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60/02 ArbeitnehmerschutzNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Aufhebung einer Bestimmung des KinderbetreuungsgeldG betreffend die Verpflichtung zum Ersatz irrtümlich empfangener Leistungen; Rückforderung einer – nicht erkennbar – irrtümlich ausbezahlten Leistung sachlich nicht gerechtfertigt; Kinderbetreuungsgeld zielt auf Anerkennung und Abgeltung der Betreuungsleistung der Eltern ab, hinsichtlich deren Einschränkung der Berufstätigkeit und der – nicht nur kurzfristigen – Reduktion des Erwerbseinkommens; spätere Rückgängigmachung oder Nachholung von Dispositionen durch den Leistungsempfänger im Falle von Behördenfehlern nicht möglich; Rückzahlungsverpflichtung betrifft nicht bloß Härtefälle, sondern ist in der Regelung selbst angelegtRechtssatz
Die Wortfolge "oder die Auszahlung von Leistungen irrtümlich erfolgte," in §31 Abs2 KinderbetreuungsgeldG (KBGG) idF BGBl I 100/2018 wird aufgehoben; Inkrafttreten der Aufhebung mit Ablauf des 31.10.2023.
Zu den Anträgen des OGH und des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien (ASG), die Wortfolge "oder die Auszahlung von Leistungen irrtümlich erfolgte," in §31 Abs2 KBGG idF BGBl I 53/2016 aufzuheben, ist anzumerken, dass §31 Abs2 KBGG mit der Novelle BGBl I 100/2018 eine - allerdings nicht die angefochtene Wortfolge betreffende - Änderung erfahren hat. Da die antragstellenden Gerichte die angefochtene Wortfolge zitieren, geht mit hinreichender Deutlichkeit hervor, auf welches Gesetz und auf welche bestimmte gesetzliche Stelle Bezug genommen wird, womit dem für Anträge gemäß Art140 B-VG geltenden strengen Formerfordernis des §62 Abs1 erster Satz VfGG Genüge getan ist. Zum Parteiantrag: Das Erstgericht hat jene Norm, deren Verfassungswidrigkeit die Antragstellerin behauptet, angewendet. Die angefochtene Bestimmung ist somit als präjudiziell anzusehen.
Nach der Judikatur des OGH hatte die Rechtslage bis zur Novelle BGBl I 53/2016 zur Folge, dass kein Rückforderungsanspruch nach §31 Abs2 KBGG bestand, wenn dem Krankenversicherungsträger bei der Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes bereits alle für die Gewährung maßgebenden Umstände bekannt waren, er - etwa auf Grund einer unrichtigen Rechtsansicht oder einer unrichtigen Berechnung - trotzdem das Kinderbetreuungsgeld auszahlte und erst nachträglich die Unrichtigkeit der Gewährung bemerkte. Der Widerrufsgrund musste sich nach damaliger Rechtslage erst nachträglich herausgestellt haben, um die Grundlage für eine Rückforderung bilden zu können. Mit der Novelle BGBl I 53/2016 wurde - erkennbar als Reaktion auf die Rsp - in §31 Abs2 KBGG ein zusätzlicher Rückforderungstatbestand eingeführt. Seither besteht eine Verpflichtung zum Ersatz von empfangenen Leistungen auch dann, wenn die Auszahlung der Leistung irrtümlich erfolgte. Den Gesetzesmaterialien ist als Begründung für die neue Regelung in §31 Abs2 KBGG idF BGBl I 53/2016 Folgendes zu entnehmen: "Einige Eltern würden [...] durch Behördenfehler besser gestellt sein als andere Eltern, dies soll nun dezidiert verhindert werden. Wenn deshalb etwa dem Krankenversicherungsträger bei der Gewährung von Leistungen nach diesem Gesetz alle für die Gewährung maßgebenden Umstände bekannt waren, er aber irrtümlich - etwa aufgrund einer unrichtigen Rechtsansicht oder einer unrichtigen Berechnung etc - das Kinderbetreuungsgeld auszahlt, sind die zu Unrecht bezogenen Leistungen von den Eltern zurückzufordern und zu zahlen".
In VfSlg 18705/2009 hat der VfGH festgestellt, dass Rückforderungsvorschriften, die lediglich auf den objektiven Umstand des Nichtvorliegens der Anspruchsvoraussetzungen abstellen, in der österreichischen Rechtsordnung nicht ungewöhnlich und verfassungsrechtliche Bedenken im Allgemeinen dagegen nicht entstanden sind und solche auch nur bei Vorliegen besonderer Umstände gerechtfertigt wären. Solche besonderen Umstände liegen im vorliegenden Fall vor:
Mit dem Kinderbetreuungsgeld verfolgt der Gesetzgeber unter anderem das Ziel, die Betreuungsleistung der Eltern anzuerkennen und teilweise abzugelten. Dies setzt voraus, dass Empfänger von Kinderbetreuungsgeld ihre Berufstätigkeit und damit einhergehend ihr Erwerbseinkommen zugunsten der Kinderbetreuung einschränken. Dies kommt insbesondere durch die in §2 Abs1 Z3 und §24 Abs1 Z3 iVm §8 KBGG normierte "Zuverdienstgrenze" sowie durch die Konzeption des Kinderbetreuungsgeldes als "Ersatz des Erwerbseinkommens" in §§24 ff leg cit zum Ausdruck.
