 Rt 48).
§ 12 Abs. 1 WettbG: Begründeter Verdacht
5) In Anlehnung an Lehre und Rechtsprechung zur Hausdurchsuchung im Strafverfahren ist für einen erfolgreichen Antrag auf Bewilligung einer Hausdurchsuchung erforderlich, a) einen Verstoß gegen das KartG in rechtlicher Hinsicht schlüssig zu behaupten, b) Umstände darzutun, aus denen sich der begründete Verdacht ergibt, sowie c) darzulegen, warum die Hausdurchsuchung zur Erhärtung dieses Verdachts erforderlich und verhältnismäßig ist (16 Ok 1/13; vgl auch Tipold/Zerbes, Wiener Kommentar StPO § 120 Rz 8, 11). Für die Zulässigkeit der Anordnung einer Hausdurchsuchung bedarf es also keinen "dringenden" Verdachts, sondern es genügt bereits ein ausreichend begründeter Verdacht eines Verstosses gegen ein kartellgesetzliches Verbot, ansonsten würde der Sinn von Hausdurchsuchungen, die insbesondere auch auf noch unbekannte Informationsquellen abzielen können, in Frage gestellt und die Wirksamkeit und Effektivität des Kartellrechtsschutzes unterminiert (16 Ok 5/12; 16 Ok 5/11; RIS-Jusiz RS0125748).
9) § 12 WettbG verweist auf einzelne Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO) über die Hausdurchsuchung, nämlich auf § 142 sowei auf § 145 Abs. 1 StPO. Die StPO spricht im Zusammenhang mit der Hausdurchsuchung von einem "gegründeten" Verdacht. Der Unterschied zum "begründeten" Verdacht in § 12 Abs. 1 WettbG dürfte vernachlässigbar sein.
10) Es sind ein Anfangsverdacht sowie die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme notwendig. Für das Bestehen eines Anfangsverdachts müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Bloße Spekulationen reichen ebenso wie offensichtlich unbegründete oder zu vage gehaltene Verdachtsmomente nicht aus. In der Praxis wird der erforderliche Anfangsverdacht zumeist auf formelle oder informelle Beschwerden oder Informationen zB aufgrund der Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung gestützt (16 Ok 2/10; Burrichter in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG/Teil 24, Art 20 VO 1/2003 Rz 7 sowie Art 18 VO 1/2003 Rz 9). Im Strafverfahren wurde selbst eine anonyme Anzeige als ausreichend erachtet (RIS-Justiz RS0125169 = 14 Os 46/09k).
11) Begründet ist ein Verdacht dann, wenn er sich begründen, also rational nachvollziehbar dartun lässt (16 Ok 2/10; vgl. auch Solé, Das Verfahren vor dem Kartellgericht, Rz 535). Dafür müssen Tatsachen vorliegen, aus denen vertretbar und nachvollziehbar geschlossen werden kann, dass eine Zuwiderhandlung gegen die im Gesetz genannten Wettbewerbsbestimmungen vorliegt (16 Ok 1/13; RIS-Justiz RS0125748; vgl ähnlich zum „gegründeten“ Verdacht im Zusammenhang mit § 139 StPO aF Tipold/Zerbes WK-StPO § 139 StPO aF Rz 31; 16 Ok 2/10; 16 Ok 5/11). Ob ein begründeter Verdacht vorliegt, ist durch eine rechtliche Würdigung der tatsächlich verdachtbegründend behaupteten Umstände zu ermitteln und daher im Rekursverfahren vor dem Obersten Gerichtshof überprüfbar (16 Ok 7/13; RIS-Justiz RS0125748). Ein „dringender Tatverdacht“ ist weder nach dem Kartellgesetz noch nach der StPO Voraussetzung für eine Hausdurchsuchung (RIS-Justiz RS01125748; 16 Ok 1/13; 16 Ok 7-13/11; vgl auch Tipold/Zerbes in WK StPO – altes Vorverfahren § 139 Rz 30 ff).
12) Der begründete Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen die im Gesetz genannten wettbewerbsrechtlichen Vorschriften muss sich grundsätzlich nicht gegen die Person richten, in deren Räumlichkeiten die Hausdurchsuchung anzuordnen ist (vgl dazu auch Dalheimer/Feddersen/Miersch, EU-Kartellverfahrensordnung Art 20 Rz 48). Insoweit kann es daher nicht auf die subjektive Tatseite dieser Person ankommen (RIS-Justiz RS0125748; 16 Ok 2/10).
13) Davon zu unterscheiden ist, dass der begründete Verdacht eines bestimmten Wettbewerbsverstoßes eines oder mehrerer Unternehmen vorhanden sein muss. Der Verstoß gegen das Kartellverbot setzt seinerseits eine Vereinbarung oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen voraus, worunter jede Form der Koordinierung des Verhaltens zwischen Unternehmen zu verstehen ist, die nicht bis zum Abschluss eines Vertrags im eigentlichen Sinn gediehen ist, aber bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risken verbundenen Wettbewerbs treten lässt (Petsche/Tautscher in Petsche/Urlesberger/Vartian, Kartellgesetzt § 1 Rz 29). Dafür ist ein subjektives Element und nicht nur ein rein objektives Tatgeschehen notwendig (16 Ok 2/10).Insoweit müssen die subjektiven Voraussetzungen auch bei der Willensäußerung des Mittäters/Gehilfen erfüllt sein (Urteil des Gerichts vom 8. Juli 2008 – AC-Treuhand/Kommission, T 99/04, Rz 134 u 151).
Erforderlichkeit einer Hausdurchsuchung
14) Gegenstand und Zweck der Nachprüfung sind anzugeben, um das betroffene Unternehmen in die Lage zu versetzen, die Berechtigung der Nachprüfung nachzuvollziehen, ihre Mitwirkungspflicht zu erkennen und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen zur Wahrung ihrer Verteidigungsrechte zu ergreifen. Der Prüfungsauftrag bzw. die Prüfungsentscheidung muss möglichst genau angeben, wonach gesucht wird und auf welche Punkte sich die Nachprüfung bezieht. Es muss zwar der Informationsstand nicht vollständig offengelegt werden, es muss aber unmissverständlich klar gemacht werden, welchen Vermutungen nachgegangen werden soll (16 Ok 2/10). Eine ausforschende Nachprüfung ("fishing expedition") ist unzulässig (Bechtold/Brinker/Bosch/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht, Art. 20 VO 1/2003 Rz. 4 unter Hinweis auf EuGH Slg. 1989, 2859 Hoechst und Slg. 1989, 3137, 3159, Dow Benelux/Kommission; Burrichter in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG/Teil 2, 4. Aufl., Art. 20 VO 1/2003 Rz. 7).
15) § 12 WettbG ist weitgehend dem Recht der Europäischen Union, nämlich Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 über die Nachprüfungsrechte der Europäischen Kommission, nachgebildet. Nach dieser Bestimmung muss die konkrete Nachprüfungshandlung zur Erfüllung der durch die Verordnung Nr. 1/2003 übertragenen Aufgaben erforderlich sein, also die Prüfung einer vermuteten Zuwiderhandlung ermöglichen. Selbst wenn für eine Zuwiderhandlung bereits Beweise vorliegen, ist die Behörde berechtigt, Auskünfte einzuholen und zusätzliche Beweise zu erheben, welche es ermöglichen, das Ausmaß der Zuwiderhandlung, deren Dauer oder den Kreis der daran beteiligten Unternehmen genauer zu bestimmen (RIS-Justiz RS0127268 [T2]; vgl. auch Burrichter in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG / Teil 2, Verordnung 1/2003, Art 20 Rz 8 sowie Art 18 Rz 10; 16 Ok 7-13/11). Die Erforderlichkeit ist anhand des verfolgten und dem Adressaten bekanntgegebenen Zwecks zu beurteilen (16 Ok 5/12).
