TE Vwgh Erkenntnis 1993/3/22 92/10/0376

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Veröffentlicht am 22.03.1993
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
70/05 Schulpflicht;

Norm

AVG §37;
AVG §45 Abs3;
AVG §46;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
SchPflG 1985 §8 Abs1;
SchPflG 1985 §8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kirschner und die Hofräte Dr. Puck, Dr. Waldner, Dr. Novak und Dr. Bumberger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Kopp, über die Beschwerde des N in H, vertreten durch Dr. M, Rechtsanwalt in H, gegen den Bescheid des Landesschulrates für Niederösterreich vom 6. August 1992, Zl. I-27250/.-1992, betreffend die Aufnahme der minderjährigen Tochter des Beschwerdeführers in die Sonderschule H gemäß § 8 Abs. 1 des Schulpflichtgesetzes, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1.1. Die Tochter des Beschwerdeführers, NA. wurde über Antrag des Beschwerdeführers im Schuljahr 1991/1992 gemäß § 8a Abs. 2 des Schulpflichtgesetzes aus der Allgemeinen Sonderschule H entlassen und in die erste Klasse der Hauptschule H als Schülerin aufgenommen.

Mit Bescheid vom 6. Mai 1992 sprach der Bezirksschulrat St. Pölten-Land gemäß § 8 Abs. 1 des Schulpflichtgesetzes aus, daß NA, geboren am 1. April 1980, neuerlich in die Sonderschule H aufgenommen werde. Die Begründung des Bescheides erschöpft sich in der Aussage, "Ihr Sohn" (richtig: Ihre Tochter) "hatte zu Semester mehrere negative Beurteilungen. Eine Wiederholung zu Schulschluß wäre unvermeidbar".

Gegen diesen Bescheid wendet sich die Berufung des Beschwerdeführers vom 18. Mai 1992, in der es auszugsweise heißt: "Ich beantrage die Aufhebung des Bescheides und begründe meinen Antrag wie folgt:

a) Meine Tochter wurde vor ihrer Aufnahme in die Hauptschule H von Lehrkräften dieser Schule auf ihre Hauptschulreife überprüft.

b) Tatsache ist, daß meine Tochter zu Semester mehrere negative Beurteilungen hatte, die allerdings bedingt durch den Schulwechsel zustande kamen. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, daß die sogenannte "Mahnungskonferenz" für den Schulschluß zum Zeitpunkt der Ausstellung des oben genannten Bescheides noch nicht stattgefunden hat.

c) Da nicht nur ich als Vater, sondern auch meine Tochter größten Wert auf ihren Verbleib in der Hauptschule legen, bin ich natürlich auch damit einverstanden, daß meine Tochter - wenn nötig - die 5. Schulstufe wiederholt.

d) Die soeben in Punkt c) abgegebene Erklärung scheint mir die Begründung Ihres Bescheides aufzuheben.

e) Ich appelliere an Ihre Geduld und an Ihr Verständnis ausländischen Schülern gegenüber, die noch dazu einen Schulwechsel während des Schuljahres zu bewältigen haben."

1.2. Nach Einholung eines schulpsychologischen Gutachtens erließ der Landesschulrat für Niederösterreich (die belangte Behörde) den Berufungsbescheid vom 6. August 1992, mit dem die Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG in Verbindung mit § 8 des Schulpflichtgesetzes (BGBl. Nr. 76/1985) abgewiesen und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt wurde. Zur Begründung führte die belangte Behörde nach auszugsweiser Wiedergabe des § 8 Abs. 1 des Schulpflichtgesetzes aus, die Schülerin sei am 10. Juni 1992 vom Leiter des Schulpsychologischen Dienstes beim Landesschulrat von Niederösterreich untersucht worden. Dabei sei festgestellt worden, daß sie derzeit nicht in der Lage sei, dem Unterricht in der Hauptschule zu folgen. Sie habe das Lehrziel der ersten Klasse Hauptschule nicht erreicht und bedürfe einer Förderung in der Allgemeinen Sonderschule. Das Ergebnis der Beobachtung in der Hauptschule sei ohne Zweifel negativ gewesen.

