Index
E000 EU- Recht allgemeinNorm
AHG 1949 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick, die Hofrätinnen Dr. Pollak, Mag. Hainz-Sator und MMag. Ginthör sowie den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über den auf § 11 Abs. 1 Amtshaftungsgesetz gestützten Antrag des Landesgerichts Leoben vom 26. Jänner 2022, 8 Cg 6/21z-14, auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Bescheide (Straferkenntnisse) der Bezirkshauptmannschaft Murtal jeweils vom 5. Mai 2017, BH MT-15.1-2508/2016, BH MT-15.1-2509/2016, BH MT-15.1-2510/2016 sowie BH MT-15.1-2511/2016, alle betreffend Bestrafung nach dem AVRAG (weitere Parteien: 1. A AG in G, vertreten durch die Oberhammer Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Karlsplatz 3/1, 2. Bund, vertreten durch die Finanzprokuratur in 1010 Wien, Singerstraße 17-19, und 3. Bezirkshauptmannschaft Murtal in 8750 Judenburg, Kapellenweg 11), zu Recht erkannt:
Spruch
Gemäß § 67 VwGG wird die Rechtswidrigkeit der Bescheide der Bezirkshauptmannschaft Murtal jeweils vom 5. Mai 2017, BH MT-15.1-2508/2016, BH MT-15.1-2509/2016, BH MT-15.1-2510/2016 sowie BH MT-15.1-2511/2016, festgestellt.
Die in diesem Verfahren erwachsenen Kosten der Parteien sind Kosten des Rechtsstreits vor dem antragstellenden Gericht.
Begründung
I.1. Verwaltungsstrafverfahren:
1 Eingangs ist zwecks Vermeidung von Wiederholungen zur näheren Vorgeschichte auf den hg. Beschluss vom 4. Februar 2019, Ra 2018/11/0106, sowie auf das hg. Erkenntnis vom 10. Juni 2022, Fe 2022/09/0001, zu verweisen (siehe auch EuGH 12.9.2019, Maksimovic u.a., C-64/18 u.a.; VfGH 25.9.2021, A 3/2021).
2 Mit den gegenständlichen Straferkenntnissen jeweils vom 5. Mai 2017 erkannte die Bezirkshauptmannschaft Murtal (in der Folge: Behörde) die vier Vorstandsmitglieder der klagenden Partei bzw. deren Rechtsvorgängerin (in der Folge: klagende Partei) schuldig, sie hätten es als im Sinn des § 9 VStG nach außen zur Vertretung berufene Organe der klagenden Partei zu verantworten, dass für der klagenden Partei als inländischer Beschäftigerin durch die Firma Br mit Sitz in Kroatien grenzüberschreitend überlassene insgesamt 217 Arbeitnehmer kroatischer, serbischer, slowenischer, slowakischer, bosnisch-herzegowinischer und unbekannter Staatsangehörigkeit mit im Einzelnen angeführten Beschäftigungszeiträumen ab September 2015 bei Erhebungen durch Organe der Finanzpolizei an dem im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Behörde gelegenen Arbeitseinsatzort entgegen § 7a Abs. 4 Z 3 iVm. § 7d Abs. 2 Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG) die erforderlichen Lohnunterlagen nicht bereitgestellt werden konnten. Gestützt auf § 7i Abs. 4 AVRAG wurde pro Arbeitnehmer eine Geldstrafe von € 12.000,-- (Ersatzfreiheitsstrafe jeweils acht Tage) verhängt. Ferner wurden die Verfahrenskosten (§ 64 Abs. 2 VStG) mit insgesamt € 260.400,-- bestimmt und betreffend die klagende Partei ein Haftungsausspruch gemäß § 9 Abs. 7 VStG getroffen.