16) Das WettbG trifft innerhalb der der Bundeswettbewerbsbehörde zustehenden Ermittlungsbefugnisse keine hierarchische Ordnung. Es ist daher weder die Durchführung eines Auskunftverlangens noch dessen Ankündigung Voraussetzung für die Erlassung eines Hausdurchsuchungsbefehls. Auskunftsverlangen und Nachprüfung sind zwei voneinander unabhängige Ermittlungsinstrumente zur Sachverhaltsaufklärung (16 Ok 7/13; RIS-Justiz RS0127267; vgl. auch Burrichter in Immenga / Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG / Teil 2, Verordnung 1/2003, Vorbem. zu Art. 17 bis 22 Rz. 20 mwN.).
17) Wenn an Unternehmen Auskunftsverlangen verschickt werden, bedeutet das nicht, dass die Bundeswettbewerbsbehörde diese Erhebungsmaßnahme gegenüber allen des Wettbewerbsverstoßes verdächtigen Unternehmen gleichermaßen anwenden muss. maßgeblich ist vielmehr, ob die Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 WettbG vorliegen, also die Hausdurchsuchung zu Erlangung von Informationen aus geschäftlichen Unterlagen erforderlich ist und der begründete Verdacht eines in dieser Bestimmung genannten Kartellverstosses besteht (16 Ok 5/11).
18) Von einer relevanten Zuwiderhandlung ist beispielsweise schon dann auszugehen, wenn Vertreter eines Unternehmens an der Sitzung eines Unternehmensverbandes teilgenommen haben, während der ein Lieferboykott beschlossen worden ist, ohne sich offen dagegen auszusprechen (16 Ok 5/11; zum Kriterium der bloßen Anwesenheit vgl. EuG T-99/04, AC-Treuhand AG, Rn. 130 mwN.).
19) Grundsätzlich darf auch nach Informationsquellen gesucht werden, die noch nicht bekannt sind (16 Ok 5/11; vgl. auch Miersch in Dalheimer / Feddersen / Miersch, EU-Kartellverfahrensordnung, Art. 20 Rz. 48).
20) Zum Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit einer Hausdurchsuchung ist festzuhalten, dass die Erforderlichkeit anhand des verfolgten und dem Adressaten bekannt gegebenen Zwecks zu beurteilen ist. Die Ermittlungen sind aber nicht auf Tatsachen beschränkt, die unmittelbar die Tatbestandsvoraussetzungen eines Wettbewerbsverstoßes betreffen, sondern umfassen auch Informationen über den rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang, innerhalb dessen der Verfahrensgegenstand beurteilt werden muss (16 Ok 7/06 mwN.; 16 Ok 5/11; 16 Ok 7-13/11).
21) Grundsätzlich steht der BWB neben einer Hausdurchsuchung auch das Ermittlungsinstrument des Auskunftsverlangens nach § 11a WettbG zur Verfügung. Nach Abs. 1 Z. 2 dieser Bestimmung kann die BWB auch geschäftliche Unterlagen einsehen, prüfen und Abschriften und Auszüge anfertigen. Im Gegensatz zur Hausdurchsuchung, die zur Erlangung von Informationen aus geschäftlichen Unterlagen angeordnet werden kann, ermöglicht § 11a WettbG aber kein Suchen nach erforderlichen Unterlagen, sondern setzt vielmehr voraus, dass die geschäftlichen Unterlagen entweder bereits bekannt sind oder freiwillig zur Verfügung gestellt werden. Zur Erreichung des Zwecks der Aufklärung des begründeten Verdachts einer Beteiligung an einem kartellgesetzwidrigen Verhalten ist eine Hausdurchsuchung daher im Gegensatz zu einem Auskunftsverlangen immer dann geeignet, wenn erst nach zur Aufklärung geeigneten Informationsquellen gesucht werden muss, allenfalls auch, wenn die Vollständigkeit bereits vorhandener Unterlagen geprüft werden muss (16 Ok 5/11). Eine Nachprüfung durch Hausdurchsuchung ist insbesondere dann zweckmäßig, wenn aus Sicht der Behörde Verdunkelungsgefahr besteht (16 Ok 7/11). Bei Vorschaltung eines Auskunftsersuchens in derselben Sache oder einer Hausdurchsuchung bei Dritten könnte der Überraschungseffekt einer (weiteren) Hausdurchsuchung leicht unterlaufen werden (16 Ok 7/13).
Kein Verbot des Erkundungsbeweises
22) Das WettbG kennt kein Verbot des Erkundungsbeweises; eine Hausdurchsuchung kann bei entsprechendem Verdachtauch als erstes Instrument zur gewinnung von Beweismitteln eingesetzt werden (RIS-Justiz RS0127267). Während ein Auskunftsverlangen nach § 11 a WettbG voraussetzt, dass die Unterlagen bereits bekannt sind bzw frewillig zur Verfügung gestellt werden, darf bei einer Hausdurchsuchung nach § 12 WettbG nach Informationsquellen gesucht werden, die noch nicht bekannt sind (16 Ok 5/12; RIS-Justiz RS0127268 [T8, T3]). Es darf auch die Vollständigkeit von bereits vorliegenden Beweisen überprüft werden (16 Ok 2/12; RIS-Justiz RS0127267 [T1]).
23) Gegenstand und Zweck einer Hausdurchsuchung ergeben sich jeweils aus der betreffenden richterlichen Anordnung. Diese grenzt die Möglichkeiten und Ermächtigungen der BWB ab. Daraus ergibt sich auch der Umfang der möglichen Verwertung von Unterlagen(16 Ok 2/12).
24) Für nicht vom Hausdurchsuchungsbefehl gedeckte Ergebnisse besteht ein Beweisverwertungsverbot nach § 11 Abs 1 WettbG. Dadurch ist der Adressat der Hausdurchhsuchung ausreichend geschützt. Zur Geltendmachung eines allfälligen Beweisverwertungsverbots bedarf es keines gesonderten Widerspruchs nach Abschluss der Hausdurchsuchung; ein darauf gestützter Einwand kann im Kartellverfahren selbst geltend gemacht werden (16 Ok 2/12).
25) Wenn die Europäische Kommission bei einem Unternehmen eine Nachprüfung (Hausdurchsuchung) nach Art 20 Abs 4 VO 1/2003 durchführt, hat sie ihre Suche auf jene Unternehmens-Aktivitäten zu beschränken, die in ihrer Entscheidung ausdrücklich bezeichnet wurden. Wenn sich nach einer ersten Überprüfung herausstellt, dass sich ein Dokument oder ein anderer Datenträger nicht auf diese Aktivitäten bezieht, dürfen dieses Dokument oder dieser Datenträger im Rahmen der weiteren Untersuchung nicht verwendet werden (Urteil des Gerichts der Europäischen Union, 14.11.2012, T-135/09, Nexans).