Hinzu kommt, dass die erwähnten Einschränkungen im Erwerbsleben der Empfänger von Kinderbetreuungsgeld nicht nur kurzfristige Einbußen darstellen. Der Gesetzgeber sieht dafür in der Regel einen Zeitraum von 61 bis 365 Tagen vor.
Der Bezug von Kinderbetreuungsgeld gebührt nur auf Antrag. Besteht Anspruch auf eine Leistung nach dem KBGG, ist gemäß §27 Abs1 leg cit eine Mitteilung auszustellen, aus der insbesondere Beginn, voraussichtliches Ende und Höhe des Leistungsanspruches hervorgehen. In Rückforderungsfällen gemäß §31 Abs2 2. Fall KBGG ist für den Leistungswerber bei Erhalt dieser Mitteilung ein Irrtum der Behörde nicht erkennbar. Er geht daher davon aus und darf davon ausgehen, dass ihm das Geld zur Bestreitung der Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Auf dieser Grundlage trifft der Leistungswerber Dispositionen im Hinblick auf die Einschränkung der Erwerbsarbeit, die bei späterer Rückforderung der Leistung auf Grund eines Behördenfehlers nicht mehr rückgängig gemacht oder nachgeholt werden können.
Vor diesem Hintergrund ist für den VfGH keine sachliche Rechtfertigung erkennbar, weshalb bei Bekanntsein aller für die Gewährung von Kinderbetreuungsgeld maßgebenden Umstände bei Gewährung dieser Leistung das Risiko einer unrichtigen Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen und folglich einer irrtümlich ausbezahlten Leistung vom Leistungsempfänger zu tragen sein soll, auch wenn er deren Unrechtmäßigkeit nicht erkennen musste:
Der Gesetzgeber begründet den einschlägigen Rückforderungstatbestand damit, verhindern zu wollen, dass einige Eltern durch Behördenfehler bessergestellt werden als andere Eltern. Diese Besserstellung tritt jedoch schon deshalb nicht ein, weil Eltern, die keinen Antrag stellen oder denen zu Recht kein Kinderbetreuungsgeld gewährt wird (worüber gemäß §27 Abs3 Z1 KBGG mit Bescheid abzusprechen ist), gerade nicht davon ausgehen durften, dass sie eine Leistung erhalten, und folglich auch keine Dispositionen in Erwartung dieser Leistung treffen.
Die Bundesregierung bringt ergänzend vor, der Rückforderungstatbestand sei aus verwaltungsökonomischen Gründen notwendig, weil der Krankenversicherungsträger zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht jede Anspruchsvoraussetzung im Detail prüfen könne. Dies stellt jedoch keine sachliche Rechtfertigung dafür dar, weshalb das Risiko einer irrtümlich gezahlten Leistung trotz fehlender Erkennbarkeit des Behördenfehlers vom Leistungsempfänger zu tragen sein soll, zumal eine Rückforderungsmöglichkeit nach den übrigen Tatbeständen gemäß §31 Abs1 und 2 KBGG, insbesondere, wenn der Leistungsempfänger den unrechtmäßigen Bezug erkennen musste (§31 Abs1 2. Fall KBGG), weiterhin besteht.
Vor dem Hintergrund des dargelegten Verständnisses von §31 KBGG handelt es sich - entgegen der Ansicht der Bundesregierung - bei der Gruppe von Leistungsempfängern, die von der einschlägigen Rückzahlungspflicht betroffen sind, auch nicht um bloße "Härtefälle". Die unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nach stRsp des VfGH hinzunehmenden Härtefälle sind in der Regel Folgen einer (zulässigen) Durchschnittsbetrachtung und haben ihre Ursache darin, dass der Gesetzgeber nicht in der Lage ist, alle Fallgestaltungen und daher auch nicht jene, die dann als Härtefall empfunden werden, vorherzusehen und bei seinen Regelungen im Voraus zu bedenken, mit anderen Worten, dass es sich um nicht vermeidbare "Systemfehler" handelt. Im vorliegenden Fall sind die beschriebenen Auswirkungen jedoch nicht nur zufällige Folge einer an sich sachlichen Regelung im Härtefall, sondern in der Regelung des §31 Abs2 2. Fall KBGG gerade angelegt. Eine solche Regelung ist daher unter den vorliegenden Verhältnissen unsachlich.
Daran mag auch der Verweis der Bundesregierung auf die Zahlungserleichterungen bzw den teilweisen oder ganzen Verzicht auf die rechtskräftige Rückforderung gemäß §31 Abs4 KBGG nichts zu ändern: Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung ist zwingende Voraussetzung jedenfalls die Berücksichtigung der Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Empfängers. Sohin wäre selbst bei Berücksichtigung des Ausmaßes des Verschuldens des Leistungsempfängers an der Entstehung der Forderung gemäß §74 Abs1 Z1 BHG nicht in jedem Fall gewährleistet, dass im Falle eines Behördenfehlers von der (rechtskräftigen) Rückforderung Abstand genommen werden kann.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Kinderbetreuungsgeld, Kinder, Rechtspolitik, VfGH / Gerichtsantrag, VfGH / Parteiantrag, Auslegung historische, VertrauensschutzEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2022:G181.2022Zuletzt aktualisiert am
21.10.2022