RS Vfgh 2022/6/29 V324/2021

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Veröffentlicht am 29.06.2022
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verordnung
B-VG Art139 Abs1 Z3
EMRK Art8
EMRK 1. ZP Art1
EMRK 4. ZP Art2
StGG Art2, Art4, Art5
6. COVID-19-SchutzmaßnahmenV BGBl II 537/2021 idF BGBl II 568/2021 §3 Abs1, §6 Abs1, §6 Abs3, §9 Abs2
COVID-19-MaßnahmenG §1, §3, §4, §4a, §5, §6, §7, §11, §12, §13, §14
VfGG §7 Abs1, §15 Abs2, §57 Abs1
  1. B-VG Art. 139 heute
  2. B-VG Art. 139 gültig ab 01.01.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 114/2013
  3. B-VG Art. 139 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. B-VG Art. 139 gültig von 01.01.2004 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  5. B-VG Art. 139 gültig von 30.11.1996 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 659/1996
  6. B-VG Art. 139 gültig von 01.01.1991 bis 29.11.1996 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 685/1988
  7. B-VG Art. 139 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 302/1975
  8. B-VG Art. 139 gültig von 21.07.1962 bis 30.06.1976 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 205/1962
  9. B-VG Art. 139 gültig von 19.12.1945 bis 20.07.1962 zuletzt geändert durch StGBl. Nr. 4/1945
  10. B-VG Art. 139 gültig von 03.01.1930 bis 30.06.1934
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Keine Gesetzwidrigkeit der 6.COVID-19 Schutzmaßnahmenverordnung betreffend die 2G-Vorbehalte für Kundenbereiche des Handels und von Dienstleistungsunternehmen sowie eine ganztägige Ausgangsbeschränkung für weder geimpfte noch genesene Personen; hinreichende Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen im Verordnungsakt hinsichtlich der – gesetzlich gedeckten – Ausgangregelung; keine Verletzung im Gleichheitsrecht durch die Differenzierung zwischen geimpften bzw genesenen Personen einer- und ungeimpften Personen andererseits auf Grund des deutlichen Unterschieds der Inzidenzen gemessen am Immunitätsstatus und der höheren Hospitalisierungszahlen von Personen ohne Schutzimpfung; Unerlässlichkeit der Ausgangsregelung, um einen drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung zu verhindern; Beschränkungen verhältnismäßig und im Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers; keine Verletzung im Recht auf Privatsphäre durch die Rückwirkungen der Maßnahmen auf die Impfentscheidung des Einzelnen ("indirekter Impfzwang")

Rechtssatz

Abweisung eines Individualantrags gegen §3 Abs1, §6 Abs1 und 3 und die Wortfolge "Der Betreiber von nichtöffentlichen Sportstätten darf Kunden nur einlassen, wenn diese einen 2-G-Nachweis vorweisen" in §9 Abs2 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK), mit der besondere Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung von COVID-19 getroffen werden (6. COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung - 6. COVID-19-SchuMaV) idF BGBl II 568/2021. Im Übrigen: Zurückweisung des Antrags. Der Antrag auf Aufhebung der Wortfolge "Abs1 gilt nicht für Personen, die über einen 2-G-Nachweis verfügen" in §3 Abs4 der 6. COVID-19-SchuMaV ist unzulässig, weil - abgesehen davon, dass er den Gesetzestext unrichtig wiedergibt und damit jedenfalls im Unklaren lässt, ob auch die Wort- und Zeichenfolge "Abs2" vom Aufhebungsbegehren mitumfasst ist - der verbleibende Satzteil ein unvollständiger und unverständlicher Torso wäre. Das über die zulässige Anfechtung des §3 Abs1 leg cit hinausgehende Begehren auf Aufhebung "samt Verweisungsnormen gemäß Punkt 4.2." ist mangels Bestimmtheit unzulässig, jedoch unschädlich, weil Bestimmungen, die auf eine allenfalls aufzuhebende Vorschrift verweisen, nicht mit angefochten werden müssen. Der Antrag auf Aufhebung von §7 Abs1 der 6. COVID-19-SchuMaV ist unzulässig, weil der Antragsteller seine aktuelle Betroffenheit von dieser Bestimmung - über eine abstrakte Behauptung hinaus - nicht konkret dargelegt hat. Das Erfordernis solcher Darlegungen durch den Antragsteller besteht auch dann, wenn bestimmte Annahmen im Hinblick auf die gegebene Situation naheliegen mögen.

Hinreichende aktenmäßigen Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen:

Der Verordnungsgeber hat im Verordnungsakt dargelegt, dass er die angefochtenen Maßnahmen im Einklang mit den im COVID-19-MG normierten Verfahrensregelungen erlassen sowie die im Gesetz vorgegebenen Kriterien für die Bewertung der epidemiologischen Situation angewendet hat. Er hat zudem hinreichend dargetan, auf welchen Grundlagen die Entscheidung über die Erlassung der angefochtenen Bestimmungen getroffen wurde.