26) Wäre diese Kommission nicht einer derartigen Beschränkung unterworfen, wäre sie in der Lage, immer dann, wenn gewisse Indizien darauf hindeuten würden, dass das Unternehmen die Wettbewerbsregeln mit bestimmten unternehmerischen Aktivitäten verletzt habe, eine Nachprüfung/Hausdurchsuchung betreffend alle Unternehmensaktivitäten durchzuführen, um alle möglichen Verstösse gegen Wettbewerbsregeln aufzuklären. Dies wäre freilich unvereinbar mit dem Schutz der Privatsphäre aller Rechtspersönlichkeiten, eines Grundrechtes in der demokratischen Gesellschaft (aaO).
Verhältnismäßigkeit
28) Auch wenn keine Hierarchie unter den der BWB zur Verfügung stehenen Ermittlungsinstrumenten existiert, ist zu berücksichtigen, dass Hausdurchsuchungen einen schwerwiegenden Eingriff in die Individualsphäre des Betroffenen bilden. Es ist deshalb an das Interesse an der Sachaufklärung durch eine Hausdurchsuchung ein strengerer Maßstab anzulegen als bei Auskunftsverlangen (RIS-Justiz RS0127268). Eine Hausdurchsuchung nach § 12 muss einerseits erforderlich, andererseits verhältnismäßig sein (RIS-Justiz RS 0127268). Insofern kann sich im Einzelfall unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit eine Einschränkung der Wahlfreiheit der Bundeswettbewerbsbehörde ergeben (16 Ok 5/12; RIS-Justiz RS0127267 [T4]). 16 Ok 7-13/11; vgl. auch Burrichter in Immenga / Mestmäcker, Wettbewerbsrecht EG / Teil 2, Verordnung 1/2003, Art. 20 Rz. 9).
29) Zweckmäßig ist eine Nachprüfung insbesondere dann, wenn aus Sicht der Behörde Verdunkelungsgefahr besteht. Wenn etwa ein Antrag auf Zuerkennung des Kronenzeugenstatus vorliegt, ist die Besorgnis nicht von der Hand zu weisen, dass andere der Beteiligung an dem entsprechenden Kartellrechtsverstoss verdächtigte Unternehmen inkriminierende Unterlagen beiseite schaffen könnten (16 Ok 5/11).
30) Auch die grundsätzliche Bereitschaft zur Erteilung von Auskünften, selbst nachweisbare Vorbereitungen zur Beantwortung eines Auskunftsersuchens, sprechen nicht gegen die Verhältnismäßigkeit einer angeordneten Hausdurchsuchung, weil diese ja ex-ante zu beurteilen ist(16 Ok 5/11).
31) Wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass ein Kartell trotz ausdrücklichen Verbots fortgesetzt wird, ist regelmäßig die Besorgnis berechtigt, die Unternehmen versuchten Beweismittel zu unterdrücken, sollten sie von den Erhebungen Kenntnis erlangen. Aus diesem Grund kann in derartigen Fällen in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass die Anordnung einer Hausdurchsuchung unverhältnismäßig ist (16 Ok 5/12; RIS-Justiz RS0127268 [T9]; 16 Ok 7-13/11).
Keine Befristung
Hausdurchsuchung auch im Zusammenhang mit einem in der Vergangenheit liegenden Geschehen
33) Dem Wortlaut des § 12 WettbG ist nicht ausdrücklich zu entnehmen, ob das Verhalten, das durch einen Hausdurchsuchungsbefehl aufgedeckt werden soll, ein aktuelles Geschehen sein muss, oder ob auch ein in der Vergangenheit liegender abgeschlossener Sachverhalt ausreicht. Dass grundsätzlich auch ein in der Vergangenheit liegendes Geschehen zu einer Hausdurchsuchung führen können muss, ergibt sich schon daraus, dass nach § 33 KartG Geldbußen grundsätzlich auch verhängt werden dürfen, wenn der Antrag binnen fünf Jahren ab Beendigung der Rechtsverletzung gestellt wurde. Auch solche abgeschlossene Verhaltensweisen dürfen daher untersucht werden. Die gegenteilige Auffassung würde die Aufklärung eines zwar schon beendeten, aber noch nicht verjährten kartellrechtswidrigen Geschehens über die Gebühr beeinträchtigen und die Effienz und Durchschlagskraft der Durchsetzung des österreichischen und europäischen Kartellrechts in Frage stellen. Auch im Strafverfahren reicht für eine Hausdurchsuchung nach § 119 Abs 1 StPO die Annahme aus, dass u.a. eine Person, die einer Straftat verdächtig ist, zu finden sein könnte; die Straftat muss keineswegs noch andauern. Eine gegenteilige Interpretation führte zum widersinnigen Ergebnis, dass jedes strafbare Verhalten, das nicht in der Herbeiführung und Aufrechterhaltung eines Dauerzustandes liegt, sondern nur kurz andauert, nicht mit Hausdurchsuchung aufgeklärt werden könnte. Solange daher ein bestimmtes Verhalten als kartellrechtsidrig verfolgt werden darf, kann es auch mit allen der Ermittlungsbehörde zur Verfügung stehenden Ermittlungsmethoden erforscht werden (16 Ok 3/14).
Zufallsfunde
34) Mit Angabe des Zwecks einer Ermittlung nach der VO (EG) 1/2003 werden die Verwendungsmöglichkeiten der erlangten Informationen bestimmt, weil sie nur zu dem Zweck verwertet werden können, zu dem sie eingeholt wurden. Dies bedeutet gleichzeitig, dass zufällig durch eine Ermittlung erlangte Informationen nicht im Rahmen des Verfahrens verwertet werden dürfen, aufgrund dessen die Ermittlung erfolgte. Ein Verwertungsverbot von Zufallsfunden besteht aber nicht. Die Kommission kann diese viel mehr zum Anlass nehmen, ein weiteres Verfahren einzuleiten (16 Ok 5/13).
35) In der Praxis ist die Grenzziehung zwischen Unterlagen, die dem Zweck der Untersuchung unterfallen, und solchen, auf die dies nicht zutrifft, schwer durchzuführen. Im Zusammenhang mit der Prüfung von Unterlagen gelangen die Inspektoren der Kommission zwangsläufig in Kenntnis von Informationen, die zu Gegenstand und Zweck der Nachprüfung keinen Bezug aufweisen. Es liegt auf der Hand, dass das Unternehmen aus diesem Grund die Prüfung von Unterlagen nicht verweigern kann oder die Prüfung nur bezüglich von Unterlagen zulassen kann, von denen sie aufgrund einer eigenen Vorauswahl der Meinung ist, dass ein solcher Zusammenhang vorliege. Dies muss für den österreichischen Rechtsbereich umso mehr gelten, als hier das in § 12 Abs 4f WettbG vorgesehene Widerspruchsverfahren – wenn auch eingeschränkt – Rechtsschutz und Prüfung durch eine unabhängige Kontrollinstanz in Form des Kartellgerichts gewährt (16 Ok 5/13).
36) Eine Vorgangsweise, bei der die BWB die Erweiterung des Hausdurchsuchungsbefehls auf Grund eines Aktenvermerks beantragt, in dem Mitarbeiter der BWB, die dem Hausdurchsuchungsteam angehörten, erklärten, Unterlagen betreffend einen möglichen weiteren Wettbewerbsverstoß gesichtet zu haben, überschreitet die von der Judikatur des EuGH gezogenen Grenzen bei der Verwertung von Zufallsfunden für die Einleitung eines weiteren Verfahren nicht (16 Ok 5/13).
