Index
10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §55Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie den Hofrat Dr. Schwarz als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revisionen 1. der G U, 2. des B B, 3. der M B und 4. der E B, alle in W, alle vertreten durch Mag. Jakob Mahringer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Dominikanerbastei 22/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. September 2020, 1. W168 2234123-1/2E, 2. W168 2234119-1/2E, 3. W168 2234122-1/2E und 4. W168 2234121-1/2E, betreffend jeweils Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der erstrevisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von 1.346,40 Euro und der zweit-, dritt- und viertrevisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von jeweils 240,00 Euro binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind mongolische Staatsangehörige. Die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien sind die Eltern der 2012 bzw. 2015 in Österreich geborenen dritt- und viertrevisionswerbenden Parteien.
2 Mit Bescheiden jeweils vom 6. Juli 2020 wies die belangte Behörde die Anträge der revisionswerbenden Parteien jeweils auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erließ gegen die revisionswerbenden Parteien jeweils Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkt II.) und stellte jeweils fest, dass die Abschiebung in die Mongolei zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters setzte die belangte Behörde die Frist für die freiwillige Ausreise mit jeweils 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).
3 Die revisionswerbenden Parteien erhoben dagegen Beschwerden, in denen sie mit näherer Begründung vorbrachten, dass die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid eine umfassende Auseinandersetzung mit ihren persönlichen Umständen unterlassen und eine unrichtige rechtliche Beurteilung zu ihren Lasten vorgenommen habe. Sie wiesen darauf hin, dass in ihrem Fall vielmehr von „einer sehr guten, geradezu außergewöhnlichen Integration“ in Österreich auszugehen sei, und beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
4 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies mit dem angefochtenen Erkenntnis diese Beschwerden - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - jeweils als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).
5 Begründend führte das BVwG - zusammengefasst - aus, die revisionswerbenden Parteien hielten sich nach ihrer Einreise 2010 bzw. 2011 fast 10 Jahre durchgehend im Bundesgebiet auf, der Aufenthalt der erstrevisionswerbenden Partei sei jedoch seit dem 10. Jänner 2019, jener der zweitrevisionswerbenden Partei seit dem 26. April 2019 illegal.
6 Der Erstrevisionswerberin sei nach ihrer Einreise 2010 als „Au Pair“ ausschließlich zum Zwecke des Studiums in Österreich ein befristetes Aufenthaltsrecht gewährt worden. Sie habe jedoch keinen entsprechenden Studienerfolg vorweisen können. Die Erstrevisionswerberin besitze ein Sprachdiplom B2 und habe einen Deutschkurs auf dem Niveau C1 besucht. Sie nehme regelmäßig an Gottesdiensten der Baptistengemeinde teil. Die Erstrevisionswerberin sei im Bundesgebiet bereits in näher angeführten Zeiträumen geringfügig beschäftigt gewesen und habe einen Arbeitsvorvertrag über eine Beschäftigung als Kellnerin vorgewiesen.
7 Der Zweitrevisionswerber habe an einem Kolleg einen Aufbaulehrgang für Bautechnik mit Schwerpunkt Tiefbau sowie Hochbau absolviert und sei im Bundesgebiet bereits mehrere Jahre geringfügig beschäftigt gewesen. Er habe eine Deutschprüfung auf dem Niveau B2 absolviert und einen Arbeitsvorvertrag über eine Beschäftigung als Techniker für Mobilfunk vorgewiesen. Der Zweitrevisionswerber habe das Bachelorstudium Geographie inskribiert. Er sei Mitglied der Baptistengemeinde und des Samariterbundes.
8 Die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien hätten in der Mongolei, wo noch näher bezeichnete Angehörige lebten, ihre gesamte Schulausbildung sowie universitäre Ausbildung absolviert und sprächen eine der Landessprachen als Muttersprache. Die Töchter (die Dritt- und Viertrevisionswerberinnen) seien zwar in Österreich aufgewachsen, wo sie die Schule bzw. den Kindergarten besuchten, befänden sich jedoch in einem anpassungsfähigen Alter. Auch in Hinblick auf das Kindeswohl sei es den revisionswerbenden Parteien faktisch möglich und zumutbar, ihr Familienleben in der Mongolei fortzusetzen.
