Entscheidungsdatum
11.11.2022Norm
StVO 1960 §2 Abs1 Z19Text
Im Namen der Republik!
Erkenntnis
Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg hat durch sein Mitglied Mag. Nikolaus Brandtner über die Beschwerde des I M, FL-V, gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft F vom 01.09.2022 betreffend einer Bestrafung nach der Straßenverkehrsordnung 1960, zu Recht erkannt:
Gemäß § 50 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) wird der Beschwerde Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt.
Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG) eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof zulässig.
Begründung
1. Im angefochtenen Straferkenntnis wurde dem Beschuldigten vorgeworfen, er habe am 09.06.2022, um 21:00 Uhr, in F, Rstraße, Höhe HNr X, einen Elektrorollstuhl der Marke Comet mit einer maximalen Dauerleistung von 250 Watt und einer maximalen Geschwindigkeit von 15 km/h gelenkt. Nach Aufforderung durch ein besonders geschultes Organ der Bundespolizei habe er sich geweigert, seine Atemluft auf Alkoholgehalt untersuchen zu lassen, wobei vermutet werden habe können, dass er zum angeführten Zeitpunkt am angeführten Ort das angeführte Fahrzeug in einem vermutlich durch Alkohol beeinträchtigten Zustand gelenkt habe. Die Bezirkshauptmannschaft erblickte darin eine Übertretung des § 99 Abs 1 lit b iVm § 5 Abs 2 Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl Nr 159/1960 idF BGBl I Nr 6/2017. Es wurde eine Geldstrafe von 1.600 Euro verhängt und für den Fall ihrer Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von 14 Tagen festgesetzt.
2. Gegen dieses Straferkenntnis hat der Beschuldigte rechtzeitig Beschwerde erhoben. In dieser bringt er im Wesentlichen vor, er habe den Alkoholtest nicht abgelehnt, er habe nur nicht verstanden, was die Polizeibeamten von ihm gewollt hätten. Zudem sei die Strafe zu hoch.
3. Folgender Sachverhalt steht fest: Der Beschwerdeführer hat am 09.06.2022 einen Elektrorollstuhl der Marke Invacare, Modell Comet, am Tatort gelenkt. Da der Verdacht bestanden hat, dass der Beschwerdeführer alkoholisiert war, wurde er von Polizeibeamten zur Untersuchung der Atemluft auf Alkohol aufgefordert. Er wurde auf die rechtlichen Folgen einer Verweigerung hingewiesen. Der Beschwerdeführer antwortete auf die Aufforderung hin mit „Nein“.
Das Modell Comet der Marke Invacare ist als Mobilitätsprodukt der Klasse C (Außenbereich) gemäß EN 12184 eingestuft. Bei der EN 12184 handelt es sich um die Europäische Norm für Anforderungen und Prüfverfahren für Elektrorollstühle, einschließlich Elektromobile mit drei oder mehr Rädern, mit einer Höchstgeschwindigkeit von 15 km/h, die für die Beförderung einer Person mit einem Höchstgewicht von 300 kg bestimmt sind.
Das Mobilitätsprodukt ist 1.450 mm lang, hat eine Gesamtbreite von 630 bis 725 mm (je nach Einstellung der Armlehnen), eine Höhe von 1.255 mm, einen Wendebereich von 1.890 mm, ein Leergewicht von 136 kg, eine maximale Zuladung von 160 kg und kann eine Geschwindigkeit von 15 hm/h erreichen. Es wurde für gehbehinderte und gehunfähige Personen konzipiert. Die Räder haben einen Felgendurchmesser von 5 Zoll, das entspricht 127 mm.
4. Dieser Sachverhalt wird aufgrund der Aktenlage, insbesondere aufgrund der Anzeige vom 22.06.2022 sowie der im Behördenakt erliegenden Gebrauchsanweisungen für den Elektrorollstuhl, als erwiesen angenommen. Dieser Sachverhalt ist, soweit hier wesentlich, unstrittig.
5. Nach § 5 Abs 2 StVO, BGBl Nr 159/1960, idF BGBl I Nr 6/2017, sind ua Organe der Bundespolizei berechtigt, jederzeit die Atemluft von Personen, die ein Fahrzeug lenken oder zu lenken oder in Betrieb zu nehmen versuchen, auf Alkoholgehalt zu untersuchen.