37) Waren Zufallsfunde zur Einleitung eines neuen Verfahrens geeignet, obliegt es allein der Diskretionären Gewalt der Behörde zu entscheiden, ob ein Verfahren aus Zweckmäßigkeitsgründen (zB wegen der Nähe der zu untersuchenden Wettbewerbsverstöße) getrennt oder gemeinsam mit einem anderen geführt wird, und ob deshalb ein neuer Hausdurchsuchungsbefehl für ein eigens eingeleitetes Verfahren oder die Erweiterung des bestehenden Hausdurchsuchungsbefehls samt Erweiterung des bereits eingeleiteten Verfahrens beantragt wird. Den betroffenen Unternehmen stehen Rechtschutzmöglichkeiten im Rahmen des Widerspruchsrechts gemäß § 12 Abs 5 WettbG zur Verfügung. Keineswegs ist es für den Geheimnisschutz und den Schutz des Verteidigungsrechts nach § 11 WettbG erforderlich, dass anlässlich einer Hausdurchsuchung aufgefundene Unterlagen, die auf andere Verletzungen des Kartellgesetztes als die untersuchten schließen lassen, alleine aufgrund dieses Umstands nicht mehr verfolgt werden dürfte. Das Beweisverwertungsverbot des § 11 Abs 1 WettbG soll keineswegs Wettbewerbsverstöße schützen oder unverfolgbar machen. Plakativ formuliert: Wird bei einer wegen Diebstahls angeordneten Hausdurchsuchung eine Leiche gefunden, darf dieser Zufallsfund unter den allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen zur Einleitung eines Untersuchungsverfahren wegen Mordverdachts führen. Auch wenn die BWB einen Zufallsfund zum Anlass nehmen könnte, nach Abschluss der ursprünglichen Hausdurchsuchung mit Hilfe eines Auskunftsverlangens die fraglichen Unterlagen herauszufordern, hindert – wenn die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen – nicht die Erwirkung eines (erweiterten) Hausdurchsuchungsbefehls betreffend den neu hervorgekommenen Untersuchungsgegenstand (16 Ok 5/13).
Dominosystem
38) Ergibt sich der Verdacht eines weiteren Verstoßes gegen das Kartellgesetz bzw das europäische Wettbewerbsrecht aus Urkunden, die auch zum ursprünglich untersuchten Verdacht Bezug haben, liegt keine Untersuchung von Geschäftsunterlagen des Unternehmens ohne inhaltliche Beschränkung und damit kein Grundrechtseingriff vor. Solcher Art im Rahmen der Hausdurchsuchung aufgefundene Unterlagen, die einen weiteren Wettbewerbsverstoß vermuten lassen, also sogenannte Zufallsfunde, können deshalb unter derartigen Umständen Anlass zu weiteren Ermittlungen in einem neuen Verfahren geben (16 Ok 5/13).
Erweiterung des Hausdurchsuchungsbefehls
39) Es kann sich die Frage stellen, ob eine Verfolgung neu aufgetauchter Verdachtsmomente auch im Rahmen des ursprünglichen Verfahrens – durch Erweiterung des dort ergangenen Hausdurchsuchungsbefehls in diese Richtung – bei korrespondierender Erweiterung des Ermittlungsverfahrens erfolgen darf. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Frage, ob Verfahren getrennt oder verbunden geführt werden sollen, in der – an der Verfahrensvereinfachung bzw -beschleunigung zu messenden – Ingerenz der Behörde bzw des Gerichts liegt (vgl etwa für das zivilgerichtliche Verfahren § 187 ZPO). Im Zusammenhang mit Hausdurchsuchungsbefehlen ist dies dahingehend einzuschränken, dass die durch den Zweck des Verwertungsverbots nach Art 11 Abs 1 WettbG bzw Art 28 der VO (EG) 1/2003 garantierten Rechte durch eine Verbindung von Verfahren, hier Hausdurchsuchungen, nicht beeinträchtigt werden dürfen (16 Ok 5/13).
40) Nach der Entscheidung des EuGH vom 16.7.1992, C-67/91, AEB, im Zusammenhang mit der Verwendung von in einem Antrag an die Europäische Kommission enthaltenen Informationen durch eine nationale Wettbewerbsbehörde ging der EuGH zwar davon aus, dass es das Verwertungsverbot und die Verteidigungsrechte verbieten, anlässlich eines Auskunftsverlangens erlangte Informationen später außerhalb des Auskunftsverlangens zu verwenden. Die Mitgliedsstaaten sind aber nicht verpflichtet, die ihnen übermittelte Information zu ignorieren und unter „akuter Amnesie“ zu leiden. Diese Informationen stellen vielmehr Indizien dar, die gegebenenfalls berücksichtigt werden können, um die Einleitung eines nationalen Verfahrens zu begründen. Derartige Informationen dürfen weder in einer Voruntersuchungsverfahren noch zur Begründung einer Entscheidung herangezogen werden. Sie müssen in der internen Sphäre der Behörde verbleiben und dürfen zur Beurteilung der Frage verwertet werden, ob es angebracht ist, ein nationales Verfahren einzuleiten. Eine solche Tatsache kann rechtswirksam eines nationalen Verfahrens sein, sofern der Nachweis für ihr Vorliegen nicht durch die von der Kommission erlangten Unterlagen und Informationen, sondern unter Beachtung der im internationalen Recht vorgesehenen Garantien mit den diesem Recht eigentümlichen Beweismitteln erbracht wird (16 Ok 5/13).
Hausdurchsuchungen bei Dritten
41) Dass der Adressat des Hausdurchsuchungsbefehls an einer kartellrechtswidrigen Handlung selbst beteiligt war oder ist, ist keine Voraussetzung für eine Hausdurchsuchung. Hausdurchsuchungen können insbesondere auch bei Muttergesellschaften oder Holdinggesellschaften durchgeführt werden, zumal dann, wenn sie den gleichen Geschäftssitz haben und unmittelbar benachbarte Räumlichkeiten benutzen. Dann ist es zweckmäßig, den Hausdurchsuchungsbefehl auf den gesamten Gebäudekomplex auszudehnen und nicht auf Teile davon zu beschränken. Andernfalls könnten bei Durchführung der Hausdurchsuchung willkürlich und unüberprüfbar bestimmte Räume einzelnen - vorgeblich nicht betroffenen - Gesellschaften der Gruppe zugeordnet werden bzw bestünde die Gefahr einer raschen Verbringung von inkriminierendem Material innerhalb des Gebäudekomplexes in Räume einer nicht vom Hausdurchsuchungsbefehl betroffenen Gesellschaft (16 Ok 7/13; 16 Ok 5/11).
42) Im übrigen können Hausdurchsuchungen sogar bei Dritten stattfinden, nämlich bei solchen, bei denen entsprechende Unrterlagen iSd. § 12 WettbG aufgefunden werden könnten (16 Ok 5/11; vgl. auch Burrichter in Immenga / Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, EG / Teil 2, Verordnung 1 / 2003, Vorbem. zu Art. 17 bis 22 Rz. 13; Solé, das Verfahren vor dem Kartellgericht, Rz 542; 16 Ok 7-13/11). Der Verdacht muss sich nicht gegen jenen richten, bei dem die Hausdurchsuchung durchgeführt wird (RIS-Justiz RS0125748).