9 Da die Bindung der revisionswerbenden Parteien zum Herkunftsland überwiege, könne nicht erkannt werden, dass sich die Rückkehrentscheidung zum Entscheidungszeitpunkt im Hinblick auf Art. 8 EMRK als unzulässig erweise.
10 Der Sachverhalt erscheine nach der Aktenlage in Verbindung mit den Beschwerden geklärt. Eine mündliche Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) unterbleiben können.
11 Die revisionswerbenden Parteien erhoben gegen diese Entscheidung zunächst Beschwerden vor dem Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte mit Beschluss vom 24. November 2020, E 3869-3872/2020-5, deren Behandlung ab und trat die Beschwerden dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
12 Die revisionswerbenden Parteien erhoben in der Folge die vorliegenden Revisionen. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Verbindung der Revisionen zur gemeinsamen Entscheidung in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
14 Die Revisionen bringen zu ihrer Zulässigkeit übereinstimmend u.a. vor, das BVwG hätte nach § 21 Abs. 7 BFA-VG die von den revisionswerbenden Parteien beantragte mündliche Verhandlung durchführen müssen, weil diese in ihren Beschwerden auf ihren großen Bekannten- und Freundeskreis in Österreich, ihr soziales Engagement und ihre aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in Österreich hingewiesen und dabei auf mehrere Schreiben namentlich angeführter Personen bzw. Einrichtungen sowie eine Unterschriftenliste Bezug genommen hätten, die sie bereits der belangten Behörde vorgelegt hätten. Sowohl die belangte Behörde als auch das BVwG habe jedoch den Inhalt dieser Schreiben mit Stillschweigen und ohne jede Begründung übergangen. Das BVwG wäre auch im Hinblick auf die über elfjährige Aufenthaltsdauer der erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien und aufgrund des Umstandes, dass beide Töchter in Österreich geboren und aufgewachsen seien, verpflichtet gewesen, sich einen persönlichen Eindruck in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände zu verschaffen. Darüber hinaus wäre schon aufgrund der langen Aufenthaltsdauer der - im Übrigen unbescholtenen - revisionswerbenden Parteien bei der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK nach näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis u.a. auf VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0132; 18.3.2014, 2013/22/0129) von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen gewesen.
15 Bereits mit diesem Vorbringen erweisen sich die Revisionen als zulässig. Sie sind auch begründet.
16 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht (vgl. zu den Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018).
17 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es grundsätzlich Aufgabe des BVwG, sich vor Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Rahmen einer mündlichen Verhandlung selbst einen persönlichen Eindruck vom Fremden zu verschaffen, sofern nicht ausnahmsweise ein eindeutiger Fall gegeben ist (vgl. etwa VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0247, mwN; 22.2.2022, Ra 2021/21/0308, mwN).
18 Die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich kann nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden. Der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks kommt in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zu (vgl. VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0195, mwN). Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. etwa VwGH 9.9.2021, Ra 2020/22/0193 bis 0196, mwN).
19 Die revisionswerbenden Parteien erstatteten in ihren Beschwerden unter Hinweis auf bereits der belangten Behörde vorgelegten und von dieser nicht gewürdigten Unterlagen (etwa Bestätigungen von Privatpersonen, des Kindergartens und der Baptistengemeinde) ein substanziiertes Vorbringen im Hinblick auf eine Ergänzungsbedürftigkeit des von der belangte Behörde festgestellten Sachverhalts in Bezug auf den Grad der Integration (vgl. § 9 Abs. 2 Z 4 BFA-VG) der revisionswerbenden Parteien.