Kein Widerspruch zur Verordnungsermächtigung:

Während die Ausgangsregelung des §3 der angefochtenen Verordnung auf §6 COVID-19-MG gestützt ist, ergingen §6 Abs1 und 3 sowie §9 Abs2 der Verordnung auf Grundlage von §3 COVID-19-MG. Während eine Ausgangsregelung nach §6 COVID-19-MG die Gefahr eines "drohenden Zusammenbruchs der medizinischen Versorgung" oder eine ähnlich gelagerte Notsituation voraussetzt, reicht für eine Anordnung nach §3 COVID-19-MG im Allgemeinen, dass sie zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist; doch steht auch im Hintergrund der Ermächtigungen der §§3 ff COVID-19-MG der Zweck, einem drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung oder einer ähnlich gelagerten Notsituation vorzubeugen. §1 Abs5 Z5, Abs5a und Abs5b COVID-19-MG erlaubt im Zusammenhang dieser Ermächtigungen Differenzierungen ua zwischen geimpften, genesenen, getesteten und anderen Personen nach dem Maß der epidemiologischen Gefahr.

Der VfGH hegt angesichts der dokumentierten, unterschiedlichen Hospitalisierungsraten von Personen mit bzw ohne Schutzimpfung gegen COVID-19, die im Zeitpunkt der Verordnungserlassung ein ins Gewicht fallendes Maß der Risikoreduktion durch die Schutzimpfung belegen, keine Bedenken gegen Regelungen der angefochtenen Verordnung, die nach dem Impfstatus unterscheiden. Angesichts dessen hält der VfGH die mit der 6. COVID-19-SchuMaV ergriffenen Maßnahmen auch nicht für ungeeignet, den gesetzlich vorgegebenen Zielen zu dienen, mag auch das genaue Maß des Effekts dieser Maßnahmen schwer zu bestimmen sein. Auch liegt es im Spielraum des Verordnungsgebers, zu ergreifende Maßnahmen in einer Gesamtabwägung auf bestimmte Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens wie Handels- und Dienstleistungsbetriebe, Gasthäuser, Beherbergungsbetriebe und Sportstätten zu fokussieren, mag auch die Übertragung von SARS-CoV-2 im familiären und im Arbeitsbereich besonders häufig sein. Denn die Transmission im familiären Bereich entzieht sich weitgehend einer (grundrechtskonformen) Regelung und die Erwerbsarbeit hat besondere volkswirtschaftliche wie auch individuelle Bedeutung. Ebenso liegt es noch im Spielraum des Verordnungsgebers, nur auf den (mangelnden) Impf- oder Genesenenstatus abzustellen, ohne das Alter und allfällige Vorerkrankungen von Personen zu berücksichtigen.

Soweit der Antragsteller Risiken von Impfschäden ins Treffen führt, ist ihm entgegenzuhalten, dass diese Frage im hier zu beurteilenden Zusammenhang (der Frage, ob eine differenzierende Behandlung von Personen nach ihrem Impfstatus gerechtfertigt ist) keine Bedeutung hat. Entscheidend ist hier allein, ob geimpfte Personen vom epidemiologischen Standpunkt günstigere Eigenschaften aufweisen, gleichgültig, ob sie diese Eigenschaften durch eine risikolose oder riskante - jedenfalls aber im zeitlichen Anwendungsbereich der angefochtenen Verordnung freiwillig in Anspruch genommene - medizinische Maßnahme erworben haben.

Der VfGH vermag dem Verordnungsgeber auch nicht entgegenzutreten, wenn er im Zeitpunkt der Erlassung der 6. COVID-19-SchuMaV angesichts der damals festzustellenden Hospitalisierungszahlen die Gefahr einer Notsituation prognostiziert hat, die einem drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung zumindest ähnlich gelagert ist. Zwar hat sich die Lage in weiterer Folge entspannt; auch im Zeitpunkt der Verfügung der zum Stichtag der Antragstellung maßgeblichen ersten Verlängerungsperiode der 6. COVID-19-SchuMaV (vom 22.12.2021 bis zum 30.12.2021) durch BGBl II 568/2021 war noch eine Situation gegeben, angesichts der der VfGH der verordnungserlassenden Behörde nicht entgegenzutreten vermag, wenn sie einen drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung oder eine ähnlich gelagerte Notsituation prognostiziert hat, weshalb die Voraussetzungen für eine Ausgangsregelung nach §6 COVID-19-MG gegeben waren (vgl E v 29.04.2022, V23/2022).