43) Nach dem Urteil des Gerichts vom 8. Juli 2008 – AC-Treuhand/Kommission, T 99/04, können grundsätzlich auch Mittätern und/oder Gehilfen einer Gesamtzuwiderhandlung gegen Art 101 Abs 1 AEUV die Zuwiderhandlungen der jeweils anderen beteiligten Unternehmen zugerechnet werden, wenn die entsprechenden objektiven und subjektiven Zurechenbarkeitsvoraussetzungen erfüllt sind (Rz 146). Dies wurde im Fall einer Unternehmensberatung bejaht, die in voller Kenntnis der Umstände vorsätzlich Fachwissen für die Erreichung kartellrechtswidriger Zwecke zur Verfügung gestellt hatte und sich damit zumindest indirekt im Rahmen der Durchsetzung ihrer individuellen Dienstleistungsverträge am wettbewerbs- und rechtswidrigen Ziel des Kartells beteiligt hatte (vgl. auch 16 Ok 2/10).
44) Die Frage allfälliger Wahrung von Berufsgeheimnissen (vgl Tipold/Zerbes in WK-StPO alt § 143 StPO aF Rz 25 ff) bzw des „legal privilege“ nach der Judikatur des EuGH (vgl Rs 155/79, Slg 1982, 1575 ff Tz 24, 27 – AM&S/Kommission) muss jedenfalls dann nicht überprüft werden, wenn sich das Verfahren (auch) gegen einen zur Berufsverschiegenheit verpflichteten Berater richtet (16 Ok 2/10vgl Tipold/Zerbes in WK-StPO alt § 143 StPO aF Rz 29).
Hausdurchsuchung in einer Anwaltskanzlei
45) Auch wenn dem Hausdurchsuchungsbefehl ein tragfähiger Tatverdacht zugrunde liegt, verstoßen die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei und die in ihr stattfindenden Beschlagnahmen gegen Art 8 EMRK, wenn die richterliche Anordnung keine hinreichende Begründung dafür angibt, weshalb beispielsweise trotz eines auf Kontakte zu zwei Personen beschränkten Tatverdachts eine vollständige Kopie aller vorhandenen elektronischen Daten des verdächtigten Rechtsanwalts zugelassen wird (EGMR Nr. 30457/06, Urteil vom 3. Juli 2012, Robathin vs Republik Österreich).
46) Wird durch die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei in das Recht auf die Vertraulichkeit der Korrespondenz eingegriffen, muss diese Maßnahme strikt erforderlich sein. Es müssen adäquate und effektive Schutzinstrumente eingreifen, die vor Missbrauch und Willkür schützen. In die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist insbesondere einzubeziehen, ob ie Reichweite der Anordnung angemessen begrenzt wurde und ob ein unabhängiger Beobachter anwesend war, der für den Schutz von Material eintreten konnte, das der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt (aaO).
Widerspruch, Versiegelung von Unterlagen
47) Nach § 12 Abs 5 WettbG idF KaWeRÄG 2012 kann der Adressat der Hausdurchsuchung der Durchsuchung und Einsichtnahme von Unterlagen unter Berufung auf eine ihn treffende gesetzlich anerkannte Pflicht zur Ver
schwiegenheit oder ein ihm zustehendes Recht zur Aussageverweigerung gemäß § 157 Abs 1 Z 2 bis 5 StPO widersprechen (16 Ok 8, 9/13). Gesetzlich anerkannte Verschwiegenheitspflichten bestehen vor allem für Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Beamte, Betriebsratsmitglieder und Banken. Zwar sind auch sonstige Dienstnehmer verpflichtet, die ihnen anvertrauten Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse zu wahren (vgl. § 11 UWG); auf diese Verpflichtung kann sich das Unternehmen (der Dienstgeber) zur Begründung eines Widerspruchs aber nicht berufen. Damit wurde das Widerspruchsrecht auf seltene Ausnahmesituationen reduziert (16 Ok 2/14).48) Es besteht auch kein Widerspruchsrecht, wenn die Bundeswettbewerbsbehörde Unterlagen kopiert oder sogar beschlagnahmt, die vom Hausdurchsuchungsbefehl nicht erfasst sind. Eine derartig Überschreitung des Hausdurchsuchungsbefehls wäre nur als Akt der unmittelbaren Befehls- und Zwangsgewalt beim Verwaltungsgericht bekämpfbar (16 Ok 2/14). Generell kommt eine gerichtliche Überprüfung der tatsächlichen Vorgangsweise der Bundeswettbewerbsbehörde bei Durchführung einer kartellgerichtlich angeordneten Hausdurchsuchung nicht in Betracht, weil es sich dabei um einen verwaltungspolizeiliche Maßnahme einer Verwaltungsbehörde handelt. Ob eine Behörde ihre Befugnisse rechtmäßig ausübt oder überschritten hat, ist von den Verwaltungsgerichten zu überprügen (vgl. RIS-Justiz RS0128003).
49) Auch die Frage, ob Papierunterlagen oder elektronische Daten für den Gegenstand des Hausdurchsuchungsbefehls relevant sind oder nicht, spielt im Rahmen der Versiegelung nach dem KaWeRÄG 2012 keine Rolle mehr, da dieser Umstand kein vom WettbG aberkannter Grund für eine Versiegelung durch den Unternehmer ist (16 Ok 2/14).
50) Im Fall eines Widerspruchs des Hausdurchsuchungsgegners sind die von ihm bezeichneten Unterlagen zu versiegeln und dem Kartellgericht vorzulegen. Zuvor dürfen sie nicht eingesehen werden. Ist die Bezeichnung einzelner Unterlagen im Zuge der Hausdurchsuchung nicht möglich, sind sie zu sichern und getrennt vom Ermittlungsakt zu hinterlegen. Der Betroffene kann innerhalb einer Frist von mindestens zwei Wochen die Unterlagen einzeln bezeichnen. Unterlässt er dies, werden sie Bestandteil des Ermittlungsakts. Die bezeichneten Unterlagen sind dagegen in sinngemäßer Anwendung des Abs 5 dem Kartellgericht vorzulegen (16 Ok 5/13). Das Kartellgericht hat die Unterlagen zu sichten und mit Beschluss des Senatsvorsitzenden zu entscheiden, ob und in welchem Umfang sie eingesehen und Abschriften und Auszüge daraus angefertigt werden dürfen oder sie dem betroffenen zurückzustellen sind (16 Ok 2/14).
51) Nach § 12 Abs 5 WettbG idF des KaWeRÄG 2012 hat eine Versiegelung nur zu erfolgen, wenn der Betroffene der Prüfung von Unterlagen unter Berufung auf eine gesetzlich anerkannte Verschwiegenheitspflicht oder ein ihm zustehendes Recht zur Aussageverweigerung nach § 157 Abs 1 Z 2 bis 5 StPO widerspricht. Die Sichtungs- und Prüfungsverpflichtung des Kartellgerichts ist daher auf diese im Gesetz vorgesehenen Versiegelungsgründe beschränkt. Werden solche nicht einmal behauptet, ist das Kartellgericht nicht gehalten, von Amts wegen nach gesetzlichen Widerspruchsgründen zu forschen (16 Ok 2/14).