3 Nach Wiedergabe des Inhalts der von der Finanzpolizei und den Beschuldigten im Verwaltungsstrafverfahren erstatteten Schriftsätze führte die Behörde jeweils Folgendes aus (Schreibweise und Hervorhebungen im Original, Anonymisierung durch den Verwaltungsgerichtshof):
„Festgehalten wird, dass auf die Einvernahme von den vom Beschuldigtenvertreter beantragten Zeugen nach Ansicht der erkennenden Behörde verzichtet werden konnte, da es sich bei der gegenständlichen Problematik um ein rechtliches und nicht um ein tatsächliches Problem handelt, und da weiters nicht zu erwarten war, dass die Zeugen entgegen den Ausführungen des Beschuldigten Aussagen tätigen würden, da diese durch ihre Beziehung [zur klagenden Partei] bzw./und/oder Br in einem Abhängigkeitsverhältnis in enger oder weiterer Art und Weise stehen.“
4 Anschließend legte die Behörde ihre Erwägungen wie folgt dar:
„Die Behörde hat gemäß § 45 Abs. 2 AVG unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht.
Als Beweismittel kommt dabei im Sinne des § 6 AVG alles in Betracht, was zur Feststellung des maßgebenden Sachverhalts geeignet und nach Lage des einzelnen Falles zweckdienlich ist.
Im gegenständlichen Fall stützt sich die erkennende Behörde auf die Angaben in der Anzeige der Finanzpolizei sowie auch auf das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens.
Festgestellt werden konnte:
Der Beschuldigte ist seit [...] Vorstandsmitglied der [klagenden Partei]. Die [klagende Partei] war bei gegenständlichem Bauvorhaben mit der Durchführung des Hauptauftrages beschäftigt. Am 27.09.2015, am 13.10.2015 und am 28.10.2015 führten Organe der Finanzpolizei Kontrollen des gegenständlichen Bauvorhabens durch und konnten dabei feststellen, dass die oben genannten 217 ausländischen Arbeitnehmer am Betriebsgelände der [...] Arbeiten durchführten. Dies wurde auch vonseiten des Beschuldigtenvertreters zu keiner Zeit bestritten. Auch nicht bestritten und sohin festgestellt werden kann, dass für keinen der ausländischen Arbeiter Lohnunterlagen am Arbeits-/Einsatzort bereitgehalten wurden.
Zwischen der [klagenden Partei] und der Br wurde ein schriftlicher, als „Purchase Order“ bezeichneter Vertrag geschlossen. Die Abrechnung erfolgt durch einen stündlichen Basispreis pro Einheit.
Sämtliche Arbeitsmaterialien wurden von der [klagenden Partei] zur Verfügung gestellt. Lediglich Kleinwerkzeug hatten die Mitarbeiter der Br selbst mit.
Die getroffenen Feststellungen gründen sich auf den Akteninhalt, das Vorbringen der Parteien, sowie auf die Tatsache, dass unbestritten blieb, dass für sämtliche 217 Arbeitnehmer keinerlei Lohnunterlagen am Arbeits-/Einsatzort bereitgehalten wurden.
Rechtliche Beurteilung:
Die einschlägigen Bestimmungen des AVRAG und AÜG lauten in ihrer zur Tatzeit maßgeblichen Fassung auszugsweise wie folgt:
[...]
Zur Frage, ob ein Werkvertrag oder eine Arbeitskräfteüberlassung vorgelegen ist:
Die erkennende Behörde kommt auf Grundlage des erhobenen Sachverhaltes zum Ergebnis, dass von einer grenzüberschreitenden Arbeitskräfteüberlassung auszugehen ist. Dies aus folgenden Gründen:
[...]