20 Bereits daraus ergibt sich, dass in der gegenständlichen Konstellation kein „eindeutiger Fall“ vorliegt, der es dem BVwG ausnahmsweise erlaubt hätte, von der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung abzusehen. Das BVwG hätte sich vielmehr im Zuge der beantragten Beschwerdeverhandlung auch einen persönlichen Eindruck von den revisionswerbenden Parteien verschaffen müssen, ehe es allenfalls zu der Beurteilung gelangen durfte, die gebotene Interessenabwägung habe zu Lasten der revisionswerbenden Parteien auszugehen (vgl. dazu etwa VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0100, mwN).
21 Darüber hinaus haben die revisionswerbenden Parteien bereits in ihren Beschwerden vorgebracht, dass die beiden 2012 bzw. 2015 in Österreich geborenen und aufgewachsenen Töchter der erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien (die Dritt- und Viertrevisionswerberinnen) ausschließlich in Österreich über persönliche Bindungen verfügten. Die Töchter seien auch in der deutschen Sprache erzogen worden.
22 Das BVwG hat zwar insoweit zutreffend die grundsätzliche Anpassungsfähigkeit der beiden minderjährigen Töchter angenommen, dabei aber nicht berücksichtigt, dass es sich dabei nur um einen von mehreren Aspekten handelt, der bei der erforderlichen Berücksichtigung des Kindeswohls im Rahmen der unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Interessenabwägung in Betracht zu ziehen ist (vgl. VwGH 9.9.2021, Ra 2020/22/0193 bis 0196, mwN).
23 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind nämlich bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 BFA-VG „die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder“, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. dazu etwa VwGH 26.7.2022, Ra 2022/21/0093, und bezugnehmend auf die Rechtsprechung des EGMR etwa VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072, jeweils mwN).
24 Dem angefochtenen Erkenntnis lässt sich eine unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls geführte Auseinandersetzung des BVwG mit dem in der Beschwerde geltend gemachten Aspekt der ausschließlich inländischen Sozialisiation der Dritt- und Viertrevisionswerberinnen nicht entnehmen. Auch vor diesem Hintergrund ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht zu erkennen, dass hier ein eindeutiger Fall im Sinne der genannten Rechtsprechung vorläge, in dem auch bei Verschaffung eines persönlichen Eindrucks kein günstigeres Ergebnis zu erwarten wäre.
25 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
26 Für das fortzusetzende Verfahren wird überdies auf die hg. Rechtsprechung verwiesen, wonach bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen ist. Nur dann, wenn der Fremde die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, werden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach einem so langen Inlandsaufenthalt noch als verhältnismäßig angesehen (vgl. für viele VwGH 23.7.2021, Ra 2018/22/0282, mwN). Diese Judikatur zum Überwiegen der Interessen an einem Verbleib wurde vom Verwaltungsgerichtshof im Übrigen auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag. Dabei wird auf einen „stärkeren Integrationserfolg“ abgestellt, womit gemeint ist, dass zu der bloßen Länge des Aufenthalts gewisse integrationsbegründende Umstände hinzukommen müssen, die darüber hinausgehen, dass die Zeit für eine Integration nur nicht „überhaupt nicht genützt“ wurde (vgl. etwa VwGH 30.4.2021, Ra 2020/21/0357, mwN).
27 Von der Durchführung der von den revisionswerbenden Parteien beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
28 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Da die vier revisionswerbenden Parteien ein einziges Erkenntnis in vier getrennten Revisionen angefochten haben, die alle durch denselben Rechtsanwalt eingebracht worden sind, ist Aufwandersatz gemäß § 53 Abs. 2 iVm Abs. 1 VwGG nur der erstrevisionswerbenden Partei zu zahlen. Die Gebühr nach § 24a VwGG ist aber allen revisionswerbenden Parteien zuzusprechen (vgl. VwGH 25.9.2019, Ra 2019/09/0113, 0114, mwN).
Wien, am 25. November 2022
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021170026.L00Im RIS seit
24.01.2023Zuletzt aktualisiert am
24.01.2023