52) Im Hinblick auf diese Rechtslage ist das Kartellgericht nicht in jedem Fall verpflichtet, eine Sichtung der Unterlagen vorzunehmen. Werden nämlich keine tauglichen Versiegelungsgründe iSd § 12 Abs 5 WettbG angeführt, ist der Widerspruch des Betroffenen von Vornherein ungeeignet, eine Versiegelung zu rechtfertigen, und es ist auch keine weitere Prüfung oder Sichtung der Unterlagen erfoderlich. Eine Sichtung der Unterlagen durch das Kartellgereicht setzt also eine rechtmäßige Versiegelung voraus (16 Ok 2/14).
53) Falls dem Kartellgericht zum Zeitpunkt der Entscheidung nach § 12 Abs 5 WettbG kein Protokoll über die Hausdurchsuchung vorliegt kommt es darauf an, ob dies einem wesentlich Verfahrensmangel bewirkt, also geeignet ist, eine unrichtige Entscheidung des Kartellgerichts herbeizuführen (RIS-Justiz RS0043027; vgl. auch RIS-Justiz RS0043049). Im Rahmen eines Rechtsmittelverfahren müsste der Rekurswerber darlegen, welches zusätzliche Vorbringen er bei Einräumung einer entsprechenden weiteren Äußerungsmöglichkeit erstattet hätte, das eine abweichnde Entscheidung zur Folge gehabt hätte (16 Ok 2/14; vgl. RIS-Justiz RS0037095).
54) Die Bestimmung des Abs 5 bezieht sich, wie sich aus dem klaren Gesetzeswortlaut ergibt, nur auf den Fall, dass der Adressat der Hausdurchsuchung die Durchsuchung und Einsichtnahme von Unterlagen bei der Hausdurchsuchung nicht gestattet. Hat die Bundeswettbewerbsbehörde einmal Einsicht in die Unterlagen genommen, Kopien angefertigt und dergleichen und damit die Hausdurchsuchung beendet, kommt ein Antrag auf Versiegelung nach Abs 5 nicht mehr in Betracht, und zwar unabhängig davon, ob tatsächlich faktisch jedes Dokument angesehen wurde (16 Ok 2/12).
Befragung zu den Voraussetzungen der Hausdurchsuchung
55) § 12 WettbG - der insoweit als Spezialnorm zu § 15 AußStrG anzusehen ist - regelt die Verteidigungsrechte und die Mitwirkungspflicht der betroffenen Unternehmen im Fall einer Hausdurchsuchung. Der von einer Hausdurchsuchung Betroffene ist unmittelbar vor deren Beginn zu den Voraussetzungen zu befragen, sofern dies nicht den Ermittlungserfolg wegen Gefahr in Verzug gefährden würde. Im fall einer hausdurchsuchung steht dem betroffenen somit das in § 15 AußStrG geregelte recht der kenntnis- und Szellungnahme vor Erlassung einer gerichtlichen Entscheidung - und insoweit also das rechtliche Gehör - nur eingeschränkt zu (16 Ok 8, 9/13). Dem betroffenen Unternehmen ist auch keine besondere Vorbereitungsfrist, etwa für Überlegungen, ob ein Kronzeugenantrag gestellt werden soll, einzuräumen (16 Ok 5/13).
56) Eine Anwendung von § 106 StPO, der einen allgemeinen Einspruch gegen Rechtsverletzungen durch die Staatsanwaltschaft vorsieht, kommt bei einer vom Kartellgericht angeordneten Hausdurchsuchung mangels gesetzlicher Anordnung nicht in Betracht; § 12 Abs 4 WettbG verweist nämlich nur auf § 142 StPO idF BGBl 631/1975 (16 Ok 2/12).
57) Dass der Gesetzgeber im WettbG nur auf einzelne Bestimmungen der StPO verweist, hat keine Gesetzeslücke zur Folge. Für den Rechtschutz des Adressaten eines Hausdurchsuchungsbefehls ist es ausreichend, den Befehl einem vertretungsbefugten Organ zuzustellen. Ob und wie sich der Adressat des Hausdurchsuchungsbefehls an der Hausdurchsuchung beteiligt, bleibt dessen innerer Organisation überlassen.Besondere Belehrungspflichten der Bundeswettbewerbsbehörde nach den §§ 11a, 12 WettbeG bestehen nicht (16 Ok 2/12; RIS-Justiz RS0127267 [T 4]).
58) Eine gerichtliche Überprüfung der tatsächlichen Vorgangsweise der BWB bei Durchführung einer kartellgerichtlich angeordneten Hausdurchsuchung kommt nicht in Betracht, weil die Durchführung einer derartigen Hausdurchsuchung eine verwaltungspolizeiliche Maßnahme einer Verwaltungsbehörde ist. Ob eine Behörde ihre Befugnisse rechtmäßig ausgeübt oder überschritten hat, ist aber von den Unabhängigen Verwaltungssenatenz u prüfen (16 Ok 2/12; vgl auch die Materialien zum EU-WettbG 1993 AB 1752 BlgNR 18. GP 2; Xeniadis / Harsdorf, Aktuelles zu Hausdurchsuchungen: Anmerkungen zur Entscheidung des KOG im Dämmstoffverfahren, ÖZK 2012, 29; Rihs / Xeniadis, Ermittlungsverfahren vor der Bundeswettbewerbsbehörde - Vernehmung von Beteiligten und Zeugen, ÖZK 2011, 171, 172 f.).
Rechtsmittel
59) Eine vom Erstgericht getroffene "Feststellung", wonach kein dringender Verdacht bestehe, ist keine Feststellung im Rechtssinne. Dabei handelt es sich vielmehr um eine rechtliche Würdigung der tatsächlichen verdachtsbegründend behaupteten Umstände, die auch im Kartellverfahren, in dem eine Anfechtung der Tasachenfeststellungen des Erstgerichtes nach ständiger Rechtsprechung nicht möglich ist (RIS-Justiz RS0110384), uneingeschränkt im Rekursverfahren überprüfbar sind (16 Ok 1/13).
60) Eine Umstellung des Grundes für die Hausdurchsuchung (durch die Antragstellerin) ist im Rekursverfahren nicht zulässig (16 Ok 1/13). Vielmehr muss eine Partei auch im Außerstreitverfahren den Tatbestand, auf den sie ihren Antrag stützen will, schon in erster Instanz vorbringen (RIS-Justiz RS0006790).
61) Der Beschluss über die Versiegelung von bei einer Hausdurchsuchung sichergestellten Unterlagen ist - ebenso wie die ursprüngliche Anordnung der Hausdurchsuchung - eine Zwischenerledigung iSd § 62 Abs 1 KartG. Der Beschluss ist daher vom Sentasvorsitzenden zu fassen. Damit beträgt die Rekursfrist ebenso wie die Frist für die Rekursbeantwortung 14 Tage (16 Ok 2/14).
62) Nichtigkeit eines Hausdurchsuchungsbefehls liegt nur bei völligem Fehlen einer Begründung vor (16 Ok 7-13/11; RIS-Justiz RS0007484, RS0042133).