Die Zumutbarkeit des Schulweges sei zweifellos gegeben.

1.3. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof, in der Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und inhaltliche Rechtswidrigkeit geltend gemacht werden. In der Beschwerde wird zunächst geltend gemacht, die Behörde habe das Recht auf Parteiengehör gemäß § 37 AVG verletzt. Der Bescheid erster Instanz sei ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens erlassen worden. In zweiter Instanz vor dem Landesschulrat für Niederösterreich sei zwar eine Untersuchung durch den Leiter des schulpsychologischen Dienstes beim Landesschulrat für Niederösterreich durchgeführt worden. Das Ergebnis dieser Untersuchung sei dem Beschwerdeführer jedoch vor Erlassung des angefochtenen Bescheides nicht mitgeteilt worden; der Beschwerdeführer habe keine Gelegenheit gehabt, dazu Stellung zu nehmen. Ein schriftliches Gutachten sei dem Beschwerdeführer bisher nicht zugestellt worden. Damit sei das Recht des Beschwerdeführers auf Parteiengehör verletzt worden.

Eine Mangelhaftigkeit sei auch dadurch gegeben, daß gemäß § 8 Abs. 2 des Schulpflichtgesetzes zwingend die Einholung eines schul- oder amtsärztlichen Gutachtens vorgesehen sei, welches im gegenständlichen Fall nicht eingeholt worden sei. Ebenso sei dem Beschwerdeführer auch nie das Ergebnis eines Gutachtens eines Leiters der Sonderschule vorgelegt worden.

Weiters wird in der Beschwerde darauf hingewiesen, daß gemäß § 8 Schulpflichtgesetz schulpflichtige Kinder, die infolge psychischer oder physischer Behinderung dem Unterricht in der Volks- oder Hauptschule nicht zu folgen vermögen, in die Sonderschule aufzunehmen seien, sofern eine solche vorhanden sei.

Der angefochtene Bescheid enthalte keinerlei Feststellungen über eine psychische oder physische Behinderung der Tochter des Beschwerdeführers, welche tatsächlich auch nicht vorliege. Aus dem Umstand, daß die Tochter des Beschwerdeführers das Lernziel der ersten Klasse nicht erreicht habe, könne nicht auf die Sonderschulbedürftigkeit geschlossen werden. Sicherlich liege beim Kind des Beschwerdeführers ein Leistungsrückstand vor, der einerseits entwicklungs-, andererseits auch milieubedingt (türkische Muttersprache) sei. Für die Aufholung eines solchen Leistungsrückstandes sehe § 27 Schulunterrichtsgesetz die Wiederholung der Schulstufe vor.

Es fehle dem angefochtenen Bescheid somit jede Feststellung darüber, ob der vorliegende Leistungsrückstand nicht durch Wiederholen der Schulstufe aufgeholt werden könne. Insofern sei der angefochtene Bescheid in seiner Begründung völlig unvollständig. Da die belangte Behörde nicht berücksichtigt habe, daß für die Aufnahme in die Sonderschule gemäß § 8 Schulpflichtgesetz das Vorliegen einer psychischen oder physischen Behinderung Voraussetzung sei, sei somit der angefochtene Bescheid auch inhaltlich rechtswidrig.

1.4. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift.

2.0. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 Schulpflichtgesetz 1985, Anlage zur Wiederverlautbarungskundmachung BGBl. Nr. 76/1985, haben schulpflichtige Kinder, die infolge physischer oder psychischer Behinderung dem Unterricht in der Volks- oder Hauptschule nicht zu folgen vermögen, aber dennoch schulfähig sind, ihre allgemeine Schulpflicht in einer ihrer Eigenart und Schulfähigkeit entsprechenden Sonderschule oder einer Volks- oder Hauptschule angeschlossenen Sonderschulklasse zu erfüllen, soweit solche Schulen (Klassen) vohanden sind und der Schulweg den Kindern zumutbar oder der Schulbesuch auf Grund der mit Zustimmung der Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten des Kindes erfolgten Unterbringung in einem der Schule angegliederten oder sonst geeigneten Schülerheim möglich ist.