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt bei der Erfüllung auch nur eines der in § 4 Abs. 2 Ziffer 1 bis 4 AÜG genannten Tatbestandsmerkmale jedenfalls dem wirtschaftlichen Gehalt nach, Arbeitskräfteüberlassung im Sinne des § 3 Abs. 1 AÜG durch den Werkunternehmer als Überlasser im Sinne des § 3 Abs. 2 AÜG (der insofern die überlassenen Arbeitskräfte mittelbar zur Arbeitsleistung an den Beschäftiger verpflichtet) an den Werkbesteller als Beschäftiger im Sinne des § 3 Abs. 3 AÜG vor. Selbst im Fall zivilrechtlich als Werkvertrag einzustufender Vereinbarungen (und einer ihnen entsprechenden Vertragsabwicklung zwischen Unternehmen und Subunternehmen liegt demnach eine Arbeitskräfteüberlassung vor, wenn eine der Ziffern des § 4 Abs. 2 AÜG anwendbar ist. Einer Gesamtbetrachtung des Sachverhaltes im Sinne des § 4 Abs. 1 AÜG bedarf es nur, wenn der Tatbestand keiner der 4 Ziffern des § 4 Abs. 2 AÜG (in Verbindung mit dem Einleitungssatz dieser Bestimmung) zur Gänze erfüllt ist [...]. Maßgeblich für die Beurteilung, ob eine Arbeitskräfteüberlassung vorliegt, ist die Beurteilung sämtlicher für und gegen ein arbeitnehmerähnliches Verhältnis im konkreten Fall sprechender Umstände, die nicht isoliert voneinander gesehen werden dürfen, sondern in einer Gesamtbetrachtung nach Zahl, Stärke und Gewicht zu bewerten sind [...].
Das Beweisverfahren hat jedoch - zusammenfassend - gezeigt, dass im gegenständlichen Verfahren nicht von einem „echten“ Werkvertrag gesprochen werden kann, sondern eine grenzüberschreitende Überlassung von Arbeitskräften vorliegt. Dies aus folgenden Gründen:
Sämtliche Arbeiter der, der Br nachgestellten, ausländischen Unternehmen (Subunternehmen) sind gesamtheitlich der Br zuzurechnen, da die Arbeitnehmer dieser Firmen vor Ort - also am Arbeitsort - in den betrieblichen Kontext der Firma Br eingegliedert waren. Es liegt also diesbezüglich eine bereits vorher im Ausland stattgefundene Arbeitskräfteüberlassung vor, wodurch das grenzüberschreitende Element lediglich von der Firma Br als Überlasserin aller Arbeitnehmer an eine Beschäftigerin in Österreich ([klagende Partei]) verwirklicht wurde und somit die betreffenden Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme in Österreich bereits in die betriebliche Organisationsstruktur der Überlasserin eingegliedert wurden.
Beurteilungsmaßstab gemäß § 4 AÜG:
Arbeitskräfte erbringen ihre Arbeitsleistung im Betrieb des Werkbestellers: Die Arbeitskräfte der Firma Br erbringen ihre Arbeitsleistungen (Schweißer- und Schlosserarbeiten) im Betrieb des Werkbestellers ([klagende Partei]), die wiederum das Gesamtwerk „Laugenkessel II“ im Betrieb ihres Auftraggebers [...] erbringt.
Herstellung eines unterscheidbaren Werkes (§ 4 Abs. 2 Ziffer 1 AÜG):
[...]
Die Arbeitnehmer der Br bauen die von der [klagenden Partei] vorgefertigten Rohrteile (Rohrsystem) zusammen und montieren diese ins Gesamtwerk der Firma A AG.