Keine Verletzung im Gleichheitsrecht:

Der Antragsteller wendet sich mit seinem Vorbringen der Sache nach gegen die 2G-Vorbehalte für Kundenbereiche des Handels und von Dienstleistungsunternehmen und für nichtöffentliche Sportstätten. Diese Verordnungsbestimmungen stützen sich auf §3 COVID-19-MG und setzen demnach voraus, dass diese Beschränkungen "zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich" sind. Das COVID-19-MG ermächtigt den Verordnungsgeber weiters explizit dazu, zwischen Personen zu differenzieren, von denen eine geringe epidemiologische Gefahr ausgeht (Geimpfte, Genesene, Getestete und Personen mit einem Antikörpernachweis) und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Das COVID-19-MG sieht zudem vor, dass bei Auflagen iSd §1 Abs5 Z5 COVID-19-MG - zB beim Betreten von Betriebsstätten - zwischen Personen, von denen jeweils eine geringe epidemiologische Gefahr ausgeht, nur differenziert werden darf, wenn dies auf wissenschaftlich vertretbare Unterschiede hinsichtlich der Verbreitung von COVID-19 gestützt wird. Der Gesetzgeber hat damit den Entscheidungsspielraum des Verordnungsgebers in verfassungsrechtlich (insbesondere auch gleichheitsrechtlich) nicht zu beanstandender Weise determiniert.

Die empirischen, in den Verordnungsakten dokumentierten Hospitalisierungszahlen belegen, dass Personen mit Schutzimpfung gegen COVID-19 im für die Beurteilung der angefochtenen Verordnung maßgeblichen Zeitraum erheblich seltener auf Grund einer Erkrankung an COVID-19 in Spitalspflege aufgenommen werden mussten als Personen ohne Schutzimpfung. Ferner zeigen insbesondere die in der Fachlichen Begründung enthaltenen Auswertungen der AGES zur 7-Tage-Inzidenz einen deutlichen Unterschied der Inzidenzen nach Immunitätsstatus. Demnach wiesen Personen, die keinen impfinduzierten oder natürlich erworbenen Immunschutz haben, im maßgeblichen Zeitraum eine (im Vergleich zu Geimpften bzw Genesenen) vergleichsweise deutlich höhere 7-Tage-Inzidenz in allen Altersgruppen auf. Das Vorbringen des Antragstellers, es hätten keine maßgeblichen Unterschiede zwischen Geimpften bzw Genesenen einerseits und Ungeimpften anderseits bestanden, trifft daher nicht zu.

Angesichts dieser Unterschiede im Tatsächlichen konnte der BMSGPK gemäß §1 Abs5a COVID-19-MG im Einklang mit dem Sachlichkeitsgebot des Gleichheitssatzes bei den angefochtenen Betretungsbeschränkungen in der vorgesehenen Weise zwischen geimpften bzw genesenen Personen einerseits und ungeimpften Personen anderseits differenzieren.

Keine Verletzung des Rechts auf Unversehrtheit des Eigentums:

Bei der vom Antragsteller beschriebenen Wirkung der angefochtenen Verordnung (bereits geleistete Zahlung Mitgliedsbeitrag eines Tennisclubs, ohne der Möglichkeit, die Leistungen in Anspruch zu nehmen oder den Beitrag zurückfordern zu können) um eine bloße Reflexwirkung auf die vertraglichen Beziehungen eines Sportvereinsmitgliedes zu seinem Sportverein, die noch keinen Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechtes auf Unversehrtheit des Eigentums begründet.

Keine Verletzung der Rechte auf Privatsphäre und Freizügigkeit:

Die Impfentscheidung jedes Einzelnen gründete im zeitlichen Anwendungsbereich der angefochtenen Verordnung auf Freiwilligkeit. Entscheidend ist daher, ob die angefochtene Ausgangsregelung bzw die angefochtenen Betretungsverbote, die schon dem Grunde nach in den Schutzbereich des Art8 EMRK eingreifen, gerechtfertigt sind. Unter dieser Voraussetzung, die - wie dargetan - vorlag, schadet es nicht, wenn die ergriffenen Maßnahmen Rückwirkungen auf die - rechtlich weiterhin freiwillige - Impfentscheidung jedes Einzelnen ("indirekten Impfzwang") haben können.

Entscheidungstexte

Schlagworte

COVID (Corona), Recht auf Freizügigkeit, Privat- und Familienleben, Verordnungserlassung, Grundlagenforschung, Verhältnismäßigkeit, Rechtspolitik, VfGH / Individualantrag, VfGH / Verhandlung, Eigentumseingriff, VfGH / Prüfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:V324.2021

Zuletzt aktualisiert am

03.11.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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