Nach § 8 Abs. 2 leg. cit. ist die Aufnahme eines Kindes in eine Sonderschule (Sonderschulklasse) auf Antrag der Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten des Kindes, auf Antrag des Leiters der Schule, dem das Kind zur Aufnahme vorgestellt worden ist oder dessen Schule es besucht, oder sonst von Amts wegen vorzunehmen. Der Antrag der Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten hat die Art der Sonderschule, die das Kind besuchen soll, zu bezeichnen; gleiches gilt für die amtswegige Aufnahme. Zuständig zur Entscheidung über die Aufnahme ist der Bezirksschulrat, in dessen Bereich die beantragte Art der Sonderschule gelegen ist. Der Bezirksschulrat hat zur Feststellung, ob das Kind der Förderung durch die beantragte Art der Sonderschule bedarf, ein Gutachten des Leiters einer Sonderschule der beantragten Art (des Lehrers einer derartigen Sonderschulklasse), ein schul- oder amtsärztliches Gutachten, ein nach Lage des Falles allenfalls erforderliches sonderpädagogisches Gutachten und mit Zustimmung der Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten des Kindes ein schulpsychologisches Gutachten einzuholen ... Der Bezirksschulrat hat die eingeholten Gutachten und das Ergebnis der Beobachtung des Kindes seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

Nach Art. II Abs. 2 lit. a Z. 8 EGVG ist auf das Verfahren der Landes- und Bezirksschulbehörden das AVG anzuwenden. Nach § 45 Abs. 3 AVG ist den Parteien Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis der Beweisaufnahme Kenntnis und dazu Stellung zu nehmen. Auf Grund dieser Bestimmung wäre die belangte Behörde verpflichtet gewesen, das von ihr gemäß § 8 Abs. 2 Schulpflichtgesetz 1985 eingeholte schulpsychologische Gutachten dem Beschwerdeführer zur Kenntnis zu bringen und ihm Gelegenheit zu geben, hiezu Stellung zu nehmen. Im Beschwerdefall war zwar der Beschwerdeführer bei der Befunderhebung durch den schulpsychologischen Dienst des Landesschulrates für Niederösterreich am 10. Juni 1992 anwesend, das mit 14. Juli 1992 datierte schulpsychologische Gutachten wurde ihm jedoch nach der Aktenlage nicht zur Kenntnis gebracht. Gemäß § 45 Abs. 3 AVG ist der Partei jedoch die Möglichkeit einzuräumen, vom Ergebnis der Beweisaufnahme bzw. vom Abschluß des Ermittlungsverfahrens nicht nur Kenntnis, sondern dazu auch Stellung zu nehmen, wobei alle Feststellungen des Ermittlungsverfahrens, welche von der Behörde bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden, den Parteien von Amts wegen unter Angabe der Beweismittel zur Kenntnis zu bringen sind; auch Sachverständigenäußerungen, sofern sie Niederschlag in der Entscheidung finden, unterliegen dem Parteiengehör (vgl. z. B. das hg. Erkenntnis vom 22. März 1991, Zl. 90/10/0088).

Dadurch, daß die belangte Behörde das von ihr eingeholte und als Beweismittel ihrem Bescheid zugrundegelegte schulpsychologische Gutachten dem Beschwerdeführer nicht in einer dem § 45 Abs. 3 AVG entsprechenden Weise zur Kenntnis gebracht hat, hat sie Verfahrensvorschriften verletzt, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können.

Im übrigen wäre das schulpsychologische Gutachten - jedenfalls als einziges dem angefochtenen Bescheid zugrundegelegtes Beweismittel - nicht ausreichend, Feststellungen, ob das Kind der Förderung durch die beantragte Art der Sonderschule bedarf (§ 8 Abs. 2 Schulpflichtgesetz 1985) zu treffen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 19. Dezember 1988, Zl. 88/10/0172).