Diese Teile werden entweder direkt im Gesamtwerk montiert oder in einer der drei Vorfertigungshallen vorgefertigt (zusammengeschweißt oder zusammengeschraubt). Die Br wirkt an der Herstellung des Gesamtwerkes der [klagenden Partei] in Form von Schweißer- und Schlosserarbeiten mit. Ein vom Auftrag der [...] an die [klagende Partei] abweichendes Werk wird von der Br nicht hergestellt. Die Inbetriebnahme der einzelnen Bauphasen erfolgt nicht durch die Firma Br. Bei den Tätigkeiten der Br handelt es sich um einfache, manuelle Tätigkeiten bzw. um reine Hilfstätigkeiten zur Finalisierung eines „Gesamtwerkes“, insgesamt also um Hilfsarbeiten. Die laufende Qualitätskontrolle der Schweißnähte bzw. der Arbeitsleistung der Br Mitarbeiter erfolgt durch die [klagende Partei]. Auch die teilweise Isolierung der Rohre durch Drittfirmen ist ein Indiz dafür, dass die Br kein eigenständiges und abgrenzbares Werk erbringt. Zudem erfüllen die von der Br eingesetzten Arbeiter die Leistungen im Betrieb des „Werkbestellers“ [klagende Partei] und weicht das dabei erzeugte Werk nicht vom Produkt der Werkbestellerin ab. Die Arbeiten umfassen den Zusammenbau jener Rohrsysteme/Rohrteile, die die Werkbestellerin in Teilen anliefert. Die Inbetriebnahme der einzelnen Bauphasen erfolgt nicht durch die Br. Ebenso lässt die konkrete Arbeitseinteilung der Mitarbeiter der Br (immer mündlich vor Ort) durch die [klagende Partei] den Schluss zu, dass es an einer indivisualisierten und konkretisierten Leistungserbringung fehlt.
Insgesamt kann das Kriterium des § 4 Abs. 2 Z 1 AÜG als erfüllt angesehen werden.
Werkzeug und Material (§ 4 Abs. 2 Z 2 AÜG):
Nach der werkvertraglichen Normenlage kommt der Materialbeistellung für sich allein gesehen keine allzu große Bedeutung zu. Denn die Vertragsparteien können die Stoffbeistellung des ABGB beliebig regeln. Ohne vertragliche Regelung hat nach herrschender Meinung der Werkbesteller für die Stoffbeistellung zu sorgen, kann also selbst beistellen, durch Dritte liefern lassen oder aus Beständen des Werkunternehmers auswählen. Anders beim Werkzeug, dessen Beistellung als Abgrenzungskriterium Aussagekraft besitzt [...].
Die Arbeit nicht vorwiegend mit Material und Werkzeug des Werkunternehmers leisten:
Die Br als Werkunternehmerin verwendet ausschließlich das von der [klagenden Partei] stammende vorgefertigte Material. Schweißgeräte und Schweißgas werden von der Br bereitgestellt. Die Anlieferung der vorgefertigten Teile wird von der [klagenden Partei] veranlasst.
Organisatorische Eingliederung in den Betrieb des Werkbestellers und Dienst- und Fachaufsicht (§ 4 Abs. 2 Ziffer 3 AÜG):
Ein Vergleich der Tätigkeiten der Mitarbeiter der Br mit dem Stammpersonal der [klagenden Partei] ist nicht möglich, zumal die [klagende Partei] über kein Eigenpersonal verfügt.
Es herrscht jedoch eine sehr intensive Fachaufsicht seitens der [klagenden Partei] über die Br Mitarbeiter. Es finden mehrmals täglich Kontrollbesprechungen zwischen der [klagenden Partei] und dem „Zwischenvorgesetzten“ der Br statt, wobei dieser der Dienst- und Fachaufsicht der [klagenden Partei] unterliegt. Insgesamt geht das Weisungsrecht des „Werkbestellers“ über das Normalmaß weit hinaus. Der VwGH sieht eine wöchentliche Kontrolle samt Anweisung zur ordnungsgemäßen Ausführung der laufenden Arbeiten sowie Einhaltung von Terminvorgaben bereits als ausreichend, um eine Arbeitskräfteüberlassung anzunehmen.
Die Arbeitsverrichtung der Br folgt dem Baufortschritt der [klagenden Partei]. Ein Zeitplan ist im Settlement Agreement vom 21.09.2015 enthalten.
Es sind somit die Kriterien des § 4 Abs. 2 Ziffer 3 AÜG erfüllt.
Dienst- und Fachaufsicht:
Die Schichtpläne der Br werden in Form von Wochenarbeitsplänen an die [klagende Partei] übermittelt. Die Kontrolle bzw. Abnahme der Arbeitsleistung erfolgt durch die [klagende Partei] [...]. Gegenüber der [...] tritt nur die [klagende Partei] aus. Es gibt Tages- und Nachtschichten, die von der Br auch für deren ausländische Subfirmen erstellt werden. De Arbeitdauer der Schichten ist immer gleich. Die [klagende Partei] überwacht die Sicherheitsunterweisungen der Br an deren eingesetzten Arbeiter. Die Br muss eine Dokumentation ihrer Arbeiten für die Firma [klagende Partei] führen. Die [klagende Partei] fordert eine angemessene Personenzahl ein. Die [klagende Partei] weiß, dass die Br für Abdeckung von Spitzen Personal zukauft.
Haftung für den Erfolg (§ 4 Abs. 2 Ziffer 4 AÜG):
Gegenüber der [...] tritt nur die [klagende Partei] auf, nicht die Br. Im PO (Purchase of Service) selbst finden sich keine konkreten Haftungsbestimmungen, keine Regelungen betreffend Deckungsrücklass, Haftrücklass oder Gewährleistung, sondern bloß allgemeine Garantien. Es enthält auch keine Fristen, weshalb eine Haftung bei nicht zeitgemäßer Erfüllung schwer geltend gemacht werden kann.
Da insgesamt zumindest eines der oben genannten Abgrenzungsmerkmale des § 4 AÜG und weitere Merkmale zumindest teilweise als erfüllt anzusehen sind, liegt dem wahren wirtschaftlichen Gehalt nach jedenfalls Arbeitskräfteüberlassung vor.
Im gegenständlichen Fall ist die [klagende Partei] von einem Werkvertrag mit der Br ausgegangen und hat für die Arbeitnehmer die Lohnunterlagen nicht bereitgehalten.
In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass der Beschuldigte bzw. das von ihm vertretene Unternehmen als Beschäftiger im Sinne des AÜG anzusehen ist und er daher sämtliche Lohnunterlagen in deutscher Sprache bereithalten hätte müssen. [...]
Aufgrund der Tatsache, dass seitens der Br keine nach § 7d AVRAG entsprechenden Lohnunterlagen für sämtliche der eingesetzten Arbeitnehmer, zum Zeitpunkt der Kontrollen durch die Finanzpolizei an den Kontrolltagen, der inländischen Beschäftigerin, der [klagenden Partei], bereitgestellt wurden, sowie aufgrund der Tatsache, dass seitens der [klagenden Partei] als Beschäftigerin die Beschäftigungsaufnahme der Br in Österreich am gegenständlichen Arbeits-/Einsatzort nicht untersagt wurde, war spruchgemäß zu entscheiden.
Das Vorbringen des Rechtsvertreters, dass keine Aufforderung an Verantwortliche der [klagenden Partei] zur Übermittlung von Lohnunterlagen stattgefunden hat und daher die Nichtvorlage bzw. die Nichtbereithaltung seitens der [klagenden Partei] keine Verwaltungsübertretung nach sich ziehen kann, geht ins Leere. Der Rechtvertreter vermischt hier die Tatbestände der ‚Nichtvorlage‘ bzw. Übermittlung und der ‚Nichtbereithaltung‘. Gegenständliches Strafverfahren betrifft lediglich die Nichtbereithaltung am Arbeits-/Einsatzort.“
5 Ferner legte die Behörde dar, aus welchen Gründen sie das zur Unzumutbarkeit der Bereithaltung von Lohnunterlagen, zu Aspekten der subjektiven Tatseite sowie zu unionsrechtlichen Gesichtspunkten erstattete Parteienvorbringen als unzutreffend erachtete. In diesem Zusammenhang führte die Behörde u.a. aus:
„Für die erkennende Behörde gilt als erwiesen bzw. ergab sich eindeutig aus der Sachverhaltsdarstellung, aus dem Akteninhalt und den Parteienangaben, dass es sich in diesem Fall um Arbeitskräfteüberlassung handelt, da alle Merkmale des AÜG erfüllt sind. Die umfangreichen Stellungnahmen, Gutachten und Vorbringen des Rechtsvertreters waren jedoch nicht geeignet, die Vorwürfe im Strafantrag zu entkräften. Großteils konnten diese lediglich als Schutzbehauptungen gewertet werden, zumal der Rechtsvertreter selbst angibt, um welch enorme Summe es sich bei der Verwaltungsstrafe handeln wird.“