63) Die konkrete Durchführung einer Hausdurchsuchung kann im Rechtsmittel gegen einen Hausdurchsuchungsbefehl nicht überprüft werden, weil im Rahmen eines Rekurses gegen die Bewilligung einer Hausdurchsuchung nur das Vorliegen der Voraussetzungen zum Bewilligungszeitpunkt zu prüfen ist (16 Ok 5/11; 16 Ok 7 - 13/11). Wurden keine Datenträger oder sonstige Unterlagen im Rechtssinne "beschlagnahmt", kommte es auf die Zulässigkeit einer diesbezüglichen Ermächtigung im Hausdurchsuchungsbefehl nicht an (16 Ok 7-13/11).
Amtshilfe zwischen nationalen Wettbewerbsbehörden
64) Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) 1/2003 verpflichtet Kartellbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, neben ihrem nationalen Recht stets auch die Art. 101 und/oder 102 AEUV (ex Art. 81 und/oder 82EG) anzuwenden, sofern das fragliche Unternehmensverhalten zur Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten geeignet ist. Die korrespondierende Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte zur Anwendungder Art. 101 und /oder 102 AEUV ist in Art. 5 und 6 der VO (EG) 1/2003 geregelt. Die alleinige Anwendung einzelstaatlichen Rechts in Fällen mit Zwischenstaatlichkeitsbezug ist somit ausgeschlossen, während die alleinige Anwendung des Unionsrechts stets möglich bleibt (16 Ok 7/09; Sura uin Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht II, 10. Aufl., Art. 3 VO 1/2003, Rz. 8 mwN.).
65) Diese (gegebenenfalls parallele) Anendung der Art. 101 und/oder 102 AEUV führt dazu, dass die Vorschriften in Kapital IV der VO (EG) 1/2003 über die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten zum Tragen kommt. Eingerichtet wurde damit ein Netzwerk der Wettbewerbsbehörden in der Union zur dezentralen Anwendung der Art. 101 und/oder 102 AEUV. Einzelstaatliche Wettbewerbsbehörden sind demnach u.a. befugt, gem. Art. 12 VO (EG) 1/2003 mit der Kommission und anderen einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden Informationen auszutauschen und als Beweismittel zuz nutzen. Sie könne auch unter den Voraussetzungen von Art. 22 VO (EG) 1/2003 Amtshilfe erbitten (16 Ok 7/09; Dalheimer in Dalheimer / Feddersen / Miersch, EU-Kartellrechtsverfahrensordnung, Art. 3 Rz 7).
66) Durch diese Bestimmungen des Unionsrechts werden die nationalen Wettbewerbsbehörden in die Lage versetzt, Fällen nachzugehen, in denen sich Beweismittel in anderen Mitgliedstaaten befinden. Diese Möglichkeit hätten sie ohne die Unterstützung durch andere Behörden nicht, da die eingriffsbefugnisse jeder nationalen behörde wegen des völkerrechtlichen territorialprinzips auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt sind (16 Ok 7/09; Sura, a.a.O., Art. 22 Rz. 1 f.).
67) Gem. Art. 22 VO (EG) 1/2003 darf jede mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedsstaats im Namen und für Rechnung einer anderen mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde alle Nachprüfungen und sonstigen Maßnahmen durchführen, um festzustellen, ob eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 und/oder 102 AEUV vorliegt. Die Befugnisse und Verfahrensregeln für derartige Maßnahmen richten sich ausschließlich nach nationalem Recht (16 Ok 7/09; Art. 22 Abs. 1 VO [EG] 1/2003; Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden, ABl C 101 vom 27.4.2004, S. 43 Rz. 29).
68) Art. 22 VO (EG) 1/2003 ermächtigt demnach die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten, die in ihren nationalen Rechten vorgesehenen Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung auch für eine andere Wettbewerbebehörde zu ergreifen und die auf diese Weise erhaltenen Informationen an diese Behörde weiterzuleiten. Entgegenstehendes nationales Recht ist aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts unwirksam (de Bronett, Kommentar zum europäischen Kartellverfahrensrecht, Art. 22 Rz. 2). Die Ermittlungshilfe ist auf Verfahren begrenzt, in denen es um eine mögliche Verletzung von Art. 101 und/oder 102 AEUV geht. Wettbewerbsverfahren außerhalb des Anwendungsbereichs der VO (EG) 1/2003 sind damit nicht umfasst, insbesondere nicht Verfahren zur Untersuchung möglicher Verletzungen nationaler Vorschriften (16 Ok 7/0; Miersch in Dalheimer / Feddersen / Miersch, EU-Kartellverfahrensordnung, Art. 22 Rz. 6).
69) Die VO (EG) 1/2003 enthält keine Vorgaben, wann eine nationale Wettbewerbsbehörde ein Ersuchen nach Art. 22 stellen darf. Ein solches Ersuchen wird aber jedenfalls nur dann berechtigt sein, wenn die Voraussetzungen für einen entsprechenden innerstaatlichen Ermittlungsakt nach dem nationalen Recht der ersuchenden behörde (insbesondere ein Anfangsverdacht) gegeben sind; Ermittlungsakte im Ausland sollen damit nicht niedrigeren Anforderungen unterliegen als im Inland. Die ersuchende Wettbewerbsbehörde wird daher Angaben zu sämtlichen Umständen zu machen haben, die nach dem nationalen Recht der ersuchten Behörde erforderlich sind, um das Vorliegen der danach benötigeten Eingriffsvoraussetzungen prüfen zu können. Insbesondere werden die betroffenen Unternehmen sowie Hinweise auf einen Anfangsverdacht, der Gegenstand un der Zweck der Untersuchung zu spezifizieren sein (16 Ok 7/09; Barthelmeß in Loewenheim / Meessen / Riesenkampff, Kartellrecht I, VerfVO, Rz. 7 f.).
70) Der Wortlaut von Art. 22 VO (EG) 1/2003 legt nahe, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden nur unverbindliche Ersuchen aneinander richten, aber keine rechtlich verbindlichen Ansprüche auf Durchführung von Ermittlungen geltend machen können. Selbst wenn jedoch eine solche Verpflichtung bejaht wird, muss die ersuchte Wettbewerbsbehörde jedenfalls berechtigt sein, in begründeten Ausnahmefällen ein Ersuchen abzulehnen, insbesondere wenn die ersuchende Behörde nicht in der Lage ist, überzeugend darzulegen, dass ein legitimer Anlass für eine Ermittlung besteht und die Ermittlung verhältnismäßig ist (16 Ok 7/0; Bechtoild/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht, 2. Aufl., Art. 22 VO 1/2003 Rz. 2).
Hausdurchsuchung nach österreichischem Strafrecht
71) Eingriffsvoraussetzung für eine nach nationalem Strafrecht durchgeführte Hausdurchsuchung ist die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sowohl was ihre Voraussetzungen als auch ihre Durchführung betrifft. Konkretisiert wird dieses Gebot insbesondere in § 121 Abs 1 und 3 StPO. Bei Durchsuchungen ist möglichst schonend vorzugehen, Aufsehen, Belästigungen, Störungen sind auf das unvermeidbare Maß zu beschränken. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird nach folgenden Kriterien überprüft: Der Zweck des Eingriffs muss eindeutig sein, die Durchsuchung muss einer bestimmten Angelegenheit dienen. Die gesuchten Gegenstände müssen bereits vor dem Eingriff bestimmt sein. Zur bloßen Gewinnung von Verdachtsgründen und nach Abschluss der Untersuchung sind die Maßnahmen grundsätzlich unzulässig. Die Durchsuchung muss geeignet sein, ihren Zweck zu erreichen. Das Gesuchte muss den untersuchten Verdacht bestätigen oder entkräften können. Der Eingriff muss außerdem im überwiegenden öffentlichen Interesse gerechtfertigt sein. Bei einer Durchsuchung im strafrechtlichen Zusammenhang besteht weiters der Grundsatz der Subsidiarität. Die Durchsuchung ist daher nur grundrechtlich einwandfrei, wenn keine weniger einschneidende Maßnahme mit derselben Erfolgsaussicht zur Verfügung steht (16 Ok 5/13).