2.2. Der Beschwerdeführer vertritt die Meinung, seine Tochter sei nicht physisch oder psychisch behindert; auch der angefochtene Bescheid enthalte keinerlei Feststellungen in Richtung einer derartigen Behinderung.

Gemäß § 8 Abs. 1 Schulpflichtgesetz bilden Feststellungen über das Vorliegen einer physischen oder psychischen Behinderung jedenfalls eine der wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen für die Entscheidung über die Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht eines Kindes in einer Sonderschule oder Sonderschulklasse.

Es wäre demzufolge Sache der Behörde gewesen, eindeutige Feststellungen hinsichtlich der entscheidungswesentlichen Frage, ob eine Behinderung im Sinne des § 8 Abs. 1 Schulpflichtgesetz vorgelegen ist, zu treffen. Der angefochtene Bescheid läßt jedoch jede Auseinandersetzung mit diesem Fragenkreis vermissen.

Demnach ist der dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegende Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt ergänzungsbedürftig geblieben.

2.3. Zutreffend wird in der Beschwerde überdies auch die "Unvollständigkeit der Begründung" des angefochtenen Bescheides gerügt.

Die Begründung des angefochtenen Bescheides erschöpft sich in dem Hinweis auf die Untersuchung durch den Leiter des schulpsychologischen Dienstes, in deren Rahmen das Unvermögen, dem Unterricht in der Hauptschule zu folgen, festgestellt worden sei, sowie darauf, daß das Lernziel der ersten Klasse Hauptschule nicht erreicht worden sei und die Schülerin daher einer Förderung in der allgemeinen Sonderschule bedürfe. Die sich aus § 58 Abs. 2 und § 60 AVG ergebenden Begründungserfordernisse eines Bescheides schließen unter anderem auch die Verpflichtung der Behörde mit ein, in der Begründung in eindeutiger, einer nachprüfenden Kontrolle zugänglichen Weise aufzuzeigen, von welchen konkreten Sachverhaltsannahmen sie bei ihrem Bescheid ausgegangen ist und worauf sich die getroffene Tatsachenfeststellung im einzelnen stützt (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. April 1991, Zl. 89/09/0167). Da im vorliegenden Fall (siehe Punkt 2.2.) die belangte Behörde nicht alle erforderlichen entscheidungswesentlichen Feststellungen getroffen hat und die getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, den von der belangten Behörde gezogenen Schluß, "die Schülerin bedarf einer Förderung in der allgemeinen Sonderschule", nachvollziehbar zu begründen, ist der Verwaltungsgerichtshof gehindert, seiner Rechtskontrollaufgabe gemäß § 41 Abs. 1 VwGG insoweit zu entsprechen, als derartige Bescheide keine inhaltliche Überprüfung "auf Grund des von der Behörde angenommenen Sachverhaltes" zulassen (vgl. das soeben zitierte Erkenntnis).

Die Nachholung einer Begründung (wenn auch nur zum Teil) in der Gegenschrift vermag den dem angefochtenen Bescheid anhaftenden Begründungsmangel nicht zu heilen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 24. November 1989, Zl. 87/17/0146).

2.4. Aus diesen Erwägungen folgt, daß der maßgebende Sachverhalt in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig geblieben ist und Verfahrensvorschriften außer acht gelassen worden sind, bei deren Einhaltung die belangte Behörde zu einem anderen Bescheid hätte kommen können.

Der angefochtene Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

2.6. Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse dieses Gerichtshofes nicht veröffentlicht sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.

Schlagworte

Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher VerfahrensmangelParteiengehör Erhebungen ErmittlungsverfahrenParteiengehör Verletzung des Parteiengehörs VerfahrensmangelBeweismittel SachverständigengutachtenParteiengehör Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1993:1992100376.X00

Im RIS seit

20.11.2000

Zuletzt aktualisiert am

29.04.2009
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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