Nach § 2 Abs 1 Z 19 StVO, BGBl Nr 159/1960, idF BGBl I Nr 37/2019, gilt im Sinne dieses Bundesgesetzes als Fahrzeug: ein zur Verwendung auf Straßen bestimmtes oder auf Straßen verwendetes Beförderungsmittel oder eine fahrbare Arbeitsmaschine, ausgenommen ua Rollstühle, Kinderwagen, Schubkarren uä, vorwiegend zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn bestimmte Kleinfahrzeuge (etwa Mini- oder Kleinroller ohne Sitzvorrichtung, mit Lenkstange, Trittbrett und mit einem äußeren Felgendurchmesser von höchstens 300 m).
§ 2 Abs 1 Z 22 StVO lautet:
„§ 2. Begriffsbestimmungen.
(1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes gilt als […]
22. Fahrrad:
a) ein Fahrzeug, das mit einer Vorrichtung zur Übertragung der menschlichen Kraft auf die Antriebsräder ausgestattet ist,
b) ein Fahrzeug nach lit. a, das zusätzlich mit einem elektrischen Antrieb gemäß § 1 Abs. 2a KFG 1967 ausgestattet ist (Elektrofahrrad),
c) ein zweirädriges Fahrzeug, das unmittelbar durch menschliche Kraft angetrieben wird (Roller), oder
d) ein elektrisch angetriebenes Fahrzeug, dessen Antrieb dem eines Elektrofahrrads im Sinne des § 1 Abs. 2a KFG 1967 entspricht;“
Im gegenständlichen Verfahren ist zunächst zu prüfen, ob die Organe der Bundespolizei gemäß § 5 Abs 2 StVO berechtigt waren, die Atemluft des Beschwerdeführers auf Alkoholgehalt zu untersuchen. Die belangte Behörde hat diesen Umstand in der Begründung des Straferkennt-nisses vor dem Hintergrund bejaht, dass es sich bei dem vom Beschwerdeführer gelenkten Elektrorollstuhl um ein Fahrrad in der Form eines elektrisch angetrieben Fahrzeuges, dessen Antrieb dem eines Elektrofahrrads iSd § 1 Abs 2a KFG 1967 entspricht, handle.
Dazu ist zunächst auszuführen, dass es sich nach dem eindeutigen Wortlaut des § 2 Abs 1 Z 22 StVO bei einem Fahrrad in jedem Fall (lit a bis d) um ein Fahrzeug iSd StVO handelt. Vor der Qualifizierung eines Objektes als Fahrrad ist folglich zu prüfen, ob es sich überhaupt um ein Fahrzeug iSd StVO handelt. Was ein Fahrzeug im Sinne der StVO ist, legt § 2 Abs 1 Z 19 StVO fest. Nicht als Fahrzeug gelten nach dieser Bestimmung ua Rollstühle, Kinderwagen, Schubkarren und ähnliche vorwiegend zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn bestimmte Kleinfahrzeuge mit einem äußeren Felgendurchmesser von höchstens 300 mm.
Es ist davon auszugehen, dass es sich bei einem – wie dem unter Punkt 3. näher beschriebenen – Elektrorollstuhl, um ein vorwiegend zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn bestimmtes Kleinfahrzeug, ähnlich einem Rollstuhl, handelt (vgl auch Pürstl, StVO-ON15, § 2 Rz 23a). Sondervorschriften, die die Anwendbarkeit des § 5 StVO für derartige Kleinfahrzeuge normieren würden, sind in der StVO nicht enthalten, weshalb der Beschwerdeführer die ihm vorgeworfene Verwaltungsübertretung nicht begangen hat. Das angefochtene Straferkenntnis ist daher aufzuheben, das Verwaltungsstrafverfahren ist einzustellen.
6. Die Revision ist zulässig, da im gegenständlichen Verfahren eine Rechtsfrage zu lösen war, der im Sinne des Art 133 Abs 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere, weil eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage fehlt, ob Elektrorollstühle wie der hier gegenständliche dem Begriff „ähnliche, vorwiegend zur Verwendung außerhalb der Fahrbahn bestimmte Kleinfahrzeuge“ zu unterstellen sind.
Schlagworte
Straßenverkehrsordnung, ElektrorollstuhlEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGVO:2022:LVwG.1.778.2022.R1Zuletzt aktualisiert am
22.11.2022