6 Abschließend erfolgten Ausführungen zur Strafbemessung.
7 Diese Straferkenntnisse ergingen gleichlautend an die vier Vorstandsmitglieder der klagenden Partei.
8 Gegen diese Straferkenntnisse erhoben die Bestraften Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Steiermark, das mit Erkenntnissen vom 8. Oktober 2019 die gegenständlichen Straferkenntnisse der Behörde vom 5. Mai 2017 behob und die Verwaltungsstrafverfahren hinsichtlich aller Spruchpunkte gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG iVm § 38 VwGVG einstellte.
9 Gegen diese Erkenntnisse des Landesverwaltungsgerichts Steiermark wurden keine Revisionen an den Verwaltungsgerichtshof erhoben.
I.2. Amtshaftungsverfahren:
10 Mit der beim Landesgericht Leoben zu 8 Cg 6/21z anhängigen Klage begehrt die klagende Partei aus dem Titel der Amtshaftung von der Republik Österreich (Bund) (beklagte Partei) € 710.153,78 samt Zinsen. In dem geltend gemachten Anspruch sind u.a. die der klagenden Partei nach ihrem Vorbringen in den oben dargestellten Verwaltungsstrafverfahren nach dem AVRAG erwachsenen Vertretungskosten enthalten.
11 Mit Beschluss vom 22. Dezember 2021 unterbrach das Landesgericht Leoben sein Verfahren gemäß § 11 Abs. 1 AHG bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit u.a. der hier gegenständlichen Bescheide (Straferkenntnisse) der Bezirkshauptmannschaft Murtal.
12 Nach Rechtskraft dieses Beschlusses stellte das Landesgericht Leoben unter Vorlage seines Gerichtsakts samt Beilagen beim Verwaltungsgerichtshof den hier behandelten Antrag vom 26. Jänner 2022, 8 Cg 6/21z-14, auf Feststellung der Rechtswidrigkeit u.a. der oben angeführten Bescheide betreffend Bestrafungen nach dem AVRAG (soweit mit dem Antrag auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Bescheide der Behörde über Bestrafungen nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz begehrt wurde, wurde darüber von dem dafür zuständigen Senat des Verwaltungsgerichtshofes mit hg. Erkenntnis vom 10. Juni 2022, Fe 2022/09/0001, entschieden).
13 Nach Darstellung des Verfahrensgangs und des Parteienvorbringens führte das Amtshaftungsgericht aus, die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sei von der Frage der Rechtswidrigkeit der gegenständlichen Bescheide abhängig.
14 Seine Ansicht, dass die in Rede stehenden Straferkenntnisse rechtswidrig seien, begründet das Landesgericht insbesondere damit, dass die Behörde in keinem der Verfahren einen einzigen der von den Beschuldigten beantragten Zeugen einvernommen und dies damit argumentiert habe, dass nicht zu erwarten gewesen sei, dass diese Personen entgegen den Ausführungen der Beschuldigten aussagen würden, weil sie durch ihre Beziehungen zur klagenden Partei bzw./und/oder Br in engerer oder weiterer Art und Weise mit diesen in einem Abhängigkeitsverhältnis stünden. Damit habe - so das Amtshaftungsgericht weiter - die Behörde bereits die Beweiswürdigung vorweggenommen und den Zeugen vorweg pauschal ein strafrechtlich relevantes Verhalten, nämlich eine falsche Zeugenaussage nach § 289 StGB, unterstellt. Damit schienen elementare Verfahrensgrundsätze verletzt zu sein. Die Beweiswürdigung mute geradezu willkürlich an, und es lasse sich die Begründung der Straferkenntnisse nicht schlüssig prüfen. Da über diese Entscheidungen der Behörde noch kein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vorliege, werde gemäß § 11 Abs. 1 AHG die Feststellung der Rechtswidrigkeit beantragt.
15 In dem vom Verwaltungsgerichtshof gemäß § 65 Abs. 3 VwGG sowie §§ 36 und 70 VwGG durchgeführten Vorverfahren legte die Behörde die Verwaltungsakten vor; die klagende und die beklagte Partei des Amtshaftungsverfahrens sowie die Behörde erstatteten Äußerungen.
II. Der Verwaltungsgerichtshof hat über den Antrag erwogen:
II.1. Formales:
16 Ist die Entscheidung eines Rechtsstreits von der Frage der Rechtswidrigkeit des Bescheids einer Verwaltungsbehörde abhängig, über die noch kein Erkenntnis des Verfassungs- oder des Verwaltungsgerichtshofes vorliegt, und hält das Gericht den Bescheid für rechtswidrig, so hat es gemäß § 11 Abs. 1 AHG, sofern die Klage nicht gemäß § 2 Abs. 2 leg. cit. abzuweisen ist, das Verfahren zu unterbrechen und vom Verwaltungsgerichtshof mit Antrag nach Art. 133 Abs. 2 B-VG die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheides zu begehren. Nach Einlangen des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes hat das Gericht das Verfahren fortzusetzen und den Rechtsstreit unter Bindung an die Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes zu entscheiden.
17 Die dazu ergangene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wurde bereits auf die seit Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 (ab 1. Jänner 2014) geltende Rechtslage übertragen. Insbesondere stellt der Umstand, dass ein Bescheid nunmehr infolge Aufhebung bzw. Abänderung durch ein Verwaltungsgericht nicht mehr dem Rechtsbestand angehört, kein Hindernis für die Antragstellung durch ein ordentliches Gericht dar. Die Entscheidung über einen Antrag nach § 11 AHG iVm. § 67 VwGG setzt nämlich nicht voraus, dass der vom Verwaltungsgerichtshof zu überprüfende Bescheid überhaupt bzw. in seiner ursprünglichen Form weiterhin dem Rechtsbestand angehört, zumal die Feststellung des Verwaltungsgerichtshofes auch dann noch Bedeutung haben kann, wenn der Bescheid infolge nachträglicher Aufhebung nicht mehr dem Rechtsbestand angehört (vgl. zum Ganzen ausführlich VwGH 13.9.2016, Fe 2016/01/0001 [VwSlg. 19.448 2016/A]; 13.2.2020, Fe 2019/01/0001, je mwN).
18 Dem Verwaltungsgerichtshof kommt jedoch keine Überprüfungsbefugnis dahingehend zu, ob die Frage, die Entscheidung des Amtshaftungsprozesses sei von der Rechtswidrigkeit des zu überprüfenden Bescheides abhängig, vom Amtshaftungsgericht richtig oder unrichtig beurteilt wurde (VwGH 25.5.2005, 2002/09/0165, mwN), weshalb die Ausführungen der Behörde zur Frage der fehlenden Kausalität der Bescheide für den geltend gemachten Schaden hier unbeachtlich sind. Auch die von der beklagten Partei in ihrem Schriftsatz angesprochene Verjährungsproblematik oder die ebenso von der Behörde hervorgehobene Vertretbarkeit einer unrichtigen Entscheidung sind nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof. Für die gegenständliche Entscheidung ist weder ausschlaggebend, ob das Ergebnis „vertretbar“, die Verfahrensführung „grob mangelhaft“ war oder ob eine „rechtlich vertretbare Auslegung“ gefunden wurde, worauf die Behörde in ihrer Stellungnahme abstellt. Der Verwaltungsgerichtshof hat zu entscheiden, ob die vom Amtshaftungsgericht bezeichneten Bescheide rechtswidrig waren. Die Frage des Verschuldens (im Sinn einer Unvertretbarkeit) ist vom Amtshaftungsgericht in seinem Verfahren zu beurteilen.
19 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach der - gemäß § 70 VwGG auch im Verfahren über Feststellungsanträge in Amtshaftungssachen - anzuwendenden Bestimmung des § 41 VwGG die zu überprüfende Entscheidung - soweit nicht Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit oder infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt - auf Grund des in dieser angenommenen Sachverhalts zu überprüfen. Dazu hat das Amtshaftungsgericht nach § 65 Abs. 2 VwGG den Bescheid und allenfalls die Punkte zu bezeichnen, deren Überprüfung es verlangt.
20 Der vorliegende Antrag erweist sich als zulässig. Er ist auch begründet.
II.2. In der Sache:
21 Die maßgeblichen Bestimmungen des AVRAG, BGBl. Nr. 459/1993 in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 94/2014, lauteten:
„Verpflichtung zur Bereithaltung von Lohnunterlagen
§ 7d. (1) Arbeitgeber/innen im Sinne der §§ 7, 7a Abs. 1 oder 7b Abs. 1 und 9 haben während des Zeitraums der Entsendung insgesamt (§ 7b Abs. 4 Z 6) den Arbeitsvertrag oder Dienstzettel (§ 7b Abs. 1 Z 4), Lohnzettel, Lohnzahlungsnachweise oder Banküberweisungsbelege, Lohnaufzeichnungen, Arbeitszeitaufzeichnungen und Unterlagen betreffend die Lohneinstufung zur Überprüfung des dem/der entsandten Arbeitnehmers/in für die Dauer der Beschäftigung nach den österreichischen Rechtsvorschriften gebührenden Entgelts in deutscher Sprache am Arbeits(Einsatz)ort bereitzuhalten, auch wenn die Beschäftigung des/der einzelnen Arbeitnehmers/in in Österreich früher geendet hat. Bei innerhalb eines Arbeitstages wechselnden Arbeits(Einsatz)orten sind die Lohnunterlagen am ersten Arbeits(Einsatz)ort bereitzuhalten. Ist die Bereithaltung der Unterlagen am Arbeits(Einsatz)ort nicht zumutbar, sind die Unterlagen jedenfalls im Inland bereitzuhalten und der Abgabenbehörde auf Aufforderung nachweislich zu übermitteln, wobei die Unterlagen bis zum Ablauf des der Aufforderung zweitfolgenden Werktags abzusenden sind. Für die Übermittlung gebührt kein Ersatz der Aufwendungen.
(2) Bei einer grenzüberschreitenden Arbeitskräfteüberlassung trifft die Verpflichtung zur Bereithaltung der Lohnunterlagen den/die inländische/n Beschäftiger/in. Der/Die Überlasser/in hat dem/der Beschäftiger/in die Unterlagen nachweislich bereitzustellen.
...
Strafbestimmungen
§ 7i.
...
(4) Wer als
...
3. Beschäftiger/in im Falle einer grenzüberschreitenden Arbeitskräfteüberlassung entgegen § 7d Abs. 2 die Lohnunterlagen nicht bereithält
begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde für jede/n Arbeitnehmer/in mit einer Geldstrafe von 1 000 Euro bis 10 000 Euro, im Wiederholungsfall von 2 000 Euro bis 20 000 Euro, sind mehr als drei Arbeitnehmer/innen betroffen, für jede/n Arbeitnehmer/in von 2 000 Euro bis 20 000 Euro, im Wiederholungsfall von 4 000 Euro bis 50 000 Euro zu bestrafen.
...
(9) Bei grenzüberschreitender Entsendung oder Arbeitskräfteüberlassung gilt die Verwaltungsübertretung als in dem Sprengel der Bezirksverwaltungsbehörde begangen, in dem der Arbeits(Einsatz)ort der nach Österreich entsandten oder überlassenen Arbeitnehmer/innen liegt, bei wechselnden Arbeits(Einsatz)orten am Ort der Kontrolle.
...“
22 Das Arbeitskräfteüberlassungsgesetz, BGBl. Nr. 196/1988 (AÜG), lautete auszugsweise:
„Begriffsbestimmungen