Hausdurchsuchung nach dem Wettbewerbsrecht der EU
72) Im europäischen Wettbewerbsrecht sind die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission in Art 20 VO (EG) 1/2003 abschließend aufgezählt. Gemäß Art 20 Abs 2 und 3 dieser VO umfasst die Begründungspflicht die Angabe von Gegenstand und Zweck der Nachprüfung. Die Kommission hat alle Tatsachen, von denen die Rechtmäßigkeit der Maßnahme abhängt, sowie die Erwägungsgründe anzuführen, die sie zum Erlass des Beschlusses veranlasst haben. Daraus sollte der Betroffene den Umfang der Duldungs- und Mitwirkungspflicht erkennen können. Eine rechtliche Qualifikation oder die Bekanntgabe sämtlicher der Kommission vorliegenden Informationen ist nicht erforderlich. Es muss aber eine Beschreibung der wesentlichen Merkmale der behaupteten Zuwiderhandlung gegeben und der betroffene Markt und die Natur der behaupteten Wettbewerbsbeschränkung angegeben werden. Auch muss erläutert werden, in welcher Form das von der Nachprüfung betroffene Unternehmen in die Zuwiderhandlung verwickelt sein soll und wonach gesucht wird. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die Kommission im Zeitpunkt des Erlasses eines Nachprüfungsbeschlusses in der Regel noch nicht über die Informationen verfügt, die eine eindeutige und umfassende Beurteilung des Falles ermöglichen, der gerade durch die angeordnete Nachprüfung ermittelt werden soll (16 Ok 5/13).
73) Zweck der Untersuchungshandlung ist die Aufklärung des Sachverhalts, auf den sich der Verdacht der Zuwiderhandlung stützt. Der Gegenstand bezeichnet die Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen, die der Nachprüfung unterworfen werden. Es muss zwar der Informationsstand der Kommission nicht vollständig offengelegt, aber unmissverständlich klargemacht werden, welchen Vermutungen nachgegangen werden soll. Eine ausforschende Nachprüfung („Fishing-Expedition“) ist unzulässig (16 Ok 5/13; 16 Ok 2/10).
74) Die Nachprüfung nach Art 20 Abs 1 VO (EG) 1/2003 muss zur Erfüllung der Aufgabe erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn bei objektiver Beurteilung die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen bestimmten Geschäftsunterlagen im vermuteten Besitz des Adressaten der Ermittlungsmaßnahme und dem Zweck und Gegenstand der Nachprüfung nicht ausgeschlossen werden kann. Tatsachen, die den im Nachprüfungsbeschluss bezeichneten Verfahrensgegenstand betreffen und zum rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang gehören, innerhalb dessen dieser beurteilt werden muss, stehen in einem solchen Zusammenhang (16 Ok 5/13).
75) In der Regel stellen die Inspektoren der Kommission den Adressaten den Nachprüfungsbeschluss unmittelbar vor Beginn der Nachprüfung zu. Mit diesem Zeitpunkt entstehen die Bindungs- und Mitwirkungspflichten des Adressaten, die unverzüglich zu erfüllen sind und mit Zwangsmitteln nach Art 20 Abs 6 VO (EG) 1/2003 durchgesetzt werden können. Die mit Beschluss angeordneten Nachprüfungen erfolgen daher in der Regel ohne vorherige Ankündigung, damit die Adressaten keine oder nur eine beschränkte Möglichkeit haben Geschäftsunterlagen der Nachprüfung zu entziehen. Dieser beabsichtigte Überraschungseffekt wäre gefährdet, wenn der Adressat den Beginn der Nachprüfung verzögern könnte. In der spezifischen Situation der Nachprüfung hängt der Erfolg wesentlich vom Überraschungsmoment ab, und ein vorgeschalteter einfacher Prüfungsauftrag würde die Unternehmen warnen und ihnen die Möglichkeit geben, Beweismaterial beiseite zu schaffen. Die Entscheidung über den Nachprüfungsauftrag ergeht ohne vorherige Anhörung des betroffenen Unternehmens (16 Ok 5/13).
76) Im Zusammenhang mit der Prüfung der Geschäftsunterlagen erlangt die Kommission zwangsläufig auch Kenntnis von Geschäftsunterlagen, die in keinem Zusammenhang mit Gegenstand und Zweck der Nachprüfung stehen. Es kann daraus aber nicht geschlossen werden, dass Kopien zwingend nur von Geschäftsunterlagen angefertigt und erlangt werden dürfen, die mit Gegenstand und Zweck der Nachprüfung im Zusammenhang stehen. Dies ist an Ort und Stelle bei umfangreichen Unterlagen nicht feststellbar, und es ist auch zu berücksichtigen, dass die an der Nachprüfung beteiligten Inspektoren nicht zur Gruppe der Bediensteten gehören müssen, die mit der Fallbearbeitung beauftragt und daher mit allen Einzelheiten des Falles vertraut ist. Es besteht daher keine zwingende zeitliche Reihenfolge der Befugnisse im Bezug auf das Prüfen von Geschäftsunterlagen und das Anfertigen von Kopien. Der Zweck der Ausübung jeder Ermittlungsbefugnis der Kommission der Art 17 bis 22 VO (EG) 1/2003 ist die Konkretisierung einer Aufgabe, deren Erfüllung ihr durch Verordnung übertragen ist, das heißt die Aufklärung eines bestimmten Sachverhalts auf den sich der Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen die Art 101 und 102 AEUV stützt. Unternehmen dürfen sich der Anfertigung von Kopien daher selbst dann nicht widersetzen, wenn sie den Zusammenhang zwischen Zweck und Gegenstand der Nachprüfung und einem Dokument nicht erkennen oder ausschließen (16 Ok 5/13).
77) Neben dem Berufsgeheimnis soll auch das Verwertungsverbot die Verteidigungsrechte der Unternehmen schützen. Diese Rechte würden in schwerwiegender Weise beeinträchtigt, wenn die Kommission gegenüber den Unternehmen bei einer Nachprüfung erlangte Beweise anführen könnte, die in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand und Zweck dieser Nachprüfung stünden. Dies bedeutet aber nicht, dass es der Kommission verwehrt wäre, ein Untersuchungsverfahren einzuleiten, um Informationen, die sie bei einer früheren Nachprüfung zufällig erlangt hat, auf ihre Richtigkeit zu überprüfen oder zu vervollständigen, wenn diese Informationen einen Hinweis auf Verhaltensweisen lieferten, die gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrags verstoßen. Ein solches Verbot ginge über das hinaus, was zum Schutz des Berufsgeheimnisses und der Verteidigungsrechte notwendig wäre und würde die Kommissionen in unzulässigerweise bei der Erfüllung ihrer Aufgaben behindern (Urteil des Europäischen Gerichtshofs C-85/87, Dow Benelux; 16 Ok